FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG,20. MÄRZ 2020·NR.68·SEITE 9
R
ettungvorder Pest warnicht
der Anlass dafür,dassdie
Schützenvon Borghorst 1823
ihr feierliches, in 197 Jahren nichtge-
brochenes Gelübdeablegten. Auch
dieerste Cholera-Pandemie derWelt-
geschichtehattedamals das Münster-
land nochnicht erreicht. In den Akten
des Schützenvereins hat sich keine An-
gabe überden Grund desVerspre-
chens erhalten, und gerade darin
kommt dasKategorische dervonGe-
neration zu Generationweiter gegebe-
nen Verpflichtung zum Ausdruck.
Am Abend des Ostersonntags ziehen
die Schützen in einer Prozessionvon
ihrem Vereinslokal zur Pfarrkirche
Sankt Nikomedes. Der Schützenkönig
trägt eine Messinglaterne mit drei
brennendenKerzen voran. Dieses Ge-
rät hat FürstAlexiuszuBentheim und
Steinfurtder Brüderschaft1823 zum
Geschenkgemacht. Die Schützenge-
lobten, den Leuchter Jahr für Jahr an
Osternzur Kirchezutragen.Käme es
zu einerUnterbrechung derTraditi-
on, fiele die Laterne an dasFürsten-
haus zurück. Vielleicht liegt die Erklä-
rung für die Selbstverpflichtung im
unverhofften Charakter derStiftung.
Zwarfiel der Leuchter nicht direkt
vomHimmel, aber in frommenSchüt-
zenaugen dürfteseineÜbereignung
ein mirakulösesEreig nisgewesen
sein. Denn das Geschlecht derFürs-
tenvon Steinfurtist seit 1544evange-
lisch, Borghorst hingegenseit eh und
je katholisch. Alexius erwies sichals
grundgütigerUngläubiger,und über-
schießenderDank dafür könnte
Grundgenuggewesen sein,die Pro-
zession als heroischeTugendübung
auszugestalten: Sie soll stattfinden,
selbstwenn ihreAbhaltung alsWun-
der gelten muss,weil die Kräfte der
Natur oder Gesellschaftsichgegen
die Erfüllung des Gelübdesverschwo-
renhaben.Auch in denWeltkriegen
soll der Brauchnicht abgerissen sein,
und angeblichwurde der Leuchter in
der Hitlerzeit aufgeheimenWegen
zur Kirchegebracht. Diese Erinne-
rung istjetzt einwesentlicher Grund
dafür,dassder eingetrageneVerein
der Prinzen-Schützen die brennenden
Lichter auchamOstersonntag dieses
Jahres durch die Straßen tragenwill.
Allerdingswerden nur drei Schützen
demKönig das Geleitgeben,ingebo-
tenemAbstand. An alle anderen ist
der Befehl ergangen, zu Hause zu blei-
ben.InsJahr 1490 datiertdieBrüder-
schaftihreGründung–nur während
des kürzeren Teils der Vereinsge-
schichte wurde derUmzug alsoveran-
staltet,aber gerade das dürfteein Mo-
tiv dafür sein,jetzt nicht abzubre-
chen. Ein Brauchist eineÜbung,die
auf dem Glauben beruht, sie sei im-
mer schonvollzogenworden, aber er
lebt davon, dasserangereichertwer-
den kann. Das zeigt sichinder Krise:
Die Schützen bittenihreMitbürger,
Kerzen in dieFenster desProzessions-
wegs zu stellen. Als Emmausgang
wirdder Brauchbezeichnet, nach
dem Evangeliumvom Ostermontag,
das vonden zwei Jüngernerzählt, die
mit Jesus ins DorfEmmauswander-
tenund ihn erst erkannten, als er das
vonihm gestiftete Ritual desAbend-
mahls mit ihnenfeierte.
DreiKerzen
VonPatric kBahners
D
ie Entscheidung folgt
den Empfehlungendes
Robert-Koch-Instituts“
–mit dieserKurzformel
werden in diesen krisen-
haftenTagendes März
2020fastsämtliche Maßnahmenstaat-
licherStellen inDeutschlandbegründet.
