Frankfurter Allgemeine Zeitung - 20.03.2020

(Nandana) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG,20. MÄRZ2020·NR.68·SEITE 5


Die Polizeibeamten rückten am Donners-
tagmorgeninzehn Bundesländernaus,
um erstmals einVerboteiner „Reichsbür-
ger“-Gruppierung durchzusetzen. 400
Einsatzkräftedurchsuchten 21Wohnun-
genvon Mitgliederndes Vereins „Geeinte
deutscheVölker undStämme“ und seiner
Teilorganisation „OsnabrückerLand-
mark“. Die Beamtenbeschlagnahmten
Schusswaffen, Baseballschläger,Rausch-
giftund Propagandamaterial; Festnah-
mengabesnicht .Nachder konzertierten
Aktion sagteBundesinnenministerHorst
Seehofer (CSU), bei der Gruppe handle
es sichumeine Vereinigung,die rassisti-
sche undantisemitischeSchriften verbrei-
te und damit die freiheitliche Gesell-
schaftsystematischvergifte.„Auch die
verbale Militanz und massiveDrohungen
gegenüber Amtsträgernund ihrenFamili-
en belegen dieverfassungsfeindliche Hal-
tung dieserVereinigung.Wirsetzen den
Kampfgegen den Rechtsextremismus
auchinKrisenzeiten unerbittlichfort“,
sagteSeehofer.„FürRassismus und Anti-
semitismus haben wir in unserer Gesell-
schaftkeinen MillimeterPlatz.“


SelbsternannteReichsbürgeroder
„Selbstverwalter“weiger nsich, die bun-
desdeutscheRechtsordnung anzuerken-
nen, viele dieserLeuteargumentieren,
das alteDeutscheReichgeltefortoder
auchDeutschland in den Grenzenvon
1937.Ausverei nzelter politischer Spinne-
reiist im Lauf der Jahredabei eine alsver-
fassungsfeindlichund gefährlic heinge-
schätzteBewegunggeworden.Nach Anga-
ben des Bundesamts für Verfassungs-
schutz gibt es in Deutschland derzeit
rund 19 000 Reichsbürger, vondenen
rund 1000 alsrechtsextrem undgewaltbe-
reit eingestuftwerden–sowie der am
Donnerstag verbotene Verein.
Nach Angaben des Innenministeriums
bringen Publikationen der Gruppe „durch
Rassismus, Antisemitismus und Ge-
schichtsrevisionismus ihreIntoleranzge-
genüber der Demokratie zumAusdruck
undverstoßen damitgege ndie freiheitli-
chedemokratische Grundordnung“.Tat-
sächlichleugnete der Verein –wie viele an-
dere„Reichsbürger“-Gruppen–aktiv die
Legitimität der Bundesrepublik Deutsch-
land undstrebte ein eigenesRechtssy stem

an. Dabei wirddie Bundesrepublik als
„niedrigste Staatsform“und „Handelskon-
strukt“ diskreditiert. Die Vereinsmitglieder
schreckten nachErkenntnissen der Ermitt-
ler auchnicht davorzurück, Straftatenzu
begehen. Aktionsschwerpunkt derrechts-
extremen Kleingruppe warzuletzt Berlin,
wo „GeeintedeutscheVölker undStäm-
me“versucht haben soll, dasRathaus in
Berlin-Zehlendorfzu„übernehmen“.
In derVereinigungwarunter anderem
HeikeMaria W. aktiv,die sichals „leben-
digeHeike,Weib aus derFamilieW.“, aus
dem Landkreis Osnabrückbezeichnet, als
„Generalbevollmächtigteder geeinten
deutschenVölker undStämme“ auftrat
und sichauf angebliche „germanische
Erstbesiedelungsrechte“ beruft. Wohnun-
gender extremistischen Gruppierungwa-
renbereits im September 2019 in mehre-
renBundesländerndurchsuchtworden.
Hintergrund seinerzeitwarein der Grup-
pe zugerechnetesDrohschreiben, in dem
der Justizministerdes Landes Branden-
burgaufgefordertwurde, den inhaftierten
Rechtsextremistenund Holocaustleugner
Horst Mahler aus der Haftzuentlassen.

