Die Welt - 07.04.2020

(John Hannent) #1

I


n diesen Tagen drängen sich End-
zeitszenarien auf. Für die Schrift-
stellerin Deborah Feldman („Unor-
thodox“) haben sie einen konkre-
ten Bezug: Die 33-Jährige wuchs in
einer strenggläubigen jüdischen Ge-
meinde in New York auf. Viele ihrer An-
gehörigen wurden von den Nazis er-
mordet. Ihre Gemeinde misstraut dem
Staat und lebt nach jahrhundertealten
Regeln ohne Kontakt zur Außenwelt.
Mit 23 stieg Feldman aus und zog nach
Berlin. Heute beobachtet sie mit Trauer
und Wut, wie ultraorthodoxe Juden Op-
fer der Epidemie werden.

VON CHRISTINE KENSCHE


WELT: Beeinflusst die gegenwärtige
Krise Ihr kreatives Schaffen?
DEBORAH FELDMAN:Total. In meiner
aktuellen Arbeit geht es auch um das
Konzept der Endzeit, das ein zentrales
Thema im Judentum darstellt. Die Co-
rona-Krise warf das in ein ganz neues
Licht, und ich musste alles hinterfra-
gen: Ist diese Welt, von der ich schrei-
be, eine Welt, in der diese Krise auch
passiert ist, oder ist sie vielleicht eine
alternative Version, eine Möglichkeit,
einen anderen Ablauf vorzustellen? Das
ist etwas, was sich wahrscheinlich zur-
zeit jeder Schriftsteller fragen muss,
aber bei mir holt es viele Erinnerungen
hoch, und ich merke, wie sehr mich das
apokalyptische Denken meiner Kind-
heit beeinflusst.

Inwiefern?
Ich bin bei meinen Großeltern aufge-
wachsen, die den Holocaust überlebt
haben. Sie hatten das Gefühl, dass sie
das Ende der Welt gesehen haben. Von
solchen Menschen erzogen zu werden,
prägt einen. Ich war schon immer je-
mand, der eine Speisekammer mit ge-
nug Essen für sechs Monate hatte, ich
habe keine Hamsterkäufe machen müs-
sen. Freunde, die ich zu einer Dinner-
party eingeladen hatte, haben mich mal
gefragt: „Hä, wieso hast du Milch im
Gefrierfach?, und ich so: „Na, für den
Dritten Weltkrieg.“

Apokalypse-Szenarien kennt die sä-
kulare Welt am ehesten aus Actionfil-
men. Für Sie war das früher eine reale
Erwartung?
Durchaus. Ultraorthodoxe Juden glau-
ben, dass jede Krise eine Endzeit ist. Be-
sonders fromme warten förmlich da-
rauf, denn auch wenn es Leid bedeutet –
danach kommt etwas Besseres: der
Messias. Letztendlich ist es ihnen egal,
wenn sie durch Corona sterben, denn
laut der Prophezeiung werden sie wie-
derauferstehen. Sterben bedeutet für
sie nichts, das ist alles Teil von Gottes
Plan. Es ist heftig, was in meiner ehema-
ligen Gemeinde gerade passiert.

Haben Sie noch Verbindungen zu den
Satmarer Chassiden in New York, seit
Sie mit 23 Jahren ausgestiegen und
nach Berlin gegangen sind?
Ich habe Kontakt zu anderen Ausstei-
gern und bekomme Video- und Sprach-
nachrichten weitergeleitet. Zum Bei-
spiel von einem ultraorthodoxen Sani-
täter, der den ganzen Tag Notrufe er-
hält: Atemnot, Atemnot, Atemnot. Es
ist zum Heulen, die Leute haben ein-
fffach keine Ahnung, womit sie es zu tunach keine Ahnung, womit sie es zu tun
haben.

Die Netflix-Serie „Unorthodox“, die
auf Ihrer Autobiografie beruht, zeigt
eindrücklich, wie Ultraorthodoxe
mitten in New York abgeschnitten
von der Außenwelt leben. Sie haben
keine Fernseher, keine Computer und
„koschere Telefone“ ohne Internet-
zugang.
Das ist ein großes Problem. Wenn über-
haupt Informationen über die Corona-
Epidemie durchdringen, sind sie ver-
zerrt. Vieles verbreitet sich über Hören-
sagen, und das ist sehr unzuverlässig.

