Berliner Zeitung - 18.03.2020

(Axel Boer) #1
Berliner Zeitung·Nummer 66·Mittwoch, 18. März 2020–Seite 11*
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B e rlin


Ignorant:DiePolizeihat41Lokalegeschlossen,indenentrotzVerbotsgefeiertwurde Seite 12


Innovativ: DieBerlinerClub-SzeneentdecktdasStreamenundfeiertdiePartyimNetz Seite 13


Berlinigeltsichein


DienstagwarderletzteTagmiteinemHauchvonNormalität.Jetztistvielesanders


VonKatrin Bischoff

I

ndem Laden, in dem sonst in
der Berg mannstraße in Kreuz-
bergitalienische Schuhever-
kauft werden, liegt an diesem
DienstageinbeschriebenesBlattPa-
piervoreinereinsamenrotenStiefe-
letteimSchaufenster.DasSchreiben
ist an die „LiebenKundinnen und
Kunden“ gerichtet. „Aus aktuellem
Anlass werden wir für einigeTage
schließen.Sorgen Siegut für sich
und andere, bis wir uns wiederse-
hen“, steht darauf.DerText endet
mit demWunsch. „BleibenSiege-
sund!“.DasGeschäftistgeschlossen.
Aufder sonst so trubeligenBerg-
mannstraße istwenig los an diesem
Tag, der vordem wirklichenShut-
downliegt.EsistderletzteTag,bevor
alle nicht systemrelevanten Ge-
schäfte schließen müssen.DieTou-
risten, die sonst dieBoutiquen und
Geschenkelädenbevölkernundauch
durch dieMarheinekehalle schlen-
dern,sindindenverg angenenTagen
immer weniger geworden.Nunfeh-
lensiescheinbarvollständig.

Markthallebleibtgeöffnet
Vordem Café Atlantic sitzen drei
junge Leute an denTischen in der
Sonne und lassen sich das späte
Frühstück schmecken. Wo man
sonst bei diesem frühlingshaften
Wetter keinenPlatz mehr in den
Straßencafés bekommen hätte,
herrscht Flaute –Coronavirus-
Flaute.Bars wie dasTurandot sind
„aus gegebenem Anlass“ schon seit
demWochenendegeschlossen.
Gundula Hoburgist damit be-
schäftigt, die nächstenTage zu orga-
nisieren.Hoburgist Geschäftsführe-
rinbei„HerrlichMännergeschenke“,
einem nicht „systemrelevanten La-
den“.IhrGeschäftistkeinLebensmit-
telladenundkeineDrogerie ,dietrotz
Coronakrisegeöffnetbleibendürfen.
In denRäumengibtesoriginelleAc-
cessoires,die durchaus auchFrauen
begeisternkönnen. Biszu2 00 Kun-
denkaufenangutenTagenbeiihrein.
HeuteistkeinguterTag.
„Wir werden ab morgen schlie-
ßen“, sagtHoburg. Obwohl sie bis-
her noch nichts Schriftliches in der
Handhabe ,dassiezudiesemSchritt
veranlasse.„Wirwissenallesnuraus

den Medien“, sagt sie.Wie lange ihr
Geschäft geschlossen bleibe,das
wisse sie nicht.Zumindest bisFrei-
tagwerdenocheinerderfünfMitar-
beiter für einigeStunden imGe-
schäftsein,umdiebestelltenWaren
entgegenzunehmen.„Essollkeinem
gekündigtwerden,wir versuchenes
mit Kurzarbeit“, sagtGundula Ho-
burg. Manwolle Steuernstunden
und mit demVermieter reden. So
könne man durchhalten. „Maximal
einenMonat“,sagtHoburg.
In der Marheinekehalle gehtMi-
chaelReimannamMittagvonStand
zu Stand.„DieMarkthalle bleibt als
Markthalle offen“, sagt derCenter-
manager derBlumenfrau, die er-
leichtertwirkt.AlleHändlerwürden
jedochvonderÖffnungspflichtent-
bunden. „DieMieter können selbst
entscheiden, wann sie schließen
wollen“,soReimann.
Vonder an sich gutenNachricht
hat SehmeranAdler nicht viel.Seit
eineinhalbJahrenbetreibtsie„Mein
lastMinuteReisebüro“inderMarkt-