Der Berliner Innensenator Andreas
Geisel (SPD) begrüßteSeehofersSchritt:
„Das heutigeVerbotist ein weiteres kla-
resSignal an dieVerfassungsfeinde in un-
sere rStadt undunserem Land.“ In Düssel-
dorflobteauchder nordrhein-westfäli-
sche InnenministerHerbertReul (CDU)
das Durchgreifen Seehofers. „Gerade
jetzt, in der Corona-Krise, müssen wirge-
genLeutevorgehen, die solcheVerschwö-
rungstheorienverbreiten und denStaat
unterhöhlenwollen.“ Die Gruppe habe
zudem DrohschreibengegenAmtsträger
geschrieben, Pseudo-Haftbefehle erstellt
und Strafzahlungen eingefordert.
LautReul besteht der „harte Kern“der
nun verbotenen „Reichsbürgervereini-
gung“aus 21 Mitgliedern,dreivon ihnen
stammen aus NRW. Hinzukomme einUm-
feld von100 inganz Deutschland,wovon
wiederum 15 inNordrhein-Westfalen le-
ben. Insgesamt gibt es inNordrhein-Westfa-
len nachErkenntnissen desVerfassungs-
schutzes 3200„Reichsbürger“, 100rech nen
die Behörden derrechtsextremen Szenezu.
Wiefließend derÜbergang derReichs-
bürgerszene zurrechtsextremen und mit-

untergarzur rechtsterroristischen Szene
ist, wurdevorkurzem deutlich. MitteFe-
bruar ließ der Generalbundesanwalt
(GBA) die mutmaßlicheTerrorzelle um
Werner S. zerschlagen. Siestand nachEr-
kenntnissen der Ermittlerkurz davor, An-
schlägeauf Politiker,Asylbewerber und
Muslime zuverüben.Absicht der insge-
samt 13ZellenmitgliederwaresnachEr-
kenntnissen des GBA, „dieStaats- und
Gesellschaftsordnung“ in Deutschland zu
„erschütternund letztlichzuüberwin-
den“. AnfangFebruar hattesichder harte
Kern der „Gruppe S.“ in Mindengetrof-
fen, um dort–sowie inkurz danachabge-
hörtenTelefonaten–über Endzeit- und
Bürgerkriegsszenarien, aber auchüber
konkrete Attentatezusprechen.
Bei der Großrazziagegendie Mitglie-
der undUnterstützer derZelle fanden die
Spezialkräfte der Polizei dann Schusswaf-
fen, Handgranaten, Messer,Wurfsterne,
ein selbstgebautes Gewehr und Chemika-
lien zur HerstellungvonSprengvorrich-
tungen. Die Tatverdächtigen stammen
aus demgesamtenrechtsextremen Milieu
–sowohl aus derrechten Rocker -als auch

aus derrechts extremen Germanenkult-,
der Prepperszene oder aus „freienKame-
radschaften“. MehrereMänner waren
den Behördenabereben auchals „Reichs-
bürger“ bekannt.
Ein Beispiel istUlf R., ein Baumarktlage-
rist aus PortaWestfalica,gegenden zuvor
zwarkeine strafrechtlichen Erkenntnisse
vorlagen, der im Schriftverkehr mit Behör-
den jedoch regelmäßigmit „der‚Reichsbür-
ger-/Selbstverwalterszene‘ zuzurechnen-
den Äußerungen aufgefallen ist“, wie es in
einem aktuellen Bericht des nordrhein-
westfälischen Innenministeriums für den
Landtag heißt. ThomasN.,ein selbständi-
gerFliesenleger aus Minden,warden Be-
hörden dagegen schonwegengefährlicher
Körperverletzung und Landfriedensbruch
aufgefallen. Thorsten W.,ein Polizeiver-
waltungsangestellter aus Hamm und mut-
maßlicher Unt erstützer derTerrorzelle,
hatte schon im Oktober2019 einen unmiss-
verständ lichenPost geteilt:„Wirmüssen
vonZeit zuZeit Terroranschlägeverüben,
bei denen unbeteiligteMenschensterben.
Dadurch lässt sichder gesamteStaatund
die gesamte Bevölkerung lenken.“

