FORSCHUNG UND TECHNIK Samstag, 28. März 2020
HAUPTSACHE, GESUND
Corona
regiert
Von Bruno Kesseli
«Matto regiert». Warum mir in diesen
Tagen derTitel des bekanntenRomans
vonFriedrich Glauser imKopf herum-
schwirrt, vermag ich nicht zu sagen. Es
hat mit der allgegenwärtigen Corona-
Pandemie zu tun, so viel steht fest. Aber
dass wir in dieser Krise vonVerrückten
regiert werden, finde ichkeineswegs. Im
Gegenteil halte ichdie vonden Schwei-
zer Behörden beschlossenen Massnah-
men für sehr sinnvoll. Insbesondere der
Bundesrat und dasBAG,mit denen ich
als Arzt das Heu nicht immer auf der
gleichen Bühne habe, bewiesenFüh-
rungsqualitäten und haben in einer
weisen Gesamtbeurteilung die Mass-
nahmenschraube in einer für dasLand
verträglichenWeise langsam angezogen.
Auch inkommunikativer Hinsicht be-
kommensievon mir gute Noten.
Warum also die Assoziation mit
«Matto»? Nun, wenn ich meinen haus-
ärztlichenAlltag anschaue, ist die Situa-
tion schon ziemlich ver-rückt. Die Men-
schen, die ich in der Sprechstunde sehe
und untersuche, präsentieren sich wie
immer zu dieserJahreszeit. Und doch
ist alles anders. Corona ist im Bewusst-
sein allgegenwärtig.
Es gibt kaum eineKonsultation, und
sei sie wegen eines verstauchten Knö-
chels, in der dasVirus nichtThema ist.
Am Morgen hält das Ärzteteam Stra-
tegiebesprechungen ab. InRund-Mails
von Ärztegesellschaften werden Kata-
strophenszenarien diskutiert. Fach-
gesellschaften verschicken Empfehlun-
gen zum Management besonders vulne-
rablerPatientengruppen.Telefonische
Beratungen verunsicherterPatienten, in
«normalen» ZeiteneinRandphänomen,
haben Hochkonjunktur:Wie gefährdet
bin ich mit meinen Medikamenten? In
meinem Büro husten viele Leute, aber
der Chef lässtsie weiterarbeiten – darf
er das?Per Mail werden Zeugnisse, vor-
sorgliche Krankschreibungen,Unbe-
denklichkeitserklärungen eingefordert.
Besonders Dreiste – oder Besorgte–
melden sich perWhatsapp. Wie sie an
die private Handynummer ihres Arztes
gekommen sind, bleibt ihr Geheimnis.
Qualitativ gute Informationen zum
Coronavirus aus verlässlichen Quellen
sind breit verfügbar. Dennoch ist es of-
fenbar vielen Menschen einBedürfnis,
bei ihrer Hausärztin oder ihrem Haus-
arzt nachzufragen, wie sich dieLage in
ihrem individuellenFall präsentiert. Im
besonders vulnerablenKollektiv der
hochbetagten polymorbiden Patien-
ten schien mir zu Beginn ein beträcht-
licherAufklärungsbedarf zu bestehen–
das Gefahrenpotenzial desVirus wurde
häufig unterschätzt. Diesbezüglich be-
obachte ich in den letztenTagen einen
deutlichen Bewusstseinswandel.
Gerade bei der genanntenPatien-
tengruppe halte ich eine kontinuier-
liche hausärztliche Betreuung auch in
Corona-Zeiten fürvordringlich. Gut
versorgtePatientinnen undPatienten
sind stabiler, landen seltener auf Not-
fallstationen und in Spitalbetten.Vor
diesem Hintergrund legen wir in unse-
rer Praxis den Begriff der«dringend
indizierten» Untersuchungen eher
grosszügig aus, selbstverständlich unter
Einhaltung besonderer Raum- und
Hygienemassnahmen.
Bleibt zu hoffen, dass die gemein-
samen Anstrengungen auf allen Ebe-
nen ausreichen werden, um die erwar-
tete Welle von schweren Erkrankungen
auf einem für die Spitäler bewältigbaren
Niveau zu halten. Ich wage es, verhalten
optimistisch zu sein.
