Samsta g, 28. März 2020 FORSCHUNG UND TECHNIK
renden Massnahmen inFergusons Stu-
die übersehr viel längere Zeiträume
hinweg aufrechterhalten werden müs-
sen, als das bisherkommuniziert wurde:
DieWissenschafterrechnen mit erheb-
lichen Einschränkungen des öffent-
lichen Lebens nicht überWochen, son-
dernüber Monatehinweg. Drei bis fünf
Monate braucht es im Modell, um allein
die ersteWelle der Epidemie einzu-
dämmen.Damit ist das Ende des Schre-
ckens aber noch lange nicht erreicht:
Laut Modellrechnungkommt es, rund
zwei Monate nachdem die Massnah-
men gelockert worden sind, jeweils zu
einem erneuten, heftigen Anstieg der
Infektionen – der abermals die Ge-
sundheitssysteme zu überlasten droht.
Dann müssten aufs Neuekontaktredu-
zierende Massnahmen ergriffen wer-
den, und zwar so lange, bis ein Impfstoff
gegen das neue Coronavirus verfügbar
ist.Das dürfte allerdings noch 12 bis 18
Monate dauern.
Das stimmt nicht gerade hoffnungs-
froh, zumal dieAutoren umFerguson die
bekannten Nebenwirkungen der Mass-
nahmen zur Eindämmung desVirus –
insbesondere den damit einhergehenden
volkswirtschaftlichen Schaden, negative
Einflüsse auf die psychische Gesundheit
der Bevölkerung und dieFolgen desAuf-
schiebens geplanter medizinischer Ein-
griffe – in der vorliegenden Studie aus-
ser acht gelassen haben.
Man muss sich allerdings klarmachen,
dass die fragliche Studie auf eine ganz
andereFrage fokussiert.Ferguson und
seinen Mitarbeitern ging es nicht darum
herauszufinden, wie lange die schützen-
den Massnahmen in Kraft bleiben müs-
sen. ImFokus stand vielmehr dieFrage,
welche Strategie bei der Bekämpfung
des Coronavirus die bessere ist.
DieWissenschafter unterscheiden
hier zwei Szenarien: einmal das Ziel
einer Suppression, bei der dieAusbrei-
tung desVirus vollständig gestoppt wird.
Das heisst, die Infektionsketten brechen
ab, so dass es bei Lockerung der Mass-
nahmen nur noch sehr vereinzelt Infi-
zierte gibt.Daneben untersuchen sie ein
Sz enario, bei dem derVerlauf der Epi-
demie lediglich verzögert werden soll.
Diese Strategie heisst Mitigation, ist
aber mittlerweile unter demAusdruck
«flatten the curve» in aller Munde. Es
liegt auf der Hand, dass für die Suppres-
sion härtere Massnahmen ergriffen und
über einen längeren Zeitraum hinweg
durchgesetzt werden müssen, als wenn
das Ziel lediglich die Mitigation bezie-
hungsweise dieverzögerteAusbreitung
desVirus ist.
Genau dies bestätigen die Ergebnisse
der Simulation: Die vollständige Unter-
drückung erforderte den Einsatz sämt-
licher zurVerfügung stehender Massnah-
men. Liessen dieForscher eine oder meh-
rereder untersuchten Massnahmen aus-
ser acht, wurde derVerlauf der Epidemie
jeweils leicht verzögert.Tr otzdem kamen
zum Höhepunkt der Epidemie so viele
Krankheitsfälle zusammen, dass laut
Modellrechnung die Überlastung der
Gesundheitssysteme programmiert war.
In der Simulation waren diese Mass-
nahmen über fünf Monate hinweg in
Kraft. Diese Zeitspanne wird in der Stu-
die aber nicht weiter untersucht oder
variiert.Wer meint, diese Zahl sei das
zentrale Ergebnis vonFergusons Studie,
irrt.DiewichtigsteAussage derForscher
umFerguson ist vielmehr diese: Es ge-
nügt nicht, dieAusbreitung der Epide-
mie zu verlangsamen. Die bessere Stra-
tegie istes, frühzeitig mit harten Mass-
nahmen die Infektionsketten zu unter-
brechen – und dann die Zeit bis zum
Wiederaufflammen der Epidemie (in
der Studie trat dies jeweils rund zwei
Monate nach Lockerung der Massnah-
men ein) zu nutzen, um für die nächste
Infektionswelle besser gerüstet zu sein.
Oberstes Ziel: Zeit gewinnen
In diesem Sinne geht es denForschern
umFerguson nicht darum, uns die bren-
nendeFrage zu beantworten, wie lange
wir Home-Office, geschlossene Schu-
len, denVerzicht aufKultur undAus-
gang ertragen müssen. Sondern viel-
mehr darum, die beste Strategie aufzu-
zeigen, mit der wir Zeit gewinnen.