In beeindruckenderWeise werden me-
dizinischeKapazitätengesichertund neu
aufgebaut, die Krisenstäbe der Kom-
munen, Länderund desBundesergänzen
sich, die Bürgergesellschaft verhält sich
diszipliniertund ruhig.
Dochgehteseben nichtnur um neue
Intensivbettenund Hilfsspitäler:Die Be-
kämpfungdes Coronavirus istbinnenTa-
genzueinerZeiten wende geworden,die
bis in GrundverabredungenvonStaat
und Gesellschafthineinreicht.Und hier
mussinden kommendenTagenund Wo-
chen eine Herausforderungbestanden
werden,die inganz praktischerWeise
nich twenigerexistentiell für unser
Gemeinwesen ist–es geht darum, bei al-
len Entscheidungendie wechselseitige
Abhängigkeit vonhandlungsfähigem
Staat und freier Gesellschaftzubeach-
ten.
Dabeiist derPunkt:Ineiner nie dage-
wesenenWeise wirdinDeutschland –
und fast allen Staaten unseres Ver-
fassungskreises–imMoment die Logik
des maximal möglichen Infektionsschut-
zes befolgt, dafür wirdinsbesonderedie
allgemeine Öffentlichkeit praktischauf-
gehoben. Wenn aberdie Regierungen
der freienWelt denZeitpunktverpassen,
diese Logik zu durchbrechen, ist der Ast
abgesägt,auf dem wir(undzuallererst
auchdie Krankenversorgung) sitzen.
Undeine einmalstillgelegteGesellschaft
lässtsichdannauchnicht perRegierungs-
beschlusswiederanstellen, wirsind
nicht China.Politik wie Bürgerinnen und
Bürgermüssen sich derEinsichtstellen:
Wenn dieVersorgungsketten, aber auch
das Radio und dieZeitungen lahmgelegt
werden,etwaweil Einrichtungenwegen
erkrankterMitarbeitergeschlossenwer-
den,lässt sich die öffentlicheOrdnung
nicht halten–virologischeEmpfehlun-
genund staatlicheVersprechungen hin
oderher. Auchder gesellschaftlicheFrie-
den im Land, daslaufendeSystem, muss
verteidigt werden, weil dasVorausset-
zungfür alles ist,ganz sicher jedenfalls
für eine möglichstguteVersorgung mög-
lichstvieler Kranker.
Typischerweise funktioniert Politik
nachAktionund Reaktion, nachtrial and
error,nachder Abfolgevon Prioritäten,
die nicht zuletzt durch die medialeBeglei-
tungidentifiziertund immer wieder neu
vermesse nwerden. So entstehen dieZy-
klenvon Aufmerksamkeit, in denen im
gutenFall immer wieder einStückPro-
blemlösungerzeugtwird–währendtat-
sächlichfastalle Probleme zugleich auch
weiterlaufen. DerStaat agiert dabei mal
„stark“, mal moderierend, mal auswei-
chend. Doch gibt es dabeieine Geschäfts-
bedingung, die momentan außer Kraftge-
setz tscheint:Der Staat isteine Funktion,
die sich die freiheitlich-demokratische
Gesellschaftfür bestimmteFragen zuge-
legthat (auchwenn historischbekannt-
lichdie Abfolgeeine anderewar) –und
die vorläufigenErkenntnisseund Maß-
nahmendiesesStaates mitseiner unge-
heurenMachtmüssen reversibelgehal-
tenwerden. In der Arbeitsteilung der Mo-
dernesteht derStaat nichtvoroder au-
ßerhalb der Gesellschaft,sie umfängtihn
vonallenSeiten. Dasderzeitig eKrisen-
management treib taber der Haltung ent-
gegen, gesellschaftlicheFreiheit sei un-
terdem Vorbehaltgewährleistet ,dass
demkeineordnungsrechtlichen Einwän-
de entgegenstünden. Das mag–und so
istauchdas Infektionsschutzrechtgear-
beitet –für Stadtteile und Landkreise
richtig sein,wenn dortSeuchen allerArt
bekämpft werden müssen. Eskann aber
nicht funktionieren, wenn dasgesamte
Landoderdie halbeWelt unter Quarantä-
ne gestelltwird. Ganz praktisch, nicht
staatstheoretisch stellt sichdie Systemfra-
ge:Kann derStaat ir gendetwasgarantie-
ren, sei es Gesundheit, sei es Lebensmit-
tel, sei es öffentliche Sicherheit, ohne
dass die Gesellschaftmittut?Nein,das
kann er nicht,weil wirkeine Selbstversor-
gerund Selbstverteidiger sind undauch
dieBundeswehr aus ihrenKanonenkei-
ne Brötchen schießt. Eingesamtgesell-
scha ftlicherKatastrophenfall lässt sich
eine eng begrenzteZeit managen, aber
nicht auf die Dauer,die vi rologischgebo-
tenerscheint.