HerrBattegay, in der Schweiz befinden
wir uns jetzt in der heissen Phase. Wie
angespannt ist die Lage am Universitäts-
spitalBasel?
Es ist sehr belastend. InBasel haben wir
aber noch nicht diePatientenzahlen wie
anderswo.Wir betreuen derzeit knapp
vierzigPatienten mit Covid-19.
Wie ist der Zustand derPatienten?
Die meisten sind stabil. Das kann sich
aber, wie wir wissen, innert Stunden
ändern. Bei siebenPatienten ist eine
Behandlung auf der Intensivstation nö-
tig. Und einzelnePatienten sind schon
verstorben.
Sehen Sie auch jungePatienten mit
schwerem Krankheitsverlauf?
Wir habenPatienten, die unter 50 sind.
Ganz schwereFälle bei unter 30-Jähri-
gen haben wir inBasel aber nochkeine
gesehen.
Acht vonzehn Infizierten entwickeln
nur mildeSymptome. Bei zwei führt die
Erkrankung aber zu einer Lungenent-
zündung. Müssen diese hospitalisiert
werden?
Aus unserer Sicht: ja. Denn sie haben
bereits eineKomplikation der Infektion
erlitten. Das klinische Bild kann sich bei
ihnen über die nächstenTage bessern,
stabilisieren oder verschlechtern. Im
letztenFall sollte derPatientrasch auf
die Intensivstation verlegt und künstlich
beatmet werden.Das ist die in dieser Si-
tuation entscheidendeTherapie.
Wie bei vielenViruserkrankungen gibt
es auch gegen Sars-CoV-2 noch kein
zugelassenes Medikament. Eswerden
aber sogenannte experimentelle Sub-
stanzen eingesetzt, Arzneimittel, die für
andere Krankheiten zugelassen sind.
In den Medien gibt es immer wieder
euphorische Meldungen – wie eupho-
risch sind Sie?
Ich bin sicher nicht euphorisch. Aber
auch ich bin manchmal beeindruckt, wie
gutein Patient auf eine Substanz oder
eineKombination von Arzneimitteln
anspricht. Gleichzeitig bin ich mir aber
bewusst, dass wir ohne klinische Studien
nicht wissenkönnen, ob die Besserung
auf den Spontanverlauf zurückzuführen
ist oder auf die verabreichten Medika-
mente.
Eine solche experimentelle Arznei ist
das Aids-Medikament Kaletra.
Wie die Chinesen und Italiener setzen
auch wir diesesKombinationspräparat
ein. Ob es allerdings beiPatienten mit
Covid- 19 eineWirkung hat, wissen wir
noch nicht.
Zu diesem Medikament ist gerade eine
Studie mit 199Patienten erschienen. Sie
zeigt, dass sich damitweder der Krank-
heitsverlauf noch das Sterberisiko be-
einflussen lässt. Hat dieses Ergebnis
Konsequenzen an Ihrer Klinik?
Wir nehmen diese neue Evidenz sehr
ernst. Die Studie zeigt aber auch, dass
es beiPatienten, die dasMittel innerhalb
der ersten zwölfTage nach Beginn der
Symptome bekamen,immerhin einen
leichtenTr end zu einem besserenVer-
lauf gab. Dazu ist anzumerken, dass ein
Therapiebeginn nach zehn oder elfTa -
gen bei einerakuten Erkrankung schon
sehr spät ist.
Sie behandeln IhrePatienten früher?
Wir versuchen es, stecken aber in einem
Dilemma. Denn wir möchten das Medi-
kament nichtPatienten geben, die es
nicht nötig haben. Zum andern möchten
wir es auch nicht zu spät verabreichen.
Wie lösen Sie das Dilemma?
Wir gebendasMittelpraktisch bei Spi-
taleintritt. Denn wer hospitalisiert wird,
hat eine Lungenentzündung und/oder
einen Abfall der Sauerstoffsättigung im
Blut. Zudem geben wir das Medikament
inKombination mit einer weiteren Sub-
stanz: Hydroxychloroquin.
