Die Welt - 07.04.2020

(John Hannent) #1

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07.04.20 Dienstag, 7. April 2020DWBE-HP



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DIE WELT DIENSTAG,7.APRIL2020 POLITIK 5


P


atchworkmutter Claudia Weber
befindet sich jetzt seit mehr als
einer Woche in Quarantäne. Ihr
Sohn Kasper, neun Jahre, hat Husten
und Fieber. „Wenn es Corona nicht gä-
be, würde ich denken, er habe einen
grippalen Infekt“, sagt Weber, 44 Jahre,
leitende Mitarbeiterin in der Personal-
aaabteilung eines großen Unternehmens.bteilung eines großen Unternehmens.
So aber hat sie sich freiwillig in Quaran-
täne begeben. „Denn was ist, wenn er
nun doch Corona hat und ich meine Kol-
legen anstecke? Das Risiko wollte ich
nicht eingehen.“

VON FREIA PETERS


WWWebers Entscheidung hat noch ganzebers Entscheidung hat noch ganz
andere Konsequenzen, denn auch We-
bers Partner Stefan Frier lebt mit ihr und
ihrem Sohn in der Berliner Wohnung.
Und dessen Sohn Malte, fünf Jahre, darf
nun seinen Papa nicht besuchen, zu groß
ist die Ansteckungsgefahr. Also muss
Malte bei seiner Mutter bleiben, die
nicht gerade begeistert ist von der Dau-
erbetreuung. Und auch Frier selbst fängt
langsam an zu maulen. Kasper sei be-
stimmt nicht an Corona erkrankt, er ver-
misse seinen Malte, und der solle sie nun
endlich wieder besuchen dürfen. „Mein
Freund verkennt das Risiko“, findet
Claudia Weber. „Und außerdem weiß ich
nicht, wie ich arbeiten soll, wenn hier
noch ein Fünfjähriger durch die Woh-
nung hüpft.“ Ihren eigenen Alltag be-
kommt Weber im Homeoffice so gerade
eben gestemmt. Aber ein zusätzlicher
Fünfjähriger?
So wie Weber geht es derzeit vielen
Patchworkfamilien. Die Ausgangsbe-
schränkungen bringen den Rhythmus
vieler Trennungskinder durcheinander.
Es gibt die Aufforderung der Bundesre-
gierung und des Robert-Koch-Instituts,
den Kontakt auf die Kernfamilie be-
schränkt zu halten. Was aber tun, wenn
sich im Leben eines Kindes permanent
zzzwei Kernfamilien mischen?wei Kernfamilien mischen?
Die Mandanten von Mathias Grandel,
Fachanwalt für Familienrecht in Augs-
burg, stellen momentan viele Fragen. Da
ist etwa der Vater, der der Mutter die
Reise mit dem Kind zu den Großeltern
nicht gestatten will. Unter normalen
Umständen könnte die Mutter das selbst
entscheiden, denn es ist eine Alltagsent-
scheidung, die sie selbst fällen kann,
wenn sich das Kind bei ihr aufhält. Nun
aaaber wird die Reise zu den Großelternber wird die Reise zu den Großeltern
womöglich zu einer grundlegenden Ent-
scheidung. Was, wenn das Kind die Groß-
eltern infiziert und sie schwer erkranken
oder sich das Kind selbst auf der Reise
ansteckt? „Da wird es derzeit viele Streit-
fffragen geben, wenn sich ein Elternteilragen geben, wenn sich ein Elternteil
unvernünftig verhält“, glaubt Grandel.
Die Konflikte seien vielfältig. Einige
Eltern wollten in dieser schul- und kita-
fffreien Zeit den Ex-Partner zwingen, dasreien Zeit den Ex-Partner zwingen, das
Kind zu nehmen, um sich selbst von der
Dauerbetreuung zu befreien. „Zwar hat
normalerweise jeder Elternteil nicht nur
das Recht, sondern auch die Pflicht zum
Umgang“, sagt Grandel. „Aber so ein
ZZZwang wird rechtlich nicht vollstreckbarwang wird rechtlich nicht vollstreckbar
sein.“ In anderen Familien bestehe etwa
die Gefahr, dass das Coronavirus als Vor-
wand benutzt wird, um das Kind nicht
zum getrennt lebenden Elternteil lassen
zu müssen. Darf ein Elternteil beschlie-
ßen, dass das Kind nicht mehr zum ande-
ren gelassen wird? „Ich meine, der Um-
gang des Kindes beim getrennt lebenden
Elternteil muss weiterhin stattfinden“,
sagt Grandel, Vizevorsitzender des Deut-
schen Familiengerichtstages. „Bayern
hat ja bislang die schärfsten Regelungen,
was eine Ausgangsbeschränkung angeht,
doch Ministerpräsident Markus Söder
hat betont, dass geschiedene Elternteile
ihre Kinder besuchen dürfen.“ Eine klare
Rechtslage gebe es aber nicht. Schließ-
lich solle der Kontakt im öffentlichen
Raum vermieden werden. Wie kommt
das Kind also zum getrennt lebenden El-
ternteil, wenn die Mutter oder der Vater
weiter weg wohnt oder nur mit öffentli-
chen Verkehrsmitteln zu erreichen ist?
AAAuch eine Ausgangssperre oder Qua-uch eine Ausgangssperre oder Qua-
rantäne würde die Situation ändern.
Dann müsste das Kind bei dem Elternteil
verbleiben, bei dem es sich derzeit befin-
det. „Eigentlich müsste die verlorene
Umgangszeit dann nachgeholt werden“,
sagt Grandel, „doch das ist schon in nor-
malen Zeiten oft eine Streitfrage, wenn
etwa das Kind krank wird.“ Meist will der
getrennt lebende Vater seine entfallene
Zeit mit dem Kind nachholen. Die Mutter
aaaber argumentiert, nun endlich wiederber argumentiert, nun endlich wieder
Zeit mit dem gesunden Kind verbringen
zu wollen. Wer hat recht? Da hilft nur der
Gang vors Gericht und die Entscheidung
des Familienrichters. Doch der ist im
Moment verstellt. „Die Familiengerichte
halten derzeit keine mündlichen Ver-

