SEITE 10·FREITAG,20. MÄRZ2020·NR.68 Literatur FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
I
hren Roman „Falken“ hatteHilary
Mantel 2012 mit dieserNachbemer-
kung beendet: „Indiesem Buch
geht es natürlich nicht um AnneBo-
leynoderHenryVIII., sondernum
die Laufbahn ThomasCromwells, über den
es immer nochkeineumfassende,verlässli-
cheBiografiegibt. Bis dahin bleibtder Mas-
terSekretär geschmeidig,wohlgerundet
undkaum zugänglich, wie eine erlesene
Pflaume in einem ChristmasPie –aber ich
hoffe,mit meinen Bemühungenfortfahren
und ihn ans Licht holen zukönnen.“
ZumGlückder Autorinist auchinden
acht Jahren seitherkeine Cromwell-Bio-
graphie erschienen, aber wie hättedie
auchaussehen sollen, nachdem sichdie
ganze Welt bereits ihr Bildvondiesem
englischenRenaissance-Politiker machte
–dank „Falken“ und seinemVorgängerro-
man„Wölfe“ (2009)? Es gibt in der jünge-
renLiteraturkeinenvergleichbarenFall
fiktionalerRekonstruktioneiner histori-
sche nGestalt, die einen solchen Erfolg er-
lebt hätte. Oder über solche literarischen
Qualitätenverfügt.
Jetzt wirddieserZyklus, Mantelsgefei-
erte „Tudor-Trilogie“, mit einem Ab-
schlussbandvollendet,vondem weder si-
cher war, ob er überhaupterscheinen wür-
de (angesichts des prekären Gesundheits-
zustands seiner Autorin), noch, ob er den
gefeiertenVorgängernwürde standhalten
können. Sowohl „Wölfe“ (im Original
„Wolf Hall“) als auch„Falken“ („BringUp
the Bodies“)gewann die wichtigste engli-
sche Literaturauszeichnung, den Booker
Prize, und die langePause zwischen zwei-
temund drittem Band ließ Schwierigkei-
tenvermuten. Dochdann kamimvergan-
genen Jahr in Großbritannien die Ankün-
digung, dass„The Mirror and the Light“
fertig sei. Bis zum Erscheinen des Buchs
vorzweiWochen lief dieVermarktungs-
maschineriewarm,und seitdemsteht das
englischsprachigeliterarische Lebenganz
in seinemZeichen (F.A.Z.vom9.März).
Beiuns dürfte es in den nächsten Wo-
chen kaum anders sein, zumal nun unfrei-
willigdie nötige Lesezeit fürdie fast 1100
Seitenbereit steht –beinahe so viel wie die
ersten beidenBändezusammen.Von heu-
te an is tder dritte Teil erhältlich, undges-
tern warerbei Amazon alsgebundenes
Buch schon nicht mehrlieferbar.Hattesich
DuMont alsdeutscherVerlag mit denVor-
gängerbändennochjeweilsein JahrZeit
fürdie Übersetzunggelassen,ist der neue
diesmalalso mit nurzweiWochenAbstand
gefolgt. „Spiegel undLicht “ist er über-
schrieben, undwie beimzweiten Bandhat
Werner Löcher-Lawrence hervorragende
Arbeitgeleistet(dererste warnochvon
ChristianeTrabant übersetztworden), und
daswill angesicht sder knappenZeitspan-
ne und des Buchumfangs einiges heißen.
Die Bildhaftigkeit der mantelschen Prosa
istwieder meisterha ft übertragenworden.
Worinbesteht derenReiz? Erst einmal
in der Gegenwärtigkeit, die sie heraufbe-
schwört. Mantel erzähltimPräsensund ra-
dikal aus derPerspektiveThomas Crom-
wells. Keine Szene im Buch, die ohne ihn
auskäme–ein ganz anderes Erzählprinzip
als im ersten großen historischenRoman
dieser Schriftstellerin, dem multiperspek-
tivischen „Brüder“von1992.Unddoch ist
die Tudor-Trilogie keine Ich-, sondern
eine Er-Erzählung, aber eine, in der dieses
„Er“ mindestens so persönlichauftritt,
wie es ein „Ich“ täte.