S


chon der ersteCorona-Fall in
Hamburgwar ein Urlaubsrück-
kehrer ausNorditalien.Vorallem
in den ersten Tagender Pandemie
warensolche Geschichten nichtsUnge-
wöhnliches in Deutschland, Hamburg
trif ft das nun aber besonders. Inkeinem
deutschen Bundesland gibt es imVerhält-
nis zu den Einwohnernmehr Corona-Infi-
zierte.Das hat offenbar einen simplen
Grund: Als einziges deutsches Bundes-
land hat HamburgWinterferien im März,
und die nutzen Hamburgergern, um Ski
zu fahren oder Sonne zutanken.Auchin
denRegionen,die inzwischen zu den Risi-
kogebietenzählen. Jetzt, da die Schulen

zwarweiterhin zu, dieFamilien aber zu-
rückinder Stadt sind, wirdgebannt abge-
wartet,was das für dieZahl der Corona-
Fälle in der Hansestadt bedeutet.Nichts
Gutes, istzubefürchten.
Auf100 000 Einwohner umgerechnet,
hat lautRobert-Koch-Institutschon jetzt
kein Bundesland mehr Covid-19-Fälle als
Hamburg: Es sind 23,5. In den anderen
Stadtstaaten sind es deutlich weniger,15,
in Berlin und 11,7 in Bremen.Auchinden
Bundesländernwie etwa Bayern und Ba-
den-Württemberg, die nah an Risikogebie-
tenliegen, gibt es zwar deutlichmehr Infi-
zierte in absolutenZahlen–auf 100 000
Einwohnergerechnetmit 12,9Fällen in
Bayern und 19,5 in Baden-Württemberg
aberweniger Betroffene.
Auch die HamburgerGesundheitsbe-
hördeverweistzur Erklärung für diese
Zahlen auf die „Skiferien“vom2.bis zum


  1. März. Derdeutliche Anstiegvonbestä-
    tigtenFällen in Hamburg in denvergange-
    nenTagensei daher erwartet worden.
    „Ursache istdie Rückkehr vonUrlaubsrei-
    sen den aus den Risiko-Skigebietenin
    Norditalien, Österreichund der Schweiz“,
    heißt es aus der Behörde. „Den Großteil
    der gestiegenen Fallzahlenkönnen wir
    auf Rückreisen aus Risikogebietenzurück-
    verfolgen oder aufKontakt zuPersonen,
    die infiziertsind.“Zudem habe sicheine
    VielzahlvonRückkehrernmit Sympto-


mentesten lassen, also sei zuletzt auch
deutlichmehr getestet worden.
Früh erkanntedie Behörde in Ham-
burgdie Muster: So wies der Senat schon
vergangeneWocheauf ein Clustervon In-
fizierteninder Stadt hin, die zuvor aus
demSkigebietinIschg lzurückgekehrt wa-
ren, das zu demZeitpunkt noch nicht als
Risikogebietgalt.Hamburghatteden
Bundgebeten, das zu überprüfen. Am
Donnerstag meldete die Gesundheitsbe-
hörde in Hamburg506 Corona-Fälle, 92
mehr als noch am Mittwoch. DieStadt
hat gut 1,8 Millionen Einwohner.Die Ge-
sundheitsbehörderechnet„auchinden
kommendenTagenmit einemweiteren
deutlichen Anstieg“ der Corona-Fälle.
Längsthat dieStadt reagiert, und im
Kampfgegen das Viruseinen strikten
Kurs eingeschlagen. Hamburgwar früh
dran mit hartenEinschnittenfür das öf-
fentliche Leben wie den Schließungenvon
Geschäften. Die Gesundheitsbehörde
sieht Hamburg auchgut aufgestellt:Die
Krankenhäuser in derStadt verfügen über
etwa 640Intensivbetten mit Beatmungsge-
rät,inKinderkrankenhäusernkommen
nocheinmal82mit Beatmungsmöglich-
keit hinzu. Mankönne dieKapazitäten
vonBeatmungsbettenverdoppeln, heißt
es aus der Behörde, „wenn der Bundwie
geplant Beatmungsgerätebeschafft und
den Ländernzur Verfügungstellt“.