Mittlerweile ist selbst der Rabbiner
meiner ehemaligen Gemeinde infiziert.
Er hat irgendeinen Scharlatan aufge-
trieben, der behauptet, er habe ein Me-
dikament gegen Corona und könne sie
alle schützen. Die Menschen dort glau-
ben, sie müssen einfach beten und Gott
wird sie retten. Wie früher während der
Pest: Die ist den Juden erspart geblie-
ben, wegen ihrer guten Hygieneregeln
und weil sie abgeschottet lebten. Heute
ist das verheerend, denn das Virus
macht in unserer globalisierten Welt
weder vor ihrem Viertel Williamsburg
in New York noch vor Me’a Sche’arim in
Jerusalem halt.

Die meisten haben das inzwischen be-
griffen und halten sich an die Maßga-
ben der Behörden, die Versammlun-
gen verboten und Synagogen ge-
schlossen haben. Aber einige ultraor-
thodoxe Gruppierungen machen wei-
ter wie bisher. Warum?
Der Glaube beruht auf dem Konzept
von Achdut, das ist das hebräische Wort
für Einheit. Rituale haben nur Bedeu-
tung, wenn sie gemeinschaftlich ausge-
übt werden. Wie auch in anderen Religi-
onsgemeinschaften wird Individualität
als bedrohliches Konzept wahrgenom-
men, denn es bedeutet, dass die Ge-
meinschaft auseinanderfällt, es keine
Kontrolle, keine Einheit mehr gibt.
Wenn der Staat sie zur sozialen Distanz
mahnt, ist das die komplette Zerstörung
von allem, wofür die Gemeinde steht.
Krankheit ist etwas von Gott Gegebe-
nes, das man akzeptieren muss. Sie
glauben, dass man derartige „Strafen“ –
und sie haben schon viele erlebt, Coro-
na ist bloß eine weitere Episode – nur
mit Ritualen begegnen kann. Die einzig
mögliche Reaktion aus dieser Perspekti-
ve ist weiter beten, weiter fasten, weiter
rituelle Bäder vollziehen.

Die Warnungen von Ärzten haben kei-
ne Wirkung?
Ultraorthodoxe glauben nicht an Wis-
senschaft, im Gegenteil: Sie empfinden
Wissenschaft als Gegensatz zu Gött-
lichkeit und Glaube. Gerade weil die
Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung
von außen kommen, werden sie abge-
lehnt. Staat und Modernität nehmen sie
aufgrund der jahrhundertelangen Ge-
schichte der Judenverfolgung als Feind
wahr.

Als Polizisten in New York und in Je-
rusalem anrückten, um Hochzeiten
und Beerdigungen aufzulösen, wur-
den sie als „Nazis“ betitelt.
„Nazi“ ist mittlerweile ein gängiges
Schimpfwort, auch unter Juden selbst.
Es ist zum allgemeinen Begriff für Feind
geworden und hat kaum noch histori-
sche Bedeutung. Vermeintlich unsitt-
lich gekleidete Frauen werden als „Na-
zischlampen“ beschimpft. Frauen sind
sowieso an allem schuld, auch an Coro-
na: Ihre Strümpfe sind zu dünn, die Rö-
cke zu kurz. Solche Erklärungen liest
man auf Plakaten in strenggläubigen
Gemeinden.

Sind die Behörden machtlos?
In Israel hat man den Ultrafrommen
zahlreiche Ausnahmen gewährt: Sie
müssen keinen Wehrdienst leisten und
haben eigene Schulen, in denen nicht
einmal eine Grundbildung vermittelt
wird, nur Bibelstudien. Das ist eine Art
historischer Kompromiss: Die Politiker
sagen sich: „Wir schauen über alles hin-
weg, dafür kriegen wir ihre Stimmen.“
Und das ärgert mich, denn Leute wie ich
gelten als Kollateralschaden. Frauen
sind in der patriarchalischen Gemein-
schaft gefangen, haben keine Rechte
und keinen Zugang zu Bildung. Das ha-
ben die säkularen Juden in Kauf genom-
men, weil sie selbst nicht betroffen wa-
ren. Jetzt sehen wir den Preis, den wir
für diese Sonderregeln zahlen: 50 Pro-
zent der Krankenhauspatienten sind Ul-
traorthodoxe. Das Virus grassiert, weil

sie sich nicht an die Regeln halten – und
damit gefährden sie das Allgemeinwohl.