Dadurch sind die wiederkehrendenPas-
sagen, in denen Cromwells Gedanken
oder nahtlos in den Flussder aktuellen Er-
eignisse eingebetteteErinnerungen ansei-
ne Vergangenheitgeschildertwerden und
er dabei über sichselbst„ich“ sagt, noch
eindrucksvoller,weil derkühle Analytiker
seinerZeit, als den ihn Mantelvorführt,
aus derRolle zufallen scheint.Das Porträt
des Thomas Cromwell is tein kaleidoskopi-
sches insofern, als sichdurch ein ineinan-
dergreifendes Beobachten seiner selbst
und seinerWelt ständig das Handlungs-
musterverändert: Cromwell agiertweni-
ger, als dasserreagiert, seine persönli-
chen Überzeugungen (inreligiöser,ökono-
mischer,psychologischer,politischer,
auchamouröser Sicht)stellt erständig
hintan.Neben ihm lebten im Europa der
ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhun-
derts Überzeugungstäterwie Luther,
Zwingli, Calvin–alle Reformatorenge-
nannt, obwohl sieRevolutionärewaren.
Cromwell steht ihnen darin nicht nach; er
sorgtepolitischwie juristischdafür,dass
Heinrichs erstebeide Ehenfür ungültig er-
klär twerdenkonnten,wasdie Befreiung
EnglandsvomEinflussdes Papstesund
schließlichdie Etablierung der Churchof
England zurFolgehatte.
Cromwells eigenereligiöseÜberzeu-
gungenwarenaber vielmehrkontinental-
protestantischerNatur,worauf in Hein-
richsStaat derTodstand. Alsoverleugne-
te er sie, um über die Beeinflussung des
Königs einenevolutionärenWegzum neu-
en Verständnis deschristlichen Glaubens
zu ebnen. Cromwell warein Realpoliti-
ker, und das heutigeGroßbritannien be-
ruht auf seinemWirken. Das macht die-
sen Mann derRenaissance zu einer so un-
gemein modernenFigur.
UndHilar yMantelzieht alleRegister
modernen Erzä hlens. IhrRomanweistkei-
nenhistorisierendenTonauf,aber sie
streut Archaismenein, stelltüber Dialoge
intellektuellePositionen jener Epochevor,
und siemacht dieZeit de rHandlungan-
schaulichübereine Liebe zumDetail, die
beispiellos dasteht.Natürlichsindihr dabei
die Relikt eaus derHerrschaf tszeitHein-
richsVIII. willkommeneInspiration: all
die Holbein-Gemälde, Gebäude,Schmuck-
stücke,Tapisserien. In demberüh renden
Text „Tudor Places“,dernur in einer Son-
derausgabe desneuenRomansfür di ebriti-
sche Buchhandelskette Waterstonesenthal-
tenist,gibtsie Auskunft über ihreSuche
danach .SoetwaamGrabHeinrichs in
WindsorCastle: „Als ic hauf seinenÜber-
resten stehe, empfinde ichSchwindelund
Übelkeit, un dinmeinemlinkenArm tritt
ein starkes Gefühl auf, das mir signalisiert:
tote Leut eummichherum.Aber ic hbin
gernebereiteinzuräumen, dassessichnur
um meine Einbildung handelt.“
Es istaber eben HilaryMantels Einbil-
dungskraft, dieetwassichtbar zu machen
vermag, vondem eskeine Zeugnisse gibt,
und nicht seltenverfällt die Erzählstimme
dann in ein „wir“, das Thomas Cromwell
aufhebt in einekollektiveStimme des eng-
lischenVolks. So anlässlichder ersten
WiederbegegnungvonHeinrichmit sei-
ner ungeliebterTochterMaryaus erster
Ehe, nachdem ergerade seine dritteFrau,
JaneSeymour,geheiratet hat: „Wennunse-
re Enkel oder die in einem anderen Land,
fern vondiesen im Glühwürmchenlicht
verbleichendenFeldern, einstdie Chroni-
kendieser Regentschaftzusammenstel-
len, werden sie sichdas Treffenzwischen
demKönig und seinerTochter vorzustel-
len versuchen–die Reden, die sie fürein-
andergehalten haben, diegegenseitigen
Aufmerksamkeiten, dieVersprechen und
Segenswünsche.Wassie nichtgesehen ha-
ben, nicht aufschreibenkönnen,warLady
Marys wackliger Knicks und wie das Ge-
sicht desKönigsrotanlief, als er durch
den Raum lief und sie in den Armnahm,
ihr Schniefen undWimmern, als sie den
weißgoldenenStoffseiner Jacke ergreift,
seinKeuchen, sein Schluchzen, seine be-
bendenKoseworteund die heißenTrä-
nen, die ihm aus den Augenquellen.“Wo
die Chronikenschweigen müssen, fängt
HilaryMantel erstrichtig an.