AufSt. Pauli brenntkein Licht:Die Herbertstraße am Mittwoch FotoNiklas Grapatin/Laif

HochgefährlicheSpinner


Erstmals hat InnenministerHorst Seehofer eineVereinigung der „Reichsbürger“ verboten/VonReiner Burger, Düsseldorf, undPeter Carstens, Berlin


Schuld sinddie Skiferien


DieGesundheitwar vomerstenTag an
eingroßesThema. Bruno D.,der Ange-
klagteimHamburgerSS-Prozess, ist
Jahrealt.Die Staatsanwaltschaftwirft
ihmBeihilfezuMordinmindestens
5230 Fällen vor. Er soll „die heimtücki-
sche undgrausameTötunginsbesonde-
re jüdischer Häftlinge“ durch seineTätig-
keit alsSS-Wachm ann im deutschen
KonzentrationslagerStutthof naheDan-
zigunter stützt haben.Heuteist er ein al-
terMann und sowarenimGerichtssaal
an jedemVerhandlungstagmehrereÄrz-
te anwesend.
Beim bislang letztenTermin am
26.Februar hatteder Anwalt vonBruno
D. einenBefangenheitsantraggegen die
Richteringestellt. Er warf ihr vor, entge-
gendes ärztlichenRats länger als zwei
Stunden zu verhandeln.Das Gericht
wies den Antragzurück.Wegen der Co-
rona-Krisesteht die Gesundheit des An-
geklagten nun jedochnochmehr imFo-
kus; er gehörtschon wegenseines Alters
zur Risikogruppe.Trotzdem wirdandie-
sem FreitagimHamburgerOberlandes-
gericht(OLG)verhan delt.
DieCorona-Pandemie istauchfür die
Justiz einStresstest:für Gerichte,Staats-
anwaltschaftenund für denStrafvollzug.
Der Betrieb wirdauchhier, so weit es
geht, heruntergefahren.Undtrotzdem
gibt es Menschen, die sichgegen einen
Haftbefehlwehren,Verurteilte, die ins
Gefängnis müssen und Gefangene, die
es zuversorgengilt –und es gibt klare
Vorgaben,etwafür Strafver fahren.
Um etwa den Angeklagten Bruno D.
so gut wie möglich zu schützen, soll die
Verhandlung im HamburgerSS-Prozess
an diesemFreitagnur etwa zehn Minu-
tendauern,teiltedas OLGmit.Essoll
auchnur i nden Gerichtssaalgelassen
werden, werwirklichdabeisein muss.
DieangesetzteBefragung eines Histori-
kers wurdeverschoben, auchdie akkredi-
tier tenPressevertr eter sind diesmal
nichtzugelassen. DerTermin sei für den
Fortgang desVerfahrens jedochunver-
zichtbar, so ein Sprecher des Gerichts.
DieHöchstfristfür Unterbrechungen
derHauptverhandlung würde ansonsten
überschritten.
EinStrafprozessdarfgrundsätzlich
nichtlänger als dreiWochen unterbro-
chen werden, ansonstenmusservon vor-
ne beginnen.Alle Zeugen würden dann
nocheinmalvernommen, Sachverständi-
ge abermals gehört; die gesamte Beweis-
aufnahmemüsstewiederholt werden.
Wenn es schon mindestens zehnVer-
handlungstage gab, kann dasVerfahren
für einen Monatunterbrochenwerden.
IsteineRichterin krankoder im Mutter-
schutz, gibtesweitere Ausnahmen; ma-
ximalkann dieVerhandlungdann für
drei Monateund zehnTage unterbro-
chen werden.