halle.Das Zwei-Mann-Unterneh-
menhabesichetabliert,sagtdie48-
Jährige .Und nun das:Deutsche
dürften nicht mehrreisen, nicht ins
Ausland, und nicht inDeutschland.
Am Montag seien alleReisen bis
31.Mär zvonden Reiseveranstaltern
stornier tworden.„Dasisthart“,sagt
die alleinerziehendeMutter.Denn
statt Geld zu verdienen, müsse sie
nunGeldzurückzahlen.WodieReise
hingehe,könnesienichtabschätzen.
„Ichkommemirvor,alswennichauf
derAutobahnmitmeinemAutound
hoherGeschwindigkeitaufeineUn-
fallstellezusteuere,ohnebremsenzu
können“, sagt dieReisekauffrau.Sie
hoffeinständig,dassimMaiallesgut
werde. Es klingt nicht so,als würde
sie daran glauben.BisEnde April
könne sie maximal durchhalten,
wennsiekeineHilfebekomme.
Beim Geschäftsführer desHan-
delsverbandes,NilsBusch-Petersen,
klingeltandiesemDienstag–wieer
sagt–unentwegtdasTelefon.Busch-
Petersenerklärt,dieSchließungaller

nicht für dieVersorgung notwendi-
gen Geschäfte treffe die Händler
„brachial und mit großerGewalt“.
Einfache Händler müssten unbe-
dingtZuschüssevomStaaterhalten.
Es gelte alles zu tun, damitBerlin
eine lebenswerteStadt bleibe.„Vor
allem aber muss derSenat seine
Exitstrategie offenlegen, sagen, ab
welchen Fallzahlen das Leben wie-
dernormalvonstattengehenkann.“
In dem EinkaufscenterMall of
Berlin ist dieUnsicherheit groß, die
HändlerwartenaufeinZeichendes
Managements,daswiederumistauf
konkreteAussag ende sSenatsange-
wiesen. Bei„Einblick Optik“ lässt
sicheinejungeFrauvomOptikerdie
Brille richten, da mit die Brille nicht
mehr rutscht und sie sich nicht im-
mer insGesicht fassen muss.„Seit
einpaarTagenkommenwenigKun-
den“,sagtderOptiker.Erw issenicht,
was nun passiere, gibt er dann zu.
Dass der Staat dieUnternehmer,
auchdiekleinen,unterstützenwolle,
finde er gut. „Aber der Staat ver-
spricht viel.Malsehen, was beim
kleinenUnternehmerankommt.“

EinkaufenaufdenletztenDrücker
DieAnzahlderMenschen,diedurch
dieMalllaufen,istüberschaubar.Die
meistenholensicheinenMittagsim-
biss,wenigenutzendievorerstletzte
Möglichkeit zum Einkauf. Claudia
Wieser kommt mit zweiEinkaufsta-
schen aus der Ladenstraße.Sie hat
Schuhefürihre13-jährigeTochterge-
kauft,Druckerpatronen,eineMouse,
ein Keyboard. Aufden letztenDrü-
cker,wiesiesagt.„Ichbingesternerst
ausdenUSAzurückgekommen“,er-
zähltsie .WieseristKünstlerin.InOm-
aha habe sie eineAusstellung in ei-
nem Museum aufgebaut mit ihren
Rauminstallationen undSkulpturen.
DieSchau sollte am Donnerstag er-
öffnetwerden,dochdie Museensind
auchindenUSAwegendes Corona-
virusgeschlossen.
Die46-Jährige macht sich nicht
um sichSorgen.Sie habe schon gut
verdientindiesemJahr.Siesorgtsich
vielmehr um viele Künstlerkollegen
und hofft auf eine großeSolidarität.
ClaudiaWieser wi ll noch in eine
Buchhandlung,Lesestoffkaufen.Sie
sagt, man werdedemnächst wohl
vielZeithaben.

Einsam auf demweiten, leerenPotsdamer Platzwartet eine Kartenverkäuferin für Stadtrundfahrten. BLZ/MARKUS WÄCHTER

AUSNAHMEN VON DER SCHLIEßUNG

Bleibengeöffnet:Lebens-
mittel- und Getränkeläden,
Bäcker,Wochenmärkte, Spä-
tis,Abholdienste, Bau- und
Gartencenter,Apotheken,
Drogerien,Tankstellen, Ban-
ken, Poststellen, Zeitungs-
und Buchläden,Tierbedarf,
Bestattungsunternehmen,
Läden für Handwerksbedarf.