handlungen mehr ab“, sagt Grandel. „Es
werden nur Eilverfahren durchgeführt.“
AAAuch Patchworkmutter Katja Rozans-uch Patchworkmutter Katja Rozans-
ki war unsicher, ob sie ihre Tochter Pau-
la, neun Jahre, in der jetzigen Situation
zum Vater geben soll. „Ich habe über-
legt, mich aber dann dafür entschieden“,
sagt Rozanski. „Es ist mir sehr wichtig,
dass der Kontakt zwischen Vater und
Tochter nicht abbricht.“ Sie müsse nun
darauf vertrauen, dass Paula während
ihrer Zeit beim Vater nicht mit anderen
in Kontakt komme. Mit der Ex-Frau ih-
res Lebensgefährten klappt die Kommu-
nikation besser. Erik Tschäpe hat Toch-
ter Heidi, sieben Jahre, aus erster Ehe.
Heidis Mutter wohnt schräg gegenüber,
und den Nachmittag verbringen Ro-
zanskis Tochter Paula und Tschäpes
Tochter Heidi oft zusammen. Heidis
Mutter geht mit den Mädchen in den
WWWald, während Rozanski arbeitet oderald, während Rozanski arbeitet oder
aaaber ihre kleinste Tochter Thea (19 Mo-ber ihre kleinste Tochter Thea (19 Mo-
nate) betreut. Mit Heidis Mutter ist alles
genau abgesprochen. Die Mädchen dür-
fffen zwischen Mutter und Stiefmutteren zwischen Mutter und Stiefmutter
pendeln, sonst aber niemanden sehen.
„Es ist einerseits auch ein Glück, dass
die beiden sich haben, sie würden sonst
vor Langeweile sterben“, sagt Rozanski