Geht es nach Bundesjustizministerin
ChristineLambrecht (SPD), solldas
künftig auchfür Strafver fahrengelten,
die „aufgrund vonInfektionsschutzmaß-
nahmen nicht ordnungsgemäßdurchge-
führ twerdenkönnen“, wie es in einer
Mitteilungdes Ministeriums heißt.Mit
der Neuregelungverhindereman das
„PlatzenvonStrafprozessen“aufgrund
der Corona-Pandemie. Dierechtspoliti-
schen Sprech er vonUnionund SPD,
Jan-MarcoLuczak und JohannesFech-
ner,habensichdafür ausgesprochen, die
Änderung schonkommendeWoche zu
beschließen.Auch derVorsitzende des
Deutschen Richte rbunds, SvenRebehn,
begrüßt das Vorhaben.Der Deutsche
Anwaltverein warntdagegenvorübereil-
tenReformen.„Krisendefinierennicht
das Recht“,hießesamDonnerstag in ei-
ner StellungnahmevonStefanConen
und Ali Norouzi,beide Mitglieder des
Strafrechtsausschusses. Es müsse unbe-
dingtgewährleistetsein, dassdie Sonder-
regelungauf dieaktuelle Pandemie be-
schränktbleibe.
Nebender geplantenReform verweist
die Justizministerinauf eine„Vielzahl“
bestehender Möglichkeiten, umaufdie
aktuellen Herausforderungen angemes-
sen zureagieren. „Die Gerichteentschei-
den unabhängig undverantwortungsbe-
wusst,was im jeweiligenFallangebracht
ist.“Die meistenversuchen, sichzubeei-
len,soauchdie Beteiligten im Bonner
Cum-Ex-Prozess.Wievielerorts wurden
dortdie Plädoyers vorgezogen, um den
Prozessabschließen zukönnen. DerVor-
sitzende Richterwollteverhindern, dass
die inzwischen verurteilten ehemaligen
Investmentbanker aus Großbritannien
und Irland nicht mehr einreisenkönnen.
Damit eine65JahrealteSchöffinweiter
an demVerfahrenteilnehmenkonnte,
wurde siemit Mundschutzineine Ecke
des Gerichtssaalsgesetzt,wie die „Süd-
deutscheZeitung“berichtete. Das Bun-
desverfassungsgerichtverlegtederweil
die fürkommendeWochegeplanteUr-
teilsverkündung zu den Anleihekäufen
der Europäischen Zentralbank.
Auch der Strafvollzug istherausgefor-
dert. In Hamburgwurden Jugendarrest
und Ersatzfreiheitsstrafenaufgehoben;
geprüftwirdauch, ob auchder Vollzug
vonKurzzeitstrafen ausgesetzt wird.
Vollzugserleichterungen und Besuchein
den Gefängnissen sollen eingeschränkt
werden. Die AnwälteConen undNorou-
zi warnen davor, Haftsachen „aufdem
Rücken Inhaftierter“ nun aufdie lange
Bankzuschieben.WieesimHamburger
SS-Prozessweiter geht, istnochnicht ab-
zusehen.Bislang istdie Verkündung des
Urteils fürden 9. Junigeplant. Bis dahin
sindaber nochviele Verhandlungstage
angesetzt, dielänger als zehnMinuten
dauernmüssten. mawy./mgt.