Nurein Bespiel: Der Titel ihres neuen
Romansverdankt sicheiner –erfundenen
–Bemerkung Thomas Cromwells gegen-
über HeinrichVIII.: „IhreMajestät istder
einzigeFürst.Der Spiegel und das Licht
andererKönige.“ Gesprochen wirdsie im
Roman unter vierAugen, aber nun wird
sie in Millionen Gedächtnissenverankert
sein. In der Allegorie schwingen Begriffe
wie „Fürstenspiegel“ und„Aufklärung“
mit.Sie is tperfekt gewählt.Aber siefließt
HilaryMantels Cromwell ganz selbstver-
ständlichaus dem Mund.
Undgenauso selbstverständlicherzählt
Mantel uns durchsDickicht der engli-
schen Innenpolitik jenerZeit, stellt die
wechselnden Bündnisse und die beständi-
genFeindschaftenvor, deckt Intrigen und
Dummheiten einerrunden Hundertschaft
gesellschaftlicher Akteureauf, und inkei-
nem Moment istdas undurchsichtig oder
garlangweilig. Im Gegenteil: Als Leserfie-
bertman mit Thomas Cromwell, der im
zweiten Band dochsounsympathischge-
worden warinseinemkalten Machtkal-
kül, bekommt ihn nun nochintensiver als
in den ersten beidenTeilen derTrilogie
als Mann mitVergangenheitvorgeführt,
als Getriebenen alter Phantome, der mit
Totenebenso im Zwiegesprächist wie mit
Lebenden, und man wünscht wider besse-
res(historisches)Wissen, er mögeüberle-
ben.Aber wie jeder der bisherigen Bände
bietetauchdieser am Schlusseine Ent-
hauptung: Thomas Morewurde am Ende
von„Wölfe“ hingerichtet, Anne Boleyn
am Endevon„Falken“, Thomas Cromwell
nun am Ende des Ganzen.
Kann unser historischesWissen wirk-
lichbessergenanntwerden als das,wasLi-
teratur zu vermitteln versteht? Hilary
Mantel macht mit ihren dreiRomanen ein
Interpretationsangebotauf der Grundlage
allgemein recherchierbarerFakten und
der nur ihr zugänglichen eigenen Phanta-
sie. DasTudor-England auf der Grundlage
Ersterer istweniger lebendig alsdas Tu-
dor-EnglandvonMantel. Das istkeine Fra-
ge der Wahrheit, es isteine derWahrhaf-
tigkeit:Wo wir Menschen besserverste-
hen lernen, istmehr fürshistorischeVer-
ständnisgetan als mit bloßer Datenkennt-
nis undNamenslisten. Geschichtsschrei-
bung erfolgt über Geschichtenschreiben,
und HilaryMantel isteine Virtuosin des
Letzteren. Ziemlichgenau inder Mitteih-
resneuenRomans seht einFazit dessen,
wassie uns erzählt hat mit ihrerTudor-Tri-
logie: „Irgendwo, vielleicht auchnirgends,
gibt es eine Gesellschaft, dievonPhiloso-
phenregiertwird. Sie haben saubereHän-
de undreine Herzen.Aber selbstinder
Hauptstadt des Lichts gibt es Müllgruben
und Misthaufen voller Schmeißfliegen.