U
mvon notwendigenUn-
terscheidungen auszuge-
hen:Die Gesundheits-
forscher staatlicherEin-
richtungen,vorneweg
dasRobert-Koch-Insti-
tut, machen zurzeit offenkundig einenex-
zellenten Job–sachlich, unaufgeregt,im
ganzenTonzurückhaltend. Unddie Bür-
gergesellschaftverhält sichimGanzen
bishersehr respektabel –ihrerseits im
Momentgelassenund zuversichtlich.
Undesist beruhigend,dassdie Entschei-
derder Politik sach- und lösungsorien-
tier tagieren(und derÜberbietungsmo-
dus jedenfalls nicht das allgemeineKenn-
zeichenist). Aber geradeweilwir durch
guteFachwissenschaft, ordentliche Infra-
strukturund eine empathische und belas-
tungsfähigeBevölkerung guteVorausset-
zungenhaben, mussesauchjetzt mög-
lichsein, diestaatspolitischeStrategie
des Infektionsschutzes zu diskutieren
und gemeinsamweiterzuentwickeln. Das
gehörtebenfallszum Bürgersinn, derVer-
antwortung für das Ganzeübernimmt.
Denn zubedenken sindebennicht nur
Fragen der Gesundheitspolitik,sondern
auchihreVerzahnung mitanderen
Grundlagen unseres Zusammenlebens,
dieökonomisch, sozialwissenschaftlich,
ethisch undauchverfassungsrechtlichzu
formulieren sind. Insoweit gibtesAnzei-
chen, dass die zurzeitverfolgte(bezie-
hungsweise verlautbarte) Stra tegie in
durchaus dramatischerWeise ergän-
zungsbedürftig ist.
Kurz gesagt:GesellschaftlicheVerein-
zelungkann keine Dauerstrategie über
Wochen und Monatesein, undstaatliche
Hilfsversprechen leben vonVorausset-
zungen, die sie selbstnichtgarantieren
können. Es sollte nicht dermerkwür-
digenVorstellungVorschub geleistetwer-
den,man könne in unserer ausdifferen-
zierten Gesellschaft auf längereZeit „sys-
temrelevante“vonsonstigenTätigkeiten
unterscheiden, und derStaat gewährleis-
te mitseiner Macht(sprich: Kredit-
würdigkeit)die Arbeitswelt.Esist doch
andersherum: Nurindem dieübergroße
AnzahlvonMenschen jedenTagihren
Beitrag leistet,werden Steuer nund Bei-
träg eerwirtschaftet, die denStaat in die
Lage versetzen,überhau pt irgendet was
zu tun, seineBeamtenzubesolden,Ren-
tenauszuzahlen, Hilfsbedürftigezuali-
mentieren, Zuwendungen für dieWirt-
schaftzuversprechen.
Ein Shut Down dergesellschaftlichen
FreiheitnimmtdemStaat, dervondieser
Gesellschafteingerichtet und legitimiert
ist, nachkurzerFristganzprinzipiell sei-
ne Handlungsfähigkeit.Und konkreter
lassensich Verbote längerals einen lan-
genWimpernschlag auch kaum auf
„nicht nötige“ Dingebegrenzen;Lebens-
mittel und Medizinproduktelaufen in
ihren Produktions- undLieferketten
nicht getrennt vonder Gesamtwirt-
schaft, und sie lassen sich auchnicht per
Verwaltungsakt oderBundeswehreinsatz
herb eizwingen.