Was muss jetzt passieren?
VVVon außen kann man sie nicht überzeu-on außen kann man sie nicht überzeu-
gen. Die jüdische Glaubensgemein-
schaft muss Verantwortung dafür über-
nehmen, dass die Ultraorthodoxen sich
und andere schützen. Das wäre die ein-
zige Lösung. Die Gemäßigten müssen
mit den Strenggläubigen reden und
versuchen, neue Kompromisse zu fin-
den. Bisher war es so, dass die jüdische
WWWelt mit ihren extremen Gruppierun-elt mit ihren extremen Gruppierun-
gen nichts zu tun haben wollte, weil sie
ihr peinlich waren. Damit konfrontiert
zu werden, was im Namen des Juden-
tums alles passiert, ist für gemäßigte
Orthodoxe sehr unangenehm. Sie sa-
gen: „Das ist ja nur eine Minderheit,
die kann nicht für das ganze Judentum
stehen.“

Man befürchtet Verallgemeinerung
und antisemitische Attacken, wenn
der Fokus auf eine kleine, radikale
Gruppe gerichtet wird.
Michael Wolffsohn hat in der „FAZ“ ge-
schrieben, wir dürften niemals über die
Ultraorthodoxen sprechen, denn das
führe zu Pauschalisierung. Das ist nicht

hilfreich. Sollen wir deshalb alle Proble-
me abwiegeln, nach dem Motto: Die le-
ben halt wie vor 200 Jahren, das ist
doch romantisch und süß? Ich habe es
satt, dass Leute mir erklären, ich dürfe
nichts am Judentum kritisieren, denn
das könnte Antisemitismus schüren.
Wohin soll das führen? Müssen wir alle
an Covid-19 erkranken, damit niemand
antisemitisch wird? Die Strenggläubi-
gen werden in Israel künftig die Mehr-
heit der Bevölkerung ausmachen. Soll
der Staat dann ein Äquivalent zur Scha-
ria werden? Es tut mir leid, das sind
sehr unangenehme Themen, gerade für
Deutsche, aber solche Probleme müs-
sen angesprochen werden.

Vielleicht nicht unbedingt von Deut-
schen...
... aber von der jüdischen Welt. Wir
müssen wachsam sein, gerade in dieser
Zeit. Eine Freundin hat im Zusammen-
hang mit der Ausgangssperre auf Face-
book gepostet, es könne doch nicht
sein, dass wir in Deutschland wieder da-
zu aufrufen, Menschen zu denunzieren.
Das finde ich richtig, aber nicht nur,
weil es vor dem Hintergrund der deut-
schen Geschichte schwierig ist. Wenn
wir plötzlich wieder eine Gesellschaft

von Denunzianten werden, zahlen wir
einen zu hohen Preis für die Sicherheit.
Ich weiß nicht, was ich lieber hätte, eine
autoritäre Welt voller Blockwarte oder
eine postapokalyptische Szenerie mit
traumatisierten Überlebenden – ich

eine postapokalyptische Szenerie mit
traumatisierten Überlebenden – ich

eine postapokalyptische Szenerie mit


glaube, ich würde lieber an Corona ster-
ben, als in einer dieser Alternativen le-
ben zu müssen.

Mit Ihrer Speisekammer wären Sie ei-
gentlich gut vorbereitet.
Das, was wir brauchen, können wir
nicht kaufen: Die Sicherheit, dass das
Leben noch Sinn hat, dass die Welt am
Ende wieder die sein wird, von der man
immer dachte, man würde sie kennen.
Die haben wir verloren, das verursacht
Panik, und die versucht man, mit Hams-
terkäufen zu beschwichtigen. Aber es
geht am Ende gar nicht um Klopapier.
Es geht darum, in welcher Welt wir die-
ses Klopapier einsetzen werden, und ob
es noch Bedeutung haben wird, einen
reinen Hintern in der dreckigen Hose
zu haben.

TDie vierteilige Serie „Unorthodox“
kann auf Netflix gestreamt werden.
Deborah Feldmans Roman ist im btb-
Verlag erschienen.

Deborah Feldman in ihrer Wohnung in Berlin


„Ich würde lieber an


Corona sterben,


als so leben zu müssen“


Die Netflix-Serie


„Unorthodox“


beruht auf ihrer


Biografie:


Deborah Feldman


floh aus einer


jüdischen


Gemeinde, die in


New York wie vor


2 00 Jahren lebt.


Ein Gespräch


über Glauben,


alte Ängste und


deutsches


Denunziantentum


ALEXA VACHON

9


07.04.20 Dienstag, 7. April 2020DWBE-HP



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DIE WELT DIENSTAG,7.APRIL2020 FEUILLETON 9