Gastronomie:Berlin hat
Bars und Clubs schon am
Wochenendegeschlossen.
Gaststätten dürfen in der
nächsten Zeit nur zwischen
6und 18 Uhr öffnen. Diese
Einschränkungen sollen ab
Mittwoch zunächst bis zum
19.April, dem Ende der Os-
terferien,gelten.

Infizierte:In Berlin sind mit
Stand Montag,16.30 Uhr,
332 Fälle des Coronavirus
bestätigt, teilte die Gesund-
heitsverwaltung mit. 188
Personen sind männlich,
144 weiblich. Im Kranken-
haus isoliertund be handelt
werden 20Personen, davon
drei auf der Intensivstation.

332

283
263

158
118
81

9 13 19
1









































Entwicklung der
Berliner Corona-Fälle
im März 2020

BLZ/GALANTY;Q

UELLE:S

ENATSVERW. FÜR GESUNDHEIT

Single in


der Krise


I


neinerWochesolltederUmzug
sein.TelAviv-Berlin.Zwei Tage
später wollten wir zurückfliegen,
meinMannundich,nachzweiJah-
reninI srael. Aber ich binvorg eflo-
gen,umdieWohnungrenovierenzu
lassen, und jetzt komme ich nicht
mehrzuihm,underkommtnichtzu
mir.Esg ibtkeineFlügemehr,schon
gar nichtwelche,die unserenKater
mit an Bord nehmen.Undlangsam
begreifenwir,dassdiesesLebenzum
Dauerzustandwerdenkönnte.
„Ichmöchte,dassdunachHause
kommst.Werweiß, was noch alles
passiert“, schreibe ich. „Ich habe
eine Reservierung in zweiWochen,
aber dasReisebüroweiß nicht, ob
derFlugnichtauchgestrichenwird.“
SoverlaufenauchunsereTelefonate.
Immer wieder dieselbe hoffnungs-
volle Frage,obesetwas Neues gibt,
immer wieder dieselbe Antwort:
Nichts.Morgenvielleicht.Wirerzäh-
lenuns vonunseremAlltag.Wiedas
öffentliche Leben langsam zumEr-
liegen kommt und sich dieMen-
schendagegenstemmen.Nochein-
mal zumStrand gehen(Tel Aviv),
nochmal imVolksparkfeiern(Ber-
lin).Kneipenkontrollenhier,Handy-
Tracking dort.Welche Läden über-
haupt noch aufhaben, wie es unse-
renMütterngeht und denKindern.
ErschicktFotosvomKaterundvom
Strand.IchschickeBildervomabge-
zogenen Fußboden und den frisch
gestrichenenWänden.
ZumGlück sind dieBaumärkte
offen. ZumGlück kommen die
Handwerker.Sie laufen um mich
herum wie um einenGegenstand.
Ichsitzemit zwei Bildschirmen am
Küchentisch,weilmeinSchreibtisch
noch in TelAviv steht und tippe ein
Magazin-Interview ab.Statt zwei
StundenistesvierStundenlangge-
worden. DerFernsehsender,der
nach mir kommen sollte,musste in
Quarantäne,meine Interviewpart-
nerhattenaufeinmalsehrvielZeit.
Es kommt mirvor, als hätte ich
dasInterview vorJahrengeführt,da-
bei ist es nur ein paarTage her .Ge-
radefragtmicheinVerlag,obichdas
nächsteInterview perSkype führen
kann. DieGesprächspartnerinnen
ausLondonkönnennichtanreisen.
DieMalersindjetztimBadange-
kommen. Ichgebe ihnen immer
mehr Aufträge,die Wohnung wird
mir immer wichtiger,sie ist mein
Domizil, meine Höhle,ind er ich
mich beiAusgangssperreverkrie-
chen muss.Ich lege denHandwer-
kernans Herz,beim Fußbodenab-
schleifenMasken aufzusetzen.Co-
rona, fragen sie und lachen.Nein,
Feinstaub,antworte ich.DerChef
sagt, es habe keinen Sinn, seine
Leuteweigertensichschlicht.Dabei
habeernocheinpaarHundertMas-
kenimLager.
Gutzuw issen, denke ich und
frage mich, was es noch alles so zu
erledigen gibt.Wegen derMasken-
vorräte,aberauch,weilesmit Hand-
werk ernimH aus nicht ganz so ein-
samist. ZumAnfanghabensienoch
stillvorsichhingearbeitet.Jetztma-
chen sieMusik an, polnischeVolks-
musik.Undsingenmit,schönlaut.