Seuchenpolizeilichkönnteimmer noch
schärfergehandeltwerden, möglichstmit
einem Ausgangsverbotfür jedermann bis
zur Einsatzfähigkeit eines Impfstoffs.Poli-
tik heißt aber: Mehr zu wissen, mehr zu be-
denken–und zu sehen, dasseskeinesfalls
möglichist,diese Gesellschaftein Jahr ein-
zusperrenoder sichinKleinstgruppen
selbstzuüberlassen.
Worinbesteht,konkreter betrachtet,
dasProblem derderzeitigenStrategie?
Diestaatlichen Maßnahmen gehen
offiziellvonzweiPrämissenaus: Eine
möglichstmaximaleBeschränkung des
Virus istmomentan das Primärziel –und
gleichzeitig wird vorhergesagt, dass zirka
2/3 der Bevölkerung sichmit dem Virus
infizierenwerden, wodurchdanach eine
relative Sicherheitvoreiner weiteren
Ausbreitung besteht.EineVerbindung
derbeidenPrämissenbesteht überdie
Zeitschiene,die zu einermöglichst
langenStrec kung derInfekteführensoll,
um insbesonderedie intensivmedi-
zinische Behandlung möglichstaller
Schwersterkrankten zugewährleisten.
Bundesländer und Bund haben sich in
denletztenTagenmit immer massiveren
Maßnahmen ganz auf das ersteZiel
konzentriert, ohne einenachvollzieh-
barePerspektive für denweiterenVer-
laufanzubieten.Sowurdeetwa schon
ganz zu Beginndie Verantwortungfür
Kinder undWirtschaftinden Bereich
bürgerlicher Freiheit(wenn nicht in-
dividueller Selbstversorgung) verscho-
ben. Auf einmal solltewieder gelten,
dass es ja Aufgabeder Eltern wäre,sich
um ihrenNachwuchs zukümmern. Der
Ausweg Großelternwurde sogleich
verstellt, schnelldannauchdie zunächst
postulierteLösung über Nachbarn,
Freunde undKollegen.
Nunbleibtein wichtiger,hochleis-
tungsfähigerTeil der GesellschaftzuHau-
se, invorsorglicher Krankschreibung,for-
malem Homeoffice, Kurzarbeit oder Ar-
beitslosigkeit.Kurzgesagt:Der Staat
spielt hier einenRiesenball an die Gesell-
schaftzurück, ohne bis zu Endezu kalku-
lieren,wie dieseGesellschaft weiter ih-
rerAufgabe nachkommen soll, unserge-
meinsamesLebenzuleben,mit seiner
Vertaktung, seinen Engführungen, sei-
nen unendlichvielen Abhängigkeiten.
Einzutragen sinddie verord neteZunah-
me häuslicher Extrembelastungen (zum
Beispieldurch die SchließungvonSpiel-
plätzen),die massiveErhöhungvonEr-
krankungen durchdie Wegnahme aller
Prävention,die Pulverisierung des Ge-
meinschaftssinnsdurch die Schließung
allerGotteshäuser–und in derTat auch
die Systemüberlegung, wie Hochleis-
tungsmedizin undextremkomplexe Ver-
sorgungtechnischwie ökonomischauf-
rechterhaltenwerde nsollen,wenn ihnen
der Unterbau, derständigeZuflussan
Ressourcen,weggeschlagenist.
W
ie weiter? Esstellt
sich dringlichvor al-
lem folgendeKon-
trollfrage:Wassoll
in vierzehn Tagen
oder auchinfünf
Wochen, nach densehrlangen Osterferi-
en, ausvirologischer Sicht anderssein?
Wenn wirbis dahindurchkommen–kön-
nen die Seuchenmediziner anderes sa-
gen, als dass bei demgestiegenenGrund-
niveauanInfizierten dieweiter eSchlie-
ßung der allgemeinen Gesellschaftgebo-
tensei, weil die sonst anstehendeWelle
an Neuinfektionen nochmals schneller
und brachialer ist? Wenn nein: Dann
wirddie Politik Entscheidungentreffen
müssen, die sie nicht aufdie Virologen
stützenkann –und dafür benötigt die
BürgergesellschaftAntworten oder min-
destens Vorbereitung,wenn sie jetzt mit-
ziehen sollinder Krise.