Selbstinder Republik der Tugend
brauchstdueinen Mann, der die Scheiße
wegschaufelt, und irgendwosteht geschrie-
ben, dasserCromwell heißt.“
Nein, nicht irgendwo. Im bislanggröß-
tenRomanzyklus des einundzwanzigsten
Jahrhunderts. In dem die Cromwells wei-
terschaufeln. ANDREASPLATTHAUS
Es wird zu wenig überdie Risiken des
Intellektuellendaseinsgesprochen,das
ja regelmäßig an denRanddes Wahn-
sinns führt, abereben leider nicht im-
merzurück:TomasOlsen Myrbråten–
Held in Thure ErikLundsRoman„Das
Grabenereignismysterium“, der im Ori-
ginal 1999 erschien und damit im sel-
ben Jahrzehnt,indem allein sein
Landsmann Dag Solstad dreiRomane
über die Einsamkeit des
Intellektuellen inNorwegenverfasste
–ist über dieFähigkeit,sichkomple-
xenGedankengängenhinzugeben,je-
denfallsaneinemheiklenPunktan-
gelangt.
Mankann diskutieren,obMyrbrå-
tenmit einerbesonderenVeranlagung
zumVerrücktsein auf dieWelt kam. Au-
ßerFrage stehtaber,dass er erst über
ein Forschungsprojektmental abstürzt
–mit gravierendenFolgen: Er zieht
sichaus derStadt aufsLand zurück,
wird dort nurnochverwirrter.Und
haustschließlich, reduziertauf ein ani-
malisches Dasein,als „Waldläufer“ im
offenen Gelände,wasman sich bloß
nicht romantisch vorstellensollte –das
sind dreiKapitel des „Grabenereignis-
mysteriums“.
Lunds Roman ist, ohne das negativ
zu meinen,einanstrengendes Buch.
Geschrieben istesineiner schwie-
rigen, aus überlangenSätzenmit
Wortneuschöpfungen und Einspreng-
selneinesbeinahe ausgestorbenen Dia-
lekts bestehenden Sprache,die Matthi-
as Friedrichunter Zuhilfenahme des
„RheinischenWörterbuchs“ übersetzt
hat, so gut es irgendwiegeht.Selbstder
Name des Ich-Erzählers,Tomas Olsen
Myrbråten, lebtFriedrichzufol ge im
Original „von einem Anspielungsreich-
tum, der zwar zu beschreiben,aber
nicht zu übersetzen ist“. Die Anfangs-
buchstaben ergeben unteranderem das
Wort „tom“, das „leer“heißt.
Werdas Buchaufschlägt,kann sich
nicht im Geringsten ausmalen,wasfür
ein Rittfolgenwird. Esgeht nochver-
gleichsweiseamüsant-polternd los:
Myrbråtenschildert,wie ausgerechnet
er,ein Kritiker derKulturbürokratie,
voreinigen Jahrenvomnorwegischen
Kulturministeriumden Auftrag zurBe-
gutachten derKulturdenkmäler des
Landes bekam.Erbeschreibt,wie er
im „staatskorruptionsmäßigen Mietwa-
gen“ dieHeimatabfuhr,über die Inan-
spruchnahmeder Denkmäler durch
die Tourismusindustriestöhnteund zu
demSchlusskam, dassman dieDenk-
mäler„aufgrund des schädlichenEin-
flusses des Geldes liebergeheim“ hal-
tensollte,statt sieweiter zu„Totaler-
lebniszentren“ zu machen.
Fratzen imFern sehen,
vertrocknete Seelen
Dochschon hier istsein Tonmerkwür-
dig. Myrbråtensteigertsich in einen
wahnhaften Redeschwall über das
Leben als „Geistesmensch“, „sogenann-
te Geistesmenschengeräusche“, „geis-
tesmenschlicheProblemausdehnun-
gen“, den „inneren Dämon des Geistes-
menschenzustandes“ und das „Natur-
ausschlussprojekt“,das für ihn, den
Sohn eines Bauern,mit demBesuch
desGymnasiums,dem Umzugindie
Stadt und die Universität begonnen
habe.