Zeit, um gewöhnliche Bettenstatio-
nen zu Intensivstationen mit Beatmungs-
geräten aufzurüsten. Gesichtsmasken
und Schutzanzüge für medizinischesPer-
sonal herzustellen. Möglicherweise ein
zusätzliches Notfallspital zu errichten.
Zeit, in der auch dieForschung am
Sars-CoV-2-Virusrapide voranschrei-
ten wird.Wir können fest damitrech-
nen, dass in wenigen Monaten bessere
Tests in grosser Zahl zurVerfügung ste-
hen werden. Dass bis dahin die Medi-
kamente, die derzeit in einem weitge-
hend experimentellen Modus an Er-
krankten erprobt werden, besser eva-
luiert sind.Dass Ärzte und Pfleger den
Verlauf von Covid- 19 besser verstehen
und Erkrankte entsprechend behandeln
können. Möglicherweise gibt es bis da-
hin sogar einen Antikörpertest, mit dem
sich feststellen liesse, wer die Anste-
ckung symptomfrei überstanden hatund
immun ist. All das wird helfen, die Epi-
demie und ihreFolgen zu überstehen.
Widerspruch aus Cambridge
Fergusons Studie ist einWeckruf. Gut,
dass sie in den USA und in Grossbritan-
nien Gehör gefunden hat. Dochgehtbei
der grossenAufmerksamkeit, welcheder
Studie und ihrenAutoren seit Erschei-
nen zuteilgeworden ist, gern einmal ver-
gessen, mit welchen Unsicherheiten die
Ergebnisse behaftet sind.Mangelspräzi-
serer Informationen mussten dieAuto-
ren vieleWerte, die in dieModellierung
eingehen,schätzen. Die darauf aufbau-
ende Simulation mag nochso detailliert
sein – ihre Ergebnisse sind jeweils nur so
solide wie die Annahmen, mit denen das
Modell eingangs gefüttert wurde. Des-
halb haben Epidemiologen immer wie-
der darauf hingewiesen, dass diekon-
kreten Ergebnisse stark von den vie-
len verwendetenParametern abhängen
und ganz anders herauskommenkön-
nen, wenn die Annahmen sich als unzu-
treffend erweisen. Insofern sind zusam-
menhangslos der Studie entnommene
Zahlen von einigen hunderttausend bis
zu mehreren MillionenToten mitVor-
sicht zu geniessen.
Recht pessimistische Annahmen ma-
chen dieWissenschafter auch in Bezug
auf die Compliance der Bevölkerung,
also dieFrage, inwieweit diese sich an
die behördlich angeordnetenRegeln
hält: Dies taten in der Modellrechnung
je nach Massnahme nur 50 bis 75 Pro-
zent der Bevölkerung.
Ferguson und seine Co-Autoren
sind für ihre Studie hart kritisiert wor-
den,etwa durchChen Shen, Nassim
NicholasTalebund YaneerBar-Yam
vom New England ComplexSystems
Institute. Ineiner Antwort auf die Stu-
die schreiben sie, Ferguson und seine
Co-Autoren liessen eine der wich-
tigsten und wirksamstenWaffen, die
in der gegenwärtigenPandemie zur
Verfügung stünden, unberücksichtigt:
das rigorose Contact-Tracing (also die
Rückverfolgung vonKontakten). Die-
ses zielt daraufab, möglicherweise in-
fiziertePersonen noch vor demAuftre-
ten vonSymptomen zu isolieren.Weil
FergusonsTeam diese Möglichkeit, die
Epidemie in Schach zu halten, ausser
acht lässt, halten Shen,Taleb undBar-
Yam auch dessen Schlussfolgerungen
für fundamental falsch – insbesondere,
was dasAuftreten neuer Infektions-
wellen nach dem Lockern derMass-
nahmen angeht.
AndersalsFerguson postuliere, könne
man davon ausgehen, dasskonsequentes
Contact-Tr acing und rigoroses Abstand-
halten innert wenigerWochen die Infek-
tionsketten unterbrächen, schreiben die
Forscher. Dadurch käme derAusbruch
vollständig zum Erliegen. NeueFälle
könnten dann allenfalls durch infizierte
Reisende insLand getragen werden –
demkönne man allerdings durchKon-
trollen und Quarantäne für Einreisende
effizient entgegenwirken.