  • auch wenn es natürlich Zeiten mit
    Konflikten und Lagerkoller gebe.
    Denn der Alltag zu Hause sei für alle
    anstrengend. „Meine große Tochter hat
    noch nicht richtig verstanden, dass keine
    Ferien sind, sondern sie lernen muss“,
    erzählt Rozanski am Telefon in der Mit-
    tagspause. Zeit zum Telefonieren hat sie
    sonst nicht. Vormittags macht sie meist
    Hausaufgaben mit den beiden großen
    Mädchen, während ihr Partner versucht,
    die gemeinsame kleine Tochter abzulen-
    ken, damit die großen Schwestern in Ru-
    he lernen können. Rozanski selbst muss
    derzeit oft für erkrankte Kollegen ein-
    springen, sie arbeitet in einer Wohnein-


richtung für psychisch Kranke. Wäre ein
Bewohner infiziert, müsste sie sofort in
QQQuarantäne gehen. „Der Druck istuarantäne gehen. „Der Druck ist
enorm, dass ich selber leistungsfähig
bleibe“, sagt Rozanski. Allein durch ihren
Job ist auch das Risiko für Paulas Vater
größer, sich anzustecken, wenn seine
Tochter ihn weiterhin besucht.
„Die Sorge um das Kind ist verständ-
lich, wenn etwa ein Elternteil in einem
systemerhaltenden Beruf tätig ist und
weiterhin mit vielen Leuten in Kontakt
steht“, sagt Sabine Walper, Psychologin
und Forschungsdirektorin des Deut-
schen Jugendinstituts. „Wenn jedoch
beide Eltern im Homeoffice arbeiten, se-
he ich wenig Grund, den Kontakt zu bei-
den Elternteilen nicht wie üblich auf-
rechtzuerhalten.“ Zwar hat die Forsche-
rin noch keine Zahlen, aber dass die Si-
tuation zu mehr Spannungen in Patch-
workfamilien führe, sei zu erwarten.
„„„Wir wissen, dass bei getrennten ElternWir wissen, dass bei getrennten Eltern
das Risiko erhöht ist, dass der Umgang
des Kindes beim anderen mit Argwohn
begleitet wird“, sagt Walper. „Je mehr die
Ängste steigen, desto größer wird auch
das Misstrauen.“ Der begleitete Umgang,
den einige Kinder etwa wegen des Risi-
kos einer Misshandlung nur zu einem El-
ternteil haben dürfen, werde derzeit viel-
fffach ausgesetzt. „Es mangelt hier auchach ausgesetzt. „Es mangelt hier auch
an Sachbearbeitern des Jugendamtes, die
die Begleitung derzeit übernehmen.“
Gleiches gelte für den Besuch von
Heimkindern bei ihrer Herkunftsfamilie.
„Das ist natürlich hart für die Kinder.“
Entscheidend sei, gesundheitliche und
sonstige Risiken gegeneinander abzuwä-
gen. Es gebe viele Wege, um miteinander
Kontakt zu haben. „Natürlich ist es nicht
dasselbe wie ein Treffen und eine Umar-
mung, aber ein Telefonat per Skype kann
doch ein bisschen auffangen.“ Die Coro-
na-Krise werde vermutlich auch die Digi-
talisierung in der Familienhilfe voran-
bringen. „Plötzlich merkt man, dass
auch eine Beratung oder sogar eine Psy-
chotherapie per Videoübertragung funk-
tioniert“, sagt Walper. „Da werden wir
möglicherweise bald ganz neue Angebo-
te machen können.“ Bleibt zu hoffen,
dass der Bedarf nach der Krise nicht
sprunghaft ansteigt.

Patchworkfamilien geraten


an ihre Grenzen


Homeoffice und Pendelei zerren an den Nerven


Patchworkfamilie: Erik Tschäpe und
KKKatja Rozanski mit den Kindern Paulaatja Rozanski mit den Kindern Paula
(((9), Heidi (7) und Thea (1)9), Heidi (7) und Thea (1)

LARS BERG

/LARS BERG

det. Der Pflegeschutzbund Biva ver-
sucht, Angehörigen Orientierung zu ge-
ben. „Aber selbst wir haben Mühe hin-
terherzukommen“, sagt Sprecher David
Kröll. Seit etwa zweieinhalb Wochen ge-
be es einen Ansturm von verzweifelten
Angehörigen auf das Beratungstelefon.
Zu Beginn der Corona-Krise galt vie-
lerorts die Regel: pro Bewohner maxi-
mal ein Besucher täglich für eine Stun-
de. Inzwischen wurden die Regeln auf
Landesebene fast überall verschärft.
Den Pflegeschutzbund erreichen zudem
Berichte, nach denen Bewohner Heime
nicht mehr verlassen dürfen. „Das ist ei-
ne freiheitsbeschränkende Maßnahme,
die nur ein Gericht anordnen darf oder
das Gesundheitsamt im Zuge von infek-
tionsschützenden Maßnahmen“, kriti-
siert Kröll.
Seit dem 18. März führt der Pflege-
schutzbund eine Umfrage unter den
Ratsuchenden durch. 495 Menschen
nahmen innerhalb weniger Tage an der