mic.PARIS. Frankreichhat ange-
sichts der Corona-Pandemie im Eil-
tempobürgerlicheFreiheiten wie das
Rechtauf Freizügigkeit, aufReise-
und aufVersammlungsfreiheit einge-
schränkt.Die Nationalversammlung
berät seit Donnerstag darüber,wie
sie den notwendigenRechtsrahmen
für diesen „Notst and für die Gesund-
heit“ schafft,der weit über die im Ge-
setz vorgesehenen Präventivmaßnah-
men zum Seuchenschutz (Artikel
L3131Absatz 1) hinausgeht. Die fran-
zösische Volksvertretung steht vor
einer doppelten Herausforderung.
Denn der Bourbonen-Palast, in dem
das Parlamenttagt, istals Infektions-
herdbekannt.18Abgeordnete wur-
den positiv auf Covid-19getestet,ei-
ner vonihnen liegt nochimmerauf ei-
ner Intensivstation im Elsass.
Besondersharthat es dieFraktion
der rechtsbürgerlichen LesRépubli-
cains (LR)getrof fen. Der LR-Partei-
vorsitzende Christian Jacob hat sich
infiziert. Deshalb istauchein Groß-
teil derAbgeordnetenseinerFrakti-
on in Quarantäne, denn die meisten
hattenKontakt zu ihm.Aber auchdie
anderenFraktionen sind betroffen,
auchMarine LePenhütet das Haus,
denn sie traf ebenfalls mit Jacob zu-
sammen. AlsAusgangspunkt der An-
steckungswelle gilt die Getränkebar
in der Nationalversammlung. Der
Barkeeper sowie zweiKellner wur-
den positivgetestet.Kulturminister
FranckRiestersowie Umweltstaats-
sekretärin BrunePoirson sollen sich
dortinfizierthaben. Die Dunkelziffer
der vomCoronavirus betroffenen Ab-
geordnetendürftenochweit höher
liegen, denn selbstdie Volksvertreter
dürfensichnur nochbei starken
Symptomen einemTest unterziehen.
Frankreichs Gesundheitssystem ist
der Nachfrag eanTests nichtgewach-
sen, esfehlt anqualifiziertemLabor-
personal undwohl auchanTestsets.
So wirkteesgespenstig, alsParla-
mentspräsident RichardFerrand am
Donnerstag die Sitzung in derNatio-
nalversammlungvorweitgehend lee-
renReihen eröffnete;nur knapp
zwanzig der 577Abgeordnetenwa-
renanwesend. Sie saßenweit vonein-
ander entfernt.
„In unserer Institution schlägt das
Herzder Demokratie“, bekundete
Ferrand. Deshalb würden die parla-
mentarischen Beratungen unter „be-
sonderen Ums tänden“fortgesetzt.
JedeFraktion hattesichinVideokon-
ferenzen abgestimmt und für denNot-
betrieb nur die Fraktionsvorsitzen-
den und einengesundheitlichbeson-
derssolide erscheinendenVertreter
in dasParlament entsandt.
Alle parlamentarischen Arbeiten
sind bis aufweiteres ausgesetzt. Die
Nationalversammlung trat nur zusam-
men, um die Haushaltsplanungen zu
korrigieren sowie über einen Gesetz-
entwurfüber den Gesundheitsnot-
stand zu beraten. Premierminister
ÉdouardPhilippestimmtedarauf ein,
dassdie allgemeineAusgangssperre
länger als die zunächstangekündig-
tenzweiWochenwährenkönne. Der
Gesetzentwurfsieht vor, dassder Prä-
sident für eineFristvon zwölfTagen
einen„Gesundheitsnotstand“imgan-
zen Land oder inTeilen ausrufen
darf, „wenn eine Gesundheitskata-
strophe, insbesondereeine Epide-
mie, die Gesundheit der Bevölkerung
bedroht“. DieFristkönneverlängert
werden, wenn die Lagedies erforde-
re.Der Regierung wirdwährend des
Gesundheitsnotstands dasRechtzu-
gebilligt, per Gesetzesdekret die Ge-
werbefreiheit, dieVersammlungsfrei-
heit sowie dasRecht auf Freizügig-
keit einzuschränken. Der Gesetzent-
wurfsieht auchBeschlagnahmungen
vonsystemrelevanten Güternund
Produktionsmittelnvor.


T.G./mic./hcr. BRÜSSEL/PARIS/MA-
DRID. Die EU-Kommission will einen
strategischen Vorrat an Beatmungsgerä-
ten, Schutzkleidung,Virentests und Anti-
biotikaanlegen, umStaaten inNotzuhel-
fen. Daskündigte der für Krisenmanage-
ment zuständigeKommissar Janez Le-
narčič in Brüssel an. DieKommission
zieht damitKonsequenzenaus der sich
verschlechternden Lageinmehreren Ge-
sundheitssystemen und aus derfehlenden
Solidaritätunter den Mitgliedstaaten. Bis-
her habenItalien und Spanien zwar den
sogenannten Zivilschutzmechanismus der
EU aktiviertund die anderenStaaten um
Hilfegebeten. Dochlieferte lediglich
Deutschland eine Million Schutzmasken
an Italien.
„Nationale Exportbeschränkungen un-
tergraben die Solidarität, auf derdie EU
beruhensollte, und denZivilschutzme-
chanismus“,sagteLenarčič.Die Kom-
missiongreiftdeshalb nun auf ein Instru-

mentnamens „rescEU“ zurück,das sie
vordreiJahrengeschaffenund schon bei
der Bekämpfungvon Waldbrändenein-
gesetzt hat.Sofinanzierte sie Löschflug-
zeuge in Schweden,Portugal und Grie-
chenland. Die Mitgliedstaate nbeschaf-
fendie Ausrüstung und lagernsie bei
sichein.DieseAusrüstungkann dann im
Krisenfall allen Ländern zur Verfügung
gestellt werden,die Hilfeanfordern –
darüberentscheidet allein die Brüsseler
Behörde.Nac hLenarčičsAngabenha-
ben sichsechs Mitgliedstaaten bereit er-
klärt,die für die Bekämpfung derCoro-
na-Pandemienotwendig eAusrüstung zu
beschaffen. Deutschland gehört nicht
dazu.Die Kommissionrechnetdamit,
dass es zwei Monate dauernwird, um
den Vorrat anzulegen.
Unabhängigvondieser Initiativehat
die Kommission die gemeinsame Be-
schaffungvonSchutzkleidung und Beat-
mungsgeräten eingeleitet.Entsprechen-