Er schimpftund zetert,etwaüber
die Politiker,die er „kraftihrer perver-
senHandlungslähmung und ihresfata-
len Glaubensmangels gegenüber der
Natur und der Jugend sowiegegenüber
derIdentitätder Norweger persönlich
verantwortlich“für die „drogenabhän-
gige Fiktionswelt“macht, in der die Ju-
gend vonheutelebe.
Er meint, in einer„norwegischen,
globalenHölle“ zu leben,umgeben
von„Fratzen imFernsehen“, „vertrock-
neten Seelen,die TrostinKinosund
Gesundheitsstudios“ suchen, in einem
„neufiktivenWeltland“, in dem das Mi-
nisterium gemeinsam mit denUniversi-
täten „alles zu entfernen“ versucht,
„was man als die norwegische, ranzige
Butter bezeichnete“. Das „nationale
Projekt“ würdemit dem „Internationa-
lismus“verschmolzen.
Undauch in seinemGutachten ließ
Myrbråten seinerVerachtung für das
moderneNorwegen alsTeil der „neu
gestarteten ,Weltmaschine‘“ohne
Rücksicht auf dieweiter eKarrierefrei-
en Lauf.„Norwegen hat überhaupt
keine Kultur“, sagteerbei dermünd-
lichenVorstellung derStudie im Büro
der Kulturministerin:„Dieeinzigele-
bendigenorwegische Kultursei die
maßlose,geldsüchtige Jugendkultur.“
Diese bezeichnet er als „einealles-
fressende, geisteskranke,destruktive,
globaleVerschwendungskultur,die
uns erlaubt, alle anderenKulturen zu
verbrauchen, die Geschichtezuver-
schwenden,und die sichvon dieser in-
dustriellen,globalen,kommerziellen
Jugendkultur wie diese anderenKul-
turen aufessen, banalisieren, ver-
brauchen lässt, und dieserextremeKul-
turverbrauchist vonsolcher Art, dass
alle anderen alten, dahinsterbenden
Kulturenglauben,Geld sei ihreeigene
Rettung“.
Wieentkommt man
der Wortmanie?
Die beschimpfte Ministerinlässt ihn
wie einenStaatsfeindaus dem Gebäu-
de entfernen. Dasmach tallesnur
schlimmer.Der verlacht eIntellektuelle
landetinden verhassten Medien,die
ihn dank seiner Beschäftigung mitdem
Norwegischenansichaugenblicklich
zumNeonazi undRassistenabstem-
peln, obwohl er „einverbissener Geg-
ner all dessen“ istund dochalles ver-
acht et:das Nationale,das Staatliche
und dasGlobale.
Er stürzt ab,wirdzum Flaschen-
sammlerund Kneipenstammgast.Und
zieht mit einer ziemlichkaputtenFrau
namens Helene auf denverwahrlosten,
vonoffenenGräbendurchzogenenHof
seiner Kindheit.Nun werden diege-
schildertenSzenen (niedergeschrieben
wohl in einerAnstalt) albtraumhaft,
dreckig, brutal. An solchen Stellener-
weistsich„Das Grabenereignismysteri-
um“ als nicht bloß schwer,sondernfast
garnicht zu ertragendes Buch,selbst
wenn man robuste Antennen fürdas
Derb-Satirische besitzt.
Myrbråtenentledigt sichunter ande-
remseinesgeistesschwachenBruders
Bjørnar.Bevor er–eshat mitdiesem
Verbrechen zu tun, istaber auch der
konsequent eletzteSchritt desVer-
suchs, auf das „Naturausschlusspro-
jekt“ seiner Jugend eine Art„Kultur-
ausschlussprojekt“folgen zu lassen–
im Wald untertaucht.
Hier hofft er,ein „neuer,wiedergebo-
rener, wilderNaturmensch“ zuwerden
und der„Wortmanie“ zu entkommen.
Wasnatürlichnur bedingt funktio-
niert,„weil die Sprachformen nicht
zwingend ein zivilisatorisches Phä-
nomen,wohl aber einNaturphänomen
sind. Wiedie Nachtkälteoder ein
Mückenschwarmist die Sprache ein na-
türlicher Feind!“Bald istMyrbråten
nur nochmit einemFellstückbeklei-
det, Fäkalienklebenihm auf der Haut.