nicht repräsentativen Befragung teil.
Knapp 90 Prozent berichten in einer
Zwischenauswertung, die WELT vor-
liegt, dass sie ihre Angehörigen derzeit
nicht besuchen können, und knapp
50Prozent, dass es eine Ausgangssperre
für die Bewohner gibt. Die Teilnehmer
schildern, wie sie die Situation erleben.
„Meine Mutter liegt im Sterben und
hat noch zwei bis drei Tage. Der Besuch
von ihrem Mann und Töchtern ist un-
tersagt. Die einzige Verbindung ist die
Hausärztin.“ – Bayern
„Wir haben seit mehr als zehn Tagen
versucht, einen Verantwortlichen zu er-
reichen, der Auskunft über das Befinden
meines 93-jährigen Vaters gibt. Alle
werden am Telefon direkt abgewiesen.“


  • Baden-Württemberg
    „Mein Vater hat keinerlei Angst da-
    vor, am Coronavirus zu sterben, er hat
    sein Leben gelebt, sagt er. Aber in zu-
    nehmender Isolation und Unpersön-
    lichkeit dort eingepfercht zu sein, ist für
    ihn das Allerschlimmste, und ich be-
    fürchte leider, dass genau das ihn bald
    umbringen wird.“ – Hamburg
    Nun aber den Einrichtungen einfach
    Schuld zuzuweisen, sei nicht richtig,
    sagt Kröll: Die Verunsicherung sei rie-


V


or der Epidemie hatte Ur-
sula D.*, 95, gute und
schlechte Tage. An schlech-
ten Tagen kam es vor, dass
ihre Kinder sie nachmittags
um fünf schlafend im Bett fanden. D.
wachte auf, blinzelte, sah nach links,
nach rechts und sagte: „Ach, ich bin ja
noch da.“ Und dann, verärgert: „Schade,
ich dachte, ich wäre gestorben.“ Ihre
Kinder kannten das schon, kein Grund
zur Sorge, wie Tochter Sibylle D. er-
zählt. Der Moment verflog, die Stim-
mung hob sich rasch. „Mensch, Mama“,
sagten sie dann, „iss mal was.“

VON LUISA HOFMEIER, ELKE BODDERAS


UND FRANZISKA VON HAAREN


Das war, bevor das Coronavirus Ur-
sula D. auf unbestimmte Zeit von der
Außenwelt abschnitt. Am 13. März erließ
das Land Hessen eine Verordnung, nach
der Besuche von Angehörigen strikt ver-
boten sind – jeder unbedachte Kontakt
gefährdet nicht nur das Leben der Mut-
ter, sondern das aller Bewohner. In den
meisten Bundesländern gibt es ähnliche
Regelungen.
Wie hoch das Risiko ist, zeigt der Fall
eines Pflegeheimes in Wolfsburg, in
dem 22 Menschen an Corona starben.
Dem Robert-Koch-Institut zufolge liegt
das Alter der an Covid-19 Verstorbenen
in Deutschland durchschnittlich bei 80
Jahren. Bei aller Notwendigkeit führt
die Isolierung aber zu einer verschärf-
ten Corona-Einsamkeit. Und Einsam-
keit macht krank.
„Gerade im hohen Lebensalter haben
die Kontakte zu den Familien eine sehr
große Bedeutung für die Aufrecht-
erhaltung von Wohlbefinden und Le-
bensqualität“, sagt der Institutsleiter
für Gerontologie – der Alterswissen-
schaft – in Heidelberg, Andreas Kruse.
Erschwerend komme hinzu, dass im Al-
ter die Psyche eine stärkere Bedeutung
für die Gesundheit habe.
Einige der Risiken: Zurückbildung
von Muskelgewebe und damit eine Ver-
ringerung des Vermögens, zu stehen
und zu gehen, Angststörungen, Schlaf-
störungen, Appetitlosigkeit, Abbau von
kognitiven Fähigkeiten, depressive Zu-
stände und eine erhöhte Schmerzanfäl-
ligkeit. „Wenn sich jemand anhaltend
einsam fühlt, dann ist die Gefahr einer
Verschlechterung der Gesundheit er-
heblich erhöht. In letzter Konsequenz
kann das lebensverkürzend wirken.“
Genau darum sorgen sich auch die
drei Kinder, zwei Söhne und Tochter Si-
bylle, von Ursula D. Die 95-Jährige lebt
im Taunus, ein elegantes Seniorenstift,
betreutes Wohnen, es gibt ein Restau-
rant, ein Fitnessstudio, einen Kinosaal,
jeder Einwohner hat sein eigenes Apart-
ment. Für alles ist gesorgt, trotzdem
schaut Tochter Sibylle normalerweise
täglich bei ihrer Mutter vorbei.
„Sie braucht das“, sagt die 65-Jährige,
„die Besuche sind das Lebenselixier
meiner Mutter.“ Die Abschottung des-
wegen ein Schock. Der Familienrat tagt,
der Sohn ruft den Anwalt an. Ob denn
das Besuchsverbot mit den Grundrech-
ten vereinbar sei?
Zumindest dürfen die Gesundheits-
behörden zum Infektionsschutz Ver-
ordnungen zu Besuchen für bestimmte
Einrichtungen erlassen. In der Bundes-
republik hat sich so über die vergange-
nen Wochen ein Flickenteppich gebil-