de Ausschreibungenwurdenveröffent-
licht, bis nächsteWochewerden Angebo-
te eingeholt;danachsollen die Aufträge
schnellvergebenwerden. Die EU spielt
damit ihreMarktmacht aus, diegrößer
ist, alswenn jedes Landeinzeln Material
beschafft.Ander Beschaffung nehmen
25 Mitgliedstaatensowie dasVereinigte
Königreichteil. Brüsselversucht außer-
dem, die Produktion in europäischenUn-
ternehmen anzukurbeln.
Hilfekommt nun auchaus China.Wie
KommissionspräsidentinUrsula vonder
LeyennacheinemGesprächmit Minister-
präsident LiKeqiang mitteilte,stellt Pe-
king der EU zwei MillionenStückMund-
schutz, 200 000 N95-Atemschutzgeräte
und 50 000 Virentestskostenlos zurVer-
fügung. Die Lieferung soll nachdem Wil-
len der EU-Kommission direkt an Italien
gehen, dessen Gesundheitswesen am
stärksten belastet ist. China revanchiert
sichdamit für insgesamt 56Tonnen an

Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln
undSchutzmasken, die es auf dem Höhe-
punkt seiner Epidemievon neun EU-
Staaten geschenkt bekommen hatte.
Dazugehörten Deutschland, Italien,Un-
garn und Frankreich.
Voneiner „Geste derwechselseitigen
Solidarität“ sprachdeshalb nun der franzö-
sischeAußenminister Jean-Yves Le Drian.
Zwei Flugzeugeaus China mit insgesamt
einer Milliondringend benötigter Schutz-
masken würden inFrankreicherwartet, ei-
nes sei bereits am Mittwocheingetroffen.
„Wir wissen diese Hilfsgeste sehr zu schät-
zen“, sagteLeDrian. Er erinnerte daran,
dasssein Landder am schlimmstenvom
Coronavirus betroffenen Stadt Wuhan Mit-
te Februar mit 17Tonnen medizinischer
Ausrüstunggeholfen habe. Es sei nicht un-
gewöhnlich,dassdas Regime inPeking
sichdaran erinnere, dassauchFrankreich
geholfen habe,und jetzt ebenfalls mit drin-
gend benötigtemMaterial einspringe. An

der China-PolitikFrankreichswerdesich
dadurch nichts ändern.Die Hilfssendun-
gennachWuhan MitteFebruar–dar-
unter jetzt knappwerdende Schutzanzü-
ge,Atemschutzmasken, Schutzhandschu-
he, Desinfektionsmittel und Medikamen-
te –war vonPräsident Macron nachei-
nemTelefonat mit demchinesischen Prä-
sidenten angekündigt worden. Frank-
reichhat als einziges EU-Land in Wuhan
ein Generalkonsulat eröffnet.
Auch Spanien erhält direkteHilfeaus
China. Schon am Mittwochbedanktesich
die spanischeAußenministerinArancha
González Laya für eine Flugzeugladung
mit medizinischen Hilfsgütern, die dieRe-
gierung inPeking sowiechinesischeRe-
gionen undUnternehmergeschenkt hät-
ten. Zuvorhattedie spanischeAußenmi-
nisterinamWochenende in einemTelefo-
nat mit demchinesischenAußenminister
Wang Yi über ein Hilfspaket über ihr
Landgesprochen.

Aufder Suchenachschnellen


Reformen


Das Coronavirus alsStre sstest für die deutsche Justiz


Vorleeren


Reihen


FrankreichsParlament


im Notbetrieb


EU-Kommission will strategische Reserve fürC orona-Krise anlegen


Behörde ziehtKonsequenzen ausfehlender Solidarität der Mitgliedstaaten/China hilftmit Masken undAtemschutzgeräten


In keinem Bundesland


gibt es imVerhältnis zur


Einwohnerzahl mehr


Corona-Fälle als in


Hamburg. Dochdie


Behörden sindgewarnt.


VonMatthiasWyssuwa,


Hamburg

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