Wiralle wissen nicht, inwelcherVerfas-
sung wir uns inwenigenTagen, wenigen
Wochen, in einem Jahr wiederfinden. Ge-
hen wirvomgutenFall aus. Dannwerden
manche Beobachtungen aufzunehmen
sein:Welchestaatlichen undkommuna-
len Ebenen haben sichbewährt,wo wur-
de Verantwortung nur simuliert?Wievie-
le Business-Flügehaben sichals entbehr-
lichentpuppt(und warumsind dieLuft-
fahrtkonzernegleichwohl der ersteKandi-
dat fürstaatlicheRettung)?Warumha-
ben wir uns übermannen lassen vom
antieuropäischen Grenzaffekt, wo doch
gleichzeitig nur die offenen Grenzen die
Versorgungskettensichern, übrigens
auchinRichtung der anderenLänder?
Warendie Kirchen bei den Menschen?
Werhat vorallem an sichselbstgedacht?
Undwas is tbereits jetzt anzugehen, um
ungerechteLastenhinsichtlichder Rechts-
folgen einer Systemkrise angemessen zu
verteilen?Tatsächlichstellt sichein Ge-
fühl ein, das inWesteuropakaum nochre-
levant schien:Wirmüssen nicht nur unse-
re Gesundheit, sondernauchunsereFrei-
heit verteidigen.
DerAutor lehrt Öffentliches Recht
an derUniversität Münster.
Z
ur Situation derPolitik in
der Corona-Krise gehört
es, dassihr die Ausübung
einerForm vonMacht zu-
gestandenwird, die bisvor
kurzem undenkbar er-
schien.EinePolitikergeneration, die mit
dem deprimierendenSelbstverständnis
sinkender Handlungsspielräume und im-
merkomplexererProbleme sozialisiert
wurde, kann harte Zwangsmaßnahmen
durchsetzen,die verfassungsrechtlichan
die Grenzegehen: Einschränkungen, ja
Suspendierungender Versammlungsfrei-
heit, massiveEingriffeindie Berufs- und
Religionsfreiheit, unbeschränkter Zu-
griffauf Telefonverbindungsdaten zur
Seuchenbekämpfung.
Vieledemokratische Verfassungen
kennen für solcheFälledas Institut des
Ausnahmezustands, dieverfassungsmäßi-
ge Diktatur. Das Grundgesetz lässt derlei
nur fürden militärischenNotstand,für
denVerteidigungsfall zu.Wäre es sinn-
voll, auch für diePandemie solcheAus-
nahmebefugnisse zu schaffen?Entspre-
chendeÜberlegungenund Entwürfe zu
abgekürzten Gesetzgebungsverfahren
durch Notausschüsse und erweiter te
Durchgriffsmöglichkeitender Regierung
kursieren in diesenTageninden Parla-
mentenvon Bund undLändern.
Nichtsspricht dafür. Denndas poli-
tischeProblem, aufdas verfassungsrecht-
licheNotstandsregelungeneine Antwort
sind, stellt sich in der gegenwärtigen
Situation nicht.DassGesetzgebungs-
verfahren in äußersterBeschleunigung
möglichsind,haben Bundestag und
Bundesrat am letztenFreitag unterBe-
weis gestellt.Wie schnell die in der
Flüchtlingskrise eingespielteföderative
Koordinierunghochgefahren werden
kann, isteindrucksvoll. Eine eigeneGe-
sundheitsverwaltung des Bundeslässt
sichdagegen nicht im Notstandswege
schaffen.
TrägervonAusnahmebefugnissen ha-
ben die Aufgabe, Entwicklungen zu anti-
zipierenund politische Zielsetzungen zu
definieren. Dochüber das Ziel, dieRet-
tungvon Menschenleben, lässt sich
schwerlichstreiten. Zwargreifen dieMit-
tel, rechtzeitige Weiter gabe vonInforma-
tionen oder,wenneszuspät ist, Bewe-
gungseinschränkungenallerArt,tief in
die Freiheitsrechte ein; dass sie unzweck-
mäßigoder in derAnlage unbeschränkt
wären, kann man aber nicht behaupten.