sig, lange seien die Heime mit schwer-
wiegenden Entscheidungen alleingelas-
sen worden. Besonders schwierig sei die
Situation, weil es wiederum Angehörige
gebe, die sich strengere Maßnahmen
wünschten. Viele Einrichtungen ver-
suchten, kreative Lösungen zu finden,
und täten ihr Möglichstes.
Sowohl Kröll als auch der Altersfor-
scher Kruse sehen die Heime in einem
fast unauflösbaren Dilemma, Tenor: Die
Maßnahmen sind richtig, solange sie
auch verhältnismäßig sind – aber sie ha-
ben einen Preis.
Kruse zufolge führt Isolation aber
nicht direkt zu Einsamkeit, sondern zu
dem „Gefühl: Ich bin vergessen; das Ge-
fühl: Ich bin nicht mehr Inhalt des Le-
bens und der Gedanken anderer Men-
schen“. Briefe, Telefonate und digitale
Medien seien entscheidend. „Die Ange-
hörigen haben eine riesige Verantwor-
tung. Es reicht nicht, mal kurz anzuru-
fen. Es müssen lange Gespräche sein, in

denen die Familie auf die emotionale Si-
tuation des Menschen eingeht.“
Doch die Nutzung von digitalen Me-
dien stellt Heime vor Herausforderun-
gen: Geräte und WLAN sind nicht über-
all verfügbar. „Wir fordern schon lange
die Digitalisierung in Heimen“, sagt
Kröll vom Pflegeschutzbund. „Wenn
man das vorher angegangen wäre, wäre
die Lage jetzt auch eine andere.“
Wie die Betreiber nun versuchen, den
Rückstand aufzuholen, zeigt das Bei-
spiel eines Heimes im rheinland-pfälzi-
schen Grünstadt: Hätte Jörg Gaißer vor
vier Wochen jemand gesagt, dass er
Tablets bestellen würde – er hätte der
Person einen Vogel gezeigt, sagt er.
Aber seit die Corona-Krise das Land im
Griff hat, sind Skype und FaceTime un-
abdingbar für den Leiter des „Hauses