Als Posterbo yder „Zurückzur Natur“-
Bewegung wäre er denkbarunge-
eignet.
Wiewürde sichMyrbråten wohl
beim Lagerfeuertreffenliterarischer
Naturburschen unterh alten,etwa mit
Leutnant Glahn ausKnutHamsuns
„Pan“, mit Isak aus dem„Segen der
Erde“, mit dem Zivilisationsflüchtling
in Erlend Loes „Doppler“oder dem
Wandersmann inTomas Espedals „Ge-
hen oder DieKunst, ein wildesund
poetisches Leben zu führen“? Gar
nicht,grunzend, angeregt gestikulie-
rend oder imStreit?
Den Leser packtbei diesem wüsten
Protokoll ein er Regression, dasneben-
her schildert, wiedie Moderne nach
Norwegenkam(etwa aufden Hofdes
Vaters,der an seinemMaschinenglau-
ben zugrunde ging), nicht selten die
Furcht, vonMyrbråten mit in den
Wahnsinngerissen zuwerden. Manver-
flucht die eigensinnigeSprache desAu-
tors,die einen zurlangsamenLektüre
zwingt, bekommtdie Geschehnisse
und die philosophischen Ergüsse oft
nicht sortiert.
Undtrotzdem will man diese Zumu-
tungvon einem Buch,inder es ir-
gendwie auchnochumdie „Kloakeder
Gesellschaft“geht, in der sich „Geistes-
menschen“ plazieren, um denhisto-
rischen Berufdes Abdeckers, „stinken-
de Gärfuttergrütze“ undGeschlechts-
triebe,nachdem letzten Satzgleich
nocheinmallesen.Weshalb nur? Das
musswohl dasRomanereignismysteri-
um sein. MATTHIAS HANNEMANN
HilaryMantel:
„Spiegel und Licht“.
Roman.
Ausdem Englischenvon
Werner Löcher-Lawrence.
DumontVerlag, Köln 2020.
1098 S., geb., 32,– €.
ThureErikLund:
„Das Grabenereignis-
mysterium“.
Ausdem Norwegischen
vonMatthiasFriedrich.
Literaturverlag Droschl,
Graz 2020. 296 S.,geb.,
23,– €.
Die Geräusche
der Geistesmenschen
Im Roman „Das Grabenereignismysterium“von
ThureErikLund wirdein Intellektuellerverrückt
ThureErikLund FotoAschehoug
Ein Roman macht Geschichte
Hans Holbein der Jüngere, der im neuenRoman vonHilaryMantel oftauftritt, aber nur einmal mit seinemvollen Namen genannt
wird, maltePorträtsvonden Großen derTudorzeit. Hier vier der wichtigstenunter den insgesamt 102Figuren, die dasPersonenregis-
tervon „Spiegel und Licht“ auflistet:oben linksKönig HeinrichVIII. im Jahr 1537, als seine vierte Frau, Jane Seymour (obenrechts),
nachnur einem Jahr Ehe nurwenigeTagenachder Geburtdes gemeinsamen Sohns Edward(unten links, 1538)starb. VonThomas
Cromwell, HilaryMantels Hauptprotagonisten, hat sichHolbeins einziges bezeugtesPorträt(entstanden zwischen 1532 und 1534)
nicht erhalten.Aber es gibt davon drei nurwenig spätervonanderen Händen angefertigteKopien, deren beste heuteinder NewYor-
kerFrick Collectionhängt (untenrechts). ImRoman sagt Hans Holbein zu Cromwell: „Bei Ihnen habe ichversagt. Sie hättenvon
einem anderen Meistergemaltwerden sollen, einemtoten, denn Gottweiß, Sie wirkten wietot.“. FotoArchiv
HilaryMantelschließt
mit„Spiegel undLicht“
ihre Trilogi eüber die
Tudor-Zeit ab .Ihr
ThomasCromwell ist
eineder großartigsten
Schöpfungender
jüngeren Literatur.