M


asturbation ist wieder ganz
groß im Kommen. Zumindest
legen meine Hinterhofbeob-
achtungen diesen Schluss nahe. Der
Hinterhof ist so verkehrsberuhigt wie
ein Kindergartenspielplatz und mut-
maßlich Werk eines mit tiefem Ver-
ständnis für Akustik gesegneten Opern-
hausarchitekten. Seiner Planung ver-
danke ich mittlerweile Einblicke in die
Lebensgeschichten von mindestens
zzzwanzig meiner Nachbarn, und langsamwanzig meiner Nachbarn, und langsam
verliere ich den Überblick. Weil es warm
ist, stehen die Fenster offen, und die
Leute telefonieren und skypen den gan-
zen Tag. Meistens geht es um Corona.
Ihnen fällt langsam auf, dass die Todes-
fffälle in vielen europäischen Ländern aufälle in vielen europäischen Ländern auf

üüüber zehn Prozent gestiegen sind. Dassber zehn Prozent gestiegen sind. Dass
die amerikanische Wirtschaft vor dem
Kollaps steht, ist bislang kein Thema.
WWWenn die Nachbarn mit der Außen-enn die Nachbarn mit der Außen-
welt kommunizieren, sind sie in der Re-
gel freundlich, und sobald sie aufgelegt
haben, hört man manche fluchen, weil
das Bad schon wieder besetzt ist oder
ein Glas im falschen Regal steht. Den ih-
nen für die Interaktion mit anderen
Menschen in Normalzeiten zur Verfü-
gggung stehenden Toleranzproviant habenung stehenden Toleranzproviant haben
einige schon fast zur Gänze verzehrt,
und den kargen Rest verwenden sie,
wenn sie fernmündlich mit der weiten
WWWelt in Verbindung treten, wobei dieelt in Verbindung treten, wobei die
unmittelbar jenseits ihrer Sicht- und
Hörweite beginnt. Noch schlechter als

mit den übrigen Mitgliedern ihres Haus-
halts kommen sie nur mit den anderen
Nachbarn zurecht, denen sie ohne direk-
ten Sichtkontakt über zwei, drei Stock-
werke hinweg vorwerfen, vorsätzlich
oder aus Idiotie die Liftknöpfe und
Briefkästen mit Viren zu verseuchen,
was beim vernünftigeren Teil der Haus-
bewohner hörbar Heiterkeit auslöst.
Dass jemand im Familienkreis an Co-
rona erkrankt wäre, erwähnt niemand.
AAAuch von ihren Freunden scheint nochuch von ihren Freunden scheint noch
niemand infiziert zu sein, denn es wer-
den nur die Namen jüngst infizierter
Prominenter ausgetauscht.
Ich frage mich, ob manche vielleicht
nicht zugeben wollen, dass sie jemanden
kennen, der infiziert ist, aus Angst,

selbst gemieden zu werden. Ganz ausge-
schlossen ist das nicht, denn es ist auch
nicht ausgeschlossen, dass sie mit ihrer
Befürchtung recht haben. Der Mensch
reduziert sich gerade auf die Einzelheit.
WWWenn Menschen einmal damit ange-enn Menschen einmal damit ange-
fffangen haben, sich zurückzuziehen, hö-angen haben, sich zurückzuziehen, hö-
ren sie meistens nicht so schnell damit
auf. Das liegt daran, dass sie sowieso
schon zur Sicherheit mit Verzögerung
leben. Sie reagieren auf die Welt, statt
zu agieren und zu warten, bis die Welt
zu ihnen kommt. Morgens machen sie
sich beim Zeitunglesen und im Internet
ein Bild davon, wo die Welt gerade steht,
den Rest des Tages verbringen sie mit
einer Schnitzeljagd. Und obwohl sie sie
nie erwischen, geben sie ihr auch am

nächsten Tag einen Vorsprung, weil ihr
Frust darüber, sie nie einzuholen, viel
geringer ist als ihre Angst, dass die Welt,
wwwürden sie einmal vorangehen, ihnenürden sie einmal vorangehen, ihnen
nicht nachkommen würde. Wahrschein-
lich nicht ganz zu Unrecht. Die Welt ist
ja nicht blöd, die Welt ist wählerisch. Ich
stehe ja auch meistens nur doof in der
Gegend rum und warte. Aber lieber war-
te ich auf einen Bus, der vielleicht nicht
kommt, als ich laufe wie ein Idiot hinter
einem her. Hab ja mein Handy dabei.

TThomas Glavinicist Schriftsteller
und Hypochonder. Er lebt in Wien.
Zuletzt erschien von ihm bei Piper die
„Gebrauchsanweisung zur Selbst-
verteidigung“.

KKKennt einer jemanden, der infiziert ist?ennt einer jemanden, der infiziert ist?


Die Welt steht still, wir sitzen verängstigt in unseren Wohnungen. Thomas Glavinicverarbeitet die Corona-Krise in einem Fortsetzungsroman. Exklusiv in der WELT


DER CORONA-ROMAN


TEIL 17


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