am Leininger Unterhof“. Denn die 100
Bewohner dürfen keinen Besuch emp-
fangen – obwohl das Land in seiner Ver-
ordnung den Besuch von Ehepartnern
und Lebensgefährten eigentlich erlaubt.
„Grundsätzlich lassen wir nur Besu-
che zu, wenn es aus ethischen Grün-
den geboten ist, sprich, wenn Men-
schen im Sterben liegen oder sich der
Zustand deutlich verschlechtert“, sagt
Gaißer. Das Risiko sei einfach zu groß,
dass Besucher das Virus ins Heim tra-
gen könnten.
Die Maßnahmen sind allerdings per-
sonalintensiv: „Während des Telefonats
ist immer einer unserer Pfleger dabei,
damit sie einspringen können, falls es
technische Probleme gibt.“ Zudem kön-
nen Verwandte von Bewohnern ihnen
auch E-Mails schicken, die dann vorge-
lesen werden. Wenn Mitarbeiter krank
würden, könnte sich die Lage auch hier
ändern, gibt der Heimleiter zu beden-
ken. Trotz aller Schwierigkeiten sieht
Gaißer auch etwas Positives in der Co-
rona-Krise: Das Heim erfahre einen Di-
gitalisierungsschub.
Personalmangel in der Pflege war al-
lerdings schon vor der Corona-Krise ein
bundesweites Problem: Mit den Be-
suchsbeschränkungen rückt auch in den
Fokus, dass Angehörige Aufgaben in
Pflegeheimen übernehmen – Hilfe, die
nun fehlt. Mehr als zwei Drittel der Be-
fragten in der Pflegeschutzbund-Um-
frage berichten, dass sie glauben, das
Personal könne die benötigte Pflege
nicht leisten, weil normalerweise ihre
Unterstützung notwendig sei.
Um dies aufzufangen, fordert Geron-
tologe Kruse von der Politik Geld, damit
Einrichtungen Psychologen, Sozialar-
beiter und Pflegekräfte im Ruhestand
kurzfristig rekrutieren können. Außer-
dem müsse sichergestellt werden, dass
Angehörige in jedem Fall Zugang hät-
ten, wenn ein Bewohner im Sterben
liegt – auch indem der Familie ein Co-
vid-19-Test ermöglicht werde. „Wir
müssen alles dafür tun, damit niemand
alleine stirbt. So darf das Leben nicht
enden.“ Das sei eine zentrale Frage der
Menschenwürde.
Familie D. im Taunus hat sich inzwi-
schen gegen rechtliche Schritte ent-
schieden. Der Respekt vor der Seuche
ist größer als der Impuls, sich gegen die
Stiftsleitung aufzulehnen. Schließlich
müssen die Pflegekräfte in den kom-
menden Wochen die Nähe ersetzen, die
die Kinder ihrer Mutter nicht mehr ge-
ben können.
Sibylle D. ruft nun täglich im Stift an,
wie sie berichtet. An einem späten
Nachmittag hält sie den Hörer in der
Hand. Es dauert, bis abgehoben wird.
Stille. „Hallo, haaaaalloooo, Mama?“,
ruft Sibylle D. in die Leitung. „Jaaa, wer
ist da?“, sagt die Mutter. Sie hört
schlecht. „Alles klaro, Mama? Sibylle
hier.“ Es ist kurz nach 17 Uhr. „Ach, Si-
byllchen“, sagt die Mutter, „Guten Mor-
gen. Ja, alles klar. Aber ich muss mich
beschweren, die Pfleger haben das
Frühstück noch gar nicht gebracht.“
Als Sibylle D. ihren Brüdern von dem
Telefonat erzählt, ist sie erschöpft. Ihre
Mutter sollte die 100 schaffen, das sei
bisher immer erklärtes Ziel gewesen.
Jetzt hoffen die Geschwister, dass sie
ihre Mutter noch einmal wiedersehen.

*Der volle Name der Familie D.
ist der Redaktion bekannt.

VVVerzweifelteerzweifelte


AAAngehörige,ngehörige,


verunsicherte


Heime


Wegen des Coronavirus sind in vielen


Einrichtungen Besuche weitestgehend


verboten. Das Dilemma: Auch Einsamkeit


macht krank. Ein Altersforscher richtet


einen dringlichen Appell an die Politik


DIE BESUCHE


SIND DAS


LEBENSELIXIER


MEINER


MUTTER


,,


MEIN VATER HAT


KEINERLEI ANGST


DAVOR, AM


CORONAVIRUS


ZU STERBEN,


ER HAT SEIN


LEBEN GELEBT


,,


JJJörg Gaißer leitet einörg Gaißer leitet ein
Seniorenheim im
rheinland-pfälzischen
Grünstadt
LEININGER UNTERHOF

MEINE MUTTER


LIEGT IM STERBEN


UND HAT


NOCH ZWEI BIS


DREI TAGE.


DER BESUCH


VON IHREM MANN


UND TÖCHTERN


IST UNTERSAGT.


DIE EINZIGE


VERBINDUNG IST


DIE HAUSÄRZTIN


,,,,


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