Diese Einschätzung teilen Frank
Schlosser und Dirk Brockmann von der
Humboldt-Universität zu Berlin: «Es ist
plausibel, dass dasVirus wieder auftritt,
wenn Massnahmen gelockert werden–
es ganz auszurotten, ist ohne Impfstoff
schwer möglich.» Allerdings sei daskein
Grund, den Kampf gegen dieAusbrei-
tung desVirusaufzugeben. DieWissen-
schafter verweisen auf die Erfahrungen
aus China:Wuhan habe gezeigt, «dass
die Massnahmen wirkenkönnen und
auch nicht unendlich weitergehen müs-
sen». Derzeit gebe es inWuhan nur noch
vereinzelteFälle, die hauptsächlich aus
Europa importiert würden. Hier griffen
dieKontaktverfolgung und das Unter-
binden von Infektionsketten.Das ma-
che Hoffnung.Auch seien nicht zwin-
gend so drastische Massnahmen wie
inWuhan notwendig, so Schlosser und
Brockmann: «Südkorea zeigt vorbild-
lich, wiekonsequentesTesten undKon-
taktverfolgung dieAusbreitung unter-
bindenkönnen.»
Gerade im Hinblick auf die Erfah-
rungen ausWuhan und Südkorea ist in-
des ein wenig Skepsis angebracht. Di-
verseWissenschafter ausserhalb Chi-
nas zweifeln derzeit täglich mehr an
den gegenwärtig aus China gemeldeten
Zahlen. Insofern ist fraglich, ob die rigi-
den Social-Distancing-Massnahmen in
Wuhan tatsächlich schon wiederaufge-
hoben werdenkönnten. Und Südkorea
ist insofern ein Spezialfall, als dort die
Hälfte derFälle auf eine Sekte entfällt,
mehrere hundert weitereaufeine an-
dere religiöse Gemeinschaft. Die sin-
kendenFallzahlen müssen also nicht
bedeuten, dass dieAusbreitung tatsäch-
lich verlangsamt wurde– eskönnte
auch sein,dass die Südkoreaner ein-
fach Glück hatten, weil es gelang, zwei
grosse Gruppen infizierterPersonen
schnell zu isolieren. Schlimmstenfalls
steht die Infektionswelle in Südkorea
erst an ihrem Anfang.
Eine Faustregelfür die Krise
Thomas Götz von der Universität
Koblenz-Landau undWolfgang Bock
von der TU Kaiserslautern halten es
ebenfalls für fast unausweichlich, dass
es zu neuenAusbrüchenkommt, sobald
die Massnahmen des Social Distancing
gelockert werden.Wie auch immer die
Details eines Massnahmenpakets zur
Eindämmung aussehen – laut Götz und
Bock gilt in Zeiten derPandemie eine
einfacheFaustregel:Jestärker die Mass-
nahmen, desto schnellerkommt man
durch die Krise.
Mit Material des Science Media Center
Deutschland und hilfreichen Kommen taren
vonStephanieLahrtz,KatrinBüchenbacherso-
wie Alexandra Kohler.
Mangelspräziser
Informationen mussten
die Autoren der Studie
viele Werte,die indie
Modellierung eingehen,
schätzen.
Kritikermonieren,dass
die Studie das Contact-
Tracingunberücksichtigt
lasse – eineder
wirksamsten Waffen,
die inder jetzigen
Pandemiezur
Verfügungstünden.
Nach 30Tagen sind durch
1Person 15 Menschen erkrankt.
Nach 30Tagen sind durch
1Person über 400 Menschen erkrankt.
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Tag
Kontaktreduzierende Massnahmen zielen darauf ab, die Ansteckungsrate des Virus erheblich
zu senken. In unserem Beispiel ist sie mit Social Distancing noch halb so gross wie ohne
Massnahmen. Das heisst, eine infizierte Person steckt nun im Schnitt noch 1,25 weitere
Personen an. Nach Ablauf eines Monats sind nur 15 Personen erkrankt.
Das zeigt:Wenn wir unsere Kontakte einschränken, Distanz wahren und die Massnahmen des
Bundes befolgen, kann es gelingen, die Ansteckungsrate zu senken und eine Überlastung
unserer Spitäler abzuwenden.
Durch Social Distancing hält
sich die am Coronavirus
erkrankte Person von anderen
Menschen fern.
Mit Social Distancing
Die Symptome treten in den
meisten Fällen erst nach5Tagen
auf. Manche Infizierte haben
gar keine Symptome. In diesen
5Tagen konnten also2bis 3
weitere Personen angesteckt werden.
Mit Social Distancing werden
nur halb so viele Personen
angesteckt.
Also1bis 2Personen.
Diese Person hat niemanden
angesteckt. Damit ist diese Kette
unterbrochen.
Total: 4
Total: 7
Total: 9
Total: 12
Total: 15
Total: 2
Nach5Tagen sind insgesamt
2Personen infiziert.
Nach 10Tagen sind insgesamt
4Personen infiziert.
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