DieInfektionsbekämpfung, Michel Fou-
caults LieblingsbeispieleinerRegierung
der Normalisierung,bedarf, so scheint
es,keinerAuseinandersetzung derWelt-
anschauungen,keinerMaßnahmen ge-
genFeinde. Auch darum musssie unse-
renBürgersinn schwer kränken, denn als
potentielleAnsteckungsherde sind wir
unserer Subjektqualitätvollständigbe-
raub tund landen dort,wo es keine Frei-
heit mehrgeben kann,imHausarrest der
Statistik.
D
as zeigt:Die Pandemie
istweniger eine Krise
derPolitik als eine Krise
derVerwaltung, die
nicht mehr ohneweite-
resleistet, wasErnst
Forsthoff 1938als Daseinsvorsorge be-
schrieben hat:die Vorsorge vorkollek-
tiverPanik durch die geräuschloseAb-
schirmungder Bevölkerung vonele-
mentaren Lebensrisiken. Politik sieht
sich zu einem Epiphänomen ge-
schrumpft:Über jede bishergetroffene
Gegenmaßnahme wurde erst in dem Mo-
ment entschieden,andem ihreNotwen-
digkeit auchmit gehobenerZeitungslek-
türehätteeinleuchten müssen. Dassman-
chePolitikeretwasschneller reagieren
als andere, magmitIntelligenz undGe-
schick zu tun haben, einengehaltvollen
politischenUnterschie dkannman nicht
erkennen,nochnicht einmal einenVor-
sprung in wissenschaftlicherInformiert-
heit.
Die Öffentlichkeit, die die Krise produ-
ziert,wäre umgekehrtnicht zu habenge-
wesen, hätteman sierechtzeitigverhin-
dert .PolitischeFührungkann es in der
Seuchenbekämpfung eigentlich nurals
administrative Vorsorge geben,aber als
solche bleibt sie unbemerkt.Hätteman
in Tirol aufgepasst,hätteder öste rrei-
chische Bundeskanzler nicht zummedia-
len Vorbild der Krisenbekämpfungwer-
denkönnen. Hier entsteht eine seltene
Gelegenheit,Handlungsfähigkeit zu do-
kumentieren und sie,worauf man so lan-
ge gewartet hat, den Gegnerndes politi-
schen Systemsvorzuführen.Die Zukunft
wirdzeigen, wiehaltbar die politische
Ethi kder Komplexitätsbewältigung ist.
Auch die Bürgerscheinen imAugenblick
ja einregelrechtes Bedürfnis nachlega-
ler Unfreiheitzuverspüren: DasVerhal-
tenaus freier Einsicht in dieNotwendig-
keit zu ändernfällt schwerer als unter An-
drohungvonStrafe.
DassRegierungen populistisch admi-
nistrieren unddasssie, hättensie ver-
nünftig gehandelt, politischgar nicht
groß in Erscheinungtretenkönnten,
spricht nichtgegendas politische Sys-
tem. In welche mMaße sich das Be-
dürfnis nachSchutzdurch die Verwal-
tungkollektivBahnbrichtund wiestabil
es ist,folgt meist einer Logik derNeuheit
undder Gewöhnung an Risikenund ist
daher äußerstschwerzu prognostizieren.
So istauchder Konsens, Alteund Vulne-
rablevor dem Virus zu schützen,weniger
unschuldig, als er klingt. Einevergleich-
bareindividuelle undvorallem ökonomi-
sche Opferbereitschaftgab und gibt es
weder zur Eindämmung derErderwär-
mung undder HIV-Epidemienochzur
RettungvonFlüchtlingen und derRedu-
zierung derVerkehrstoten. An derschie-
renZahl der Opfer liegt es ebensowenig
wieanden möglichenKosten. Auf ein-
malistalles möglich,weildie Toten in
Mailand eine andere Bedrohung ver-
mitteln als dieToten im Mittelmeer und
die Opferdes Klimawandels in ein paar
Jahren.
Die Kriseist im Moment kraftKonsen-
seseine administrative Krise,inder die
oberste Priorität in derSteigerung der ad-
ministrativenKapazitätenvon Kranken-
häusern, Testlaboren, Impfstofffor-
schung, Notbetreuungund elektroni-
sche mFernunterrichtvon derGrund-
schulebis zurPromotion besteht.Sie
wird einepolitische Krise, sobaldsich
der Konsensauflö st.Auchandie Risiken
der Pandemiewerden wir unsgewöhnen.