Auch dieses alte Malariamittel gilt vielen
als Hoffnungsträger. PräsidentTrump
hat es sogar einen «gamechanger» ge-
nannt. ZuRecht?
Für dieseAussage fehlt jegliche Evi-
denz! Aber natürlich hoffen wir, dass es
nützt.Wir wissen aber nicht einmal, auf
welcheWeise es seineWirkung entfal-
ten soll:Verringert es dieAufnahme der
Viren in die Zellen, oder beeinträchtigt
es die Produktion derViren in den Zel-
len?Wir sollten daher mit unseren Aus-
sagen gegenüber denPatienten und der
Öffentlichkeitsehr vorsichtig sein.Aus
der Anfangszeit von Aids wissen wir,
dass zerschlagene Hoffnung sehrrasch
dasVertrauen in unserTun und in die
Wissenschaft beschädigen kann.
Ein weiterer Hoffnungsträger istRem-
desivir. Das Medikament ist gegen
Ebola entwickelt worden, hat sich dort
aber als nutzlos erwiesen.Wirdes in
Basel eingesetzt?
Wir haben es verwendet, doch derzeit
bekommen wir das Medikament nicht
mehr. Denn der Hersteller Gilead hat in
Europa sein «Compassionate use»-Pro-
gramm gestoppt (Einsatz von nicht zu-
gelassenen Medikamenten bei schwer
erkranktenPatienten, die anders nicht
behandelt werden können, Anm. d.
Red.), um es weltweit in klinischen Stu-
dien zurVerfügung zu stellen.
Ist das ein grosserVerlust?
Von den In-vitro-Daten her istRemde-
sivir das vielversprechendste Mittel. Lei-
der kann es nur intravenös verabreicht
werden.Daher wird es meistsehr spät
gegeben, wennderPatient schon mecha-
nisch beatmet wird.In dieser Situation
ist die ganze Entzündungskaskade aber
schon losgetreten.Wie viel ein antivira-
les Medikament dann noch bewirken
kann, muss sich noch zeigen.Das ist
ähnlich wie beim GrippemittelTamiflu.
Auch dieses wirkt nur gut, wenn man es
innert weniger Stunden nach den ersten
Symptomen gibt. Insofern erhoffe ich
mir vonRemdesivir schon, dass es die
Sterblichkeit senken wird.
Neben den antiviralen Mitteln gibt es
auch Substanzen wie das Rheumamittel
Actemra.Damit versucht man, bei den
Patienten die Immunreaktion zu dros-
seln. Ist das eine gute Idee?
Wir verwenden diese Substanz auch.
Die Idee dahinter ist folgende: Bei
einerViruserkrankung schädigen die
Viren die infizierten Zellen direkt.
Wenn aber die Immunabwehr ge-
nügendfrüheinschiesst, kann dasVirus
mit Antikörpern und Immunzellen eli-
miniert werden.Das ist offenbar bei 80
Prozentder infiziertenPatienten der
Fall.Wenn das Immunsystem nicht ge-
nügend früh einschiesst,kommt es zu
einem Mix ausVirusschädigung und
Schädigung durch die losgetretene Ent-
zündung. Letztereskönnten Entzün-
dungshemmer wieActemra möglicher-
weise günstig beeinflussen.
Auch bei der Sepsis (schwere Blutver-
giftung) schiesst das Immunsystem
über das Ziel hinaus. Bei dieser Krank-
heit haben alle bisherigen Versuche
«Wir müssen
jetzt versuchen,
Leben zu retten»
In der Schweiz werden schwerkranke
Covid-19-Patienten auch mit experimentellen
Substanzen behandelt.
Was es dabei zu beachten gilt, erklärt
der Basler InfektiologeManuel Battegay
im Gespräch mit Alan Niederer.
Wer nach einer Infektion mitSars-CoV-2 aneiner Lungenentzündung erkrankt, braucht Spitalpflege. Ansichtaus der Intensivstation desTriemlispitals in Zürich. SIMONTANNER / NZZ
«Wir sollten
mit unseren Aussagen
bezüglich der Wirkun g
von Medikamenten
gegenüber
den Patienten
und der Öffentli chkeit
sehr vorsichtig sein.»
46 47