MorgenimHomeoffice:Sabine Rennefanz
mit einemMann, zwei Kita-Kindern und fünfBild-
schirmeninB erlin- Pankow.


Homeoffice


AnjaReich
freut sich über die
fröhlichen Handwerker
in ihrerWohnung.

NACHRICHTEN


Spielplätze bleiben offen,
Zoo vorerst geschlossen

SpielplätzeundZoosdürfeninBerlin
angesichtsderCoronakrisegeöffnet
bleiben–entgegendervonderBun-
desregierungunddenLändernerar-
beitetenLeitlinien.„WeilinderGroß-
stadtnichtjedesHauseinenGarten
hatundKinderinkleinenWohnun-
gennachWocheneinfachkrankwer-
den“,twitterteKultursenatorKlaus
Lederer(Linke).IndensozialenMe-
dienkritisiertenNutzerdi eEntsc hei-
dungzumTeilmitdrastischenWor-
ten:„DaswirdrisikobehafteteEltern
töte n.“KalayciempfahlEltern,auf
SpielplätzendenempfohlenenMin-
destabstandeinzuhaltenundauch
ihreKinderdazuanzuleiten.Senats-
sprecherinMelanieReinscherklärte,
dasssichBundundLandesregierun-
gengemeinsamaufdieLeitlinienge-
einigthätten.Aber:„DieAusgestal-
tungdieserLeitlinieobliegtdenLän-
dernundistländerspezifisch.“Berlin
seikein Flächenland,esgebekaum
FamilienmiteigenemGarten.Der
BerlinerZoowurdeam Dienstag vom
Entschluss desSenatsüberrascht–
ZooundTierparkhattenpräventiv
bereitsamDienstagmorgenihrePfor-
tengeschlossen.Manfreuesi chzwar
überdieAnerkennungalsNaturort
imurbanenRaum,teilteder ZooBer-
linauf NachfragedieserZeitungmit.
„Wirwägendennochsorgfältigunser
weiteres Vorgehenab“,soeinSpre-
cher .BisdahinbliebenZooundTier-
parkgeschlossen. (ann.)

Viele Anrufer haben Angst
vor Einsamkeit

DieBerlinerTelefonseelsorgenver-
zeichnetdeutlichmehrAnrufe:„Die
Zahlder GesprächezumThemaCo-
ronahatdrastischzugenommen“,
sagteBettinaSchwabvonderBerliner
Telefonseelsorge.Etwajedesvi erte
GesprächdrehesichumdasVirus
unddie Folgen.„DieMenschenha-
benvorallemAngstvorderEinsam-
keit“,soSchwab.Ähnlichesberichtet
auchdieInitiatorin vonSilbernetz,
ElkeSchilling.DieHotlinerichtetsich
vorallemanältere,einsameMen-
schen.„BeivielenistjetztdieAngst,
alleinzusterben,ganzgroß.“DieTe-
lefonseelsorgeistzuerreichenunter
derNummer08001110111,Silber-
netzunter03023544820. (dpa)

Arbeitsämter lockern
Regeln für Arbeitslose

UmdieTelefonnetzederArbeitsäm-
terzuentlasten,hatdieRegionaldi-
rektionderBundesagenturfürArbeit
mehrer ePflichtenfürdieKunden
aufgehoben.SomüssenArbeitslose
absofor tnichtmehranrufen,um
wegendes CoronavirusihrenTermin
beidenÄmternabzusagen.Zudem
werdenFristeninLeistungsfragen
derzeitausgesetzt–etwaTermine,
biszudenenKundenUnterlagen
nachreichenmüssen. (dpa)

Der Zoo bleibt zu.Vorerst nur Online-Be-
suche bei denPanda-Bärchen. AFP
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