Gewöhnung und administrativeNormali-
sierungwerden ihr übliches modernes
Bündnis eingehen. Spätestens dannwer-
den politischeMehrheitsentscheidungen
zu treffensein, wo man heutenochohne
Stre it Fachleutenfolgt.Für die dannan-
stehendenEntscheidungenwirdder
mächtige,aber amorphe Rufder öffentli-
chen Meinungnicht mehrausreichen. Es
bedarf dann politischerNachfragen und
parlamentarischer Opposition.
S
chon für den klassischen
Ausnahmezustand galt, dass
die größteSchwierigkeit
nicht darinbesteht, ihnzu
verhängen, sonderndarin,
ihn zu beenden.Auchdie Re-
gelungen desGrundgesetzesüber den
Verteidigungsfall haben hier ihregrößte
Schwäche:Streng legalistisch legt dieVer-
fassungfest,dassder Verteidigungsfall
unverzügli ch für beendetzuerklärenist,
wenn dieVoraussetzungen für seineFest-
stellung nicht mehrgegeben sind. Die
Entscheidungkönnen aber nur Bundes-
tag, Bundesratund Bundespräsidentge-
meinsam treffen. Was, wenn sie es nicht
tun?Um wie vielmehr giltdies für den
Ausnahmezustand einerPandemie:Zur
Leistungsfähigkeit derVerwaltungund
des Gesundheitssystemstragendie Insti-
tutionen,die dasverfassungsrechtliche
InstitutdesAusnahmezustandsvorläufig
verspricht, nichtsbei. Doch könnte die
künstliche Suspendierung der parlamen-
tarischenDemokratie denWiederbeginn
der Politik nachder Krise selbstdann er-
schweren,wenn sie nur eineverfassungs-
rechtliche Möglichkeit bleibt. Mit ihr wür-
den die verfassungsänderndenOrgane
sichselbstein Misstrauensvotum ausspre-
chen,das sie nichtverdienen, das aber
ihreGegner beimWort nehmenkönn-
ten. Es gibtkeinenAnlass, dasGrundge-
setz zu ändern.
DieAutoren lehren Öffentliches Recht
an der HumboldtUniversität zu Berlin
(Möllers) und derUniversität Würzburg
(Meinel).
Alle Macht
demVirus?
Nac hden Berliner Philharmonikern
sowie denStaatsoperninMünchen
und Berlin bietenjetzt weitereOpern-
häuser undKonzertveranstalter Auf-
zeichnungen im Internet an. DieDeut-
sche Oper Berlin hat bis zum 23. März
die Märchenoper„Die Schneeköni-
gin“von SamuelPenderbayne für Kin-
der freigeschaltet.Auße rdem bietet
die am Haus beheimateteKinder Bal-
lett Kompanie Berlin einOnline-Trai-
ning an.FürErwachsene hält das
Haus mehrere Opernpro duktionen als
Video-on-Demand jeweils 48Stunden
langkostenlosauf seinerWebsitebe-
reit.Die StaatsoperStuttgart stellt ab
dem 20. MärzAxelRanischs fröhlich-
tiefsinnige Inszenierung vonSergej
Prokofjews „Liebe zu den drei Oran-
gen“ eineWochelang insNetz. Sie
wirddann abgelöst von„Lohengrin“.
Auc hdie Metrop olitanOperainNew
York macht ihreaufgezeichnetenRe-
pertoirevorstellungen unterwww.met-
opera.orgfreizugänglich.Undfür das
Kunstlied tun sichdurch die Corona-
Krise neue Möglichkeiten auf.Die In-
ternationale Hugo-Wolf-Akademie
öffnetihreLiedbühne unter
http://www.ihwa.de imNetz.Zudemstellt
sie einen Online-Konzertplan für ih-
renKanal auf http://www.youtube.com/user/
hugowolfakademiezusammen. jbm.
Das Recht
des Ausnahmezustands
ohne Krieg
VonFlorian Meinel undChris toph Möllers
Die Gesellschaftund ihrStaat in der Krise
VonHinnerkWißmann
Oper, Ballettund
Lied frei Haus