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ede Epoche hat in der Not ih-
re ganz eigenen Maßnahmen.
WWWas in Corona-Zeiten dasas in Corona-Zeiten das
„social distancing“ ist oder
die milliardenschwere „Ba-
zooka“ der Bundesregierung zur Ret-
tung der Wirtschaft, das war in Zeiten
einer Pest oft das feierliche Gelübde, ei-
ne Kirche zu bauen, wenn man von der
Seuche befreit würde.
VON RAINER HAUBRICH
So geschah es im Herbst des Jahres
1 576 in Venedig während der längsten
Pest-Epidemie, die die Stadt jemals
heimsuchte. Der Seuche fielen fast
5 0.000 Menschen zum Opfer, ein Drittel
der damaligen Bevölkerung Venedigs. Am
4. September gelobte der Senat den Bau
einer Kirche zu Ehren des Erlösers (Il Re-
dentore), wenn das Unheil ein Ende näh-
me. Zu dieser Kirche werde man dann
künftig jährliche Dank-Prozessionen ver-
anstalten. An einem städtebaulich he-
rausragenden Ort sollte sie entstehen, ei-
ne rasch gebildete Kommission schlug ei-
nen Platz am Ufer der Insel Giudecca
vor, von dem aus eine direkte Blickver-
bindung zum Hauptplatz der Stadt be-
stand, der Piazzetta di San Marco.
Keine drei Monate später erhielt An-
drea Palladio den Auftrag, einer der
ffführenden Architekten der Renaissan-ührenden Architekten der Renaissan-
ce, damals 68 Jahre alt und auf der Hö-
he seines Ruhms. Er sollte zwei Versio-
nen skizzieren, einen Längs- und einen
Zentralbau. Die Jury entschied sich für
das Langhaus, weil es für Prozessionen
mehr Platz bot: Schließlich würde man
hier ja einmal im Jahr den Dogen mit-
samt seinem Gefolge unterbringen
müssen. Als Budget wurden 10.000 Du-
katen angesetzt.
Noch bevor im Juli 1577 offiziell das
Ende der Pest verkündet wurde, begann
die Umsetzung der Pläne. Am 3. Mai leg-
te man den Grundstein, und schon am
2 1. Mai fand erstmals eine feierliche Pro-
zession statt, für die man auf dem Platz
vor der künftigen Kirche einen großen
AAAltar aufgebaut hatte und dahinter, alsltar aufgebaut hatte und dahinter, als
Hinweis auf den geplanten Bau, eine Ku-
lisse wie im Theater. Die Bauarbeiten
gingen anfangs zügig voran, aber Palla-
dio konnte die Vollendung seines Wer-
kes nicht mehr erleben, er starb 1580.
Die feierliche Weihe von Il Redentore
fffand erst 1592 statt –16 Jahre nach demand erst 1592 statt –16 Jahre nach dem
Gelübde. Die Baukosten waren inzwi-
schen auf das Sechsfache gestiegen.
Seitdem grüßt der ganz auf Fernwir-
kung komponierte Kirchenbau Palladios
mit der weißen Tempelfront zum Mar-
kusplatz herüber, und seitdem fanden
durch die Jahrhunderte immer im Juli
fffeierliche Prozessionen zum Gotteshauseierliche Prozessionen zum Gotteshaus
statt. Dabei wurde von der Uferstraße
Zattere bis hinüber zur Insel Giudecca
eine temporäre Brücke über eine lange
Reihe von Schiffen hinweg gebaut.
Die zweite bedeutende Kirche Vene-
digs, die nach einem Gelübde in Zeiten
der Pest entstand und noch bekannter
wwwurde als Il Redentore, ist der prächtigeurde als Il Redentore, ist der prächtige
Zentralbau von Santa Maria della Salute
am Eingang des Canal Grande unweit
des Markusplatzes. Inmitten einer Epi-
demie, bei der 80.000 Einwohner der
Stadt starben, darunter auch der damali-
ge Doge, gelobte die Stadt im Oktober
1 630 den Bau eines Gotteshauses.
Der Auftrag ging an den 33-jährigen
Baldassare Longhena, der ein Bauwerk
auf achteckigem Grundriss mit einer ge-
waltigen Kuppel entwarf, die er durch
große Voluten und Skulpturen wie mit
einer Krone einfasste – in den Worten
des Architekten: „in forma di corona“!
Sein ganzes Leben lang baute er an sei-
nem Meisterwerk, erlebte aber, obwohl
er 84 Jahre alt wurde, dessen Voll-
endung nicht mehr. Erst 1687 konnte die
Kirche geweiht werden – 57 Jahre nach
dem Gelübde.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts er-
lebte Wien einen heftigen Ausbruch der
Epidemie. Der „Großen Pest“ fielen ver-
mutlich rund 12.000 Menschen zum Op-
fffer. Auf der Flucht aus der Stadt im Jah-er. Auf der Flucht aus der Stadt im Jah-
re 1679 gelobte Kaiser Leopold I. die Er-
richtung einer Kirche und einer Gna-
densäule am Graben bei Beendigung der
Epidemie.
Noch im selben Jahr wurde dort eine
provisorische Holzsäule eingeweiht, die
mehr als zehn Jahre unverändert blieb,
bis sie ersetzt wurde durch die hochba-
rocke, skulptural bewegte Pestsäule von
2 1 Metern Höhe, die bis heute dort steht.
Am Sockel ist der Stifter Leopold I. dar-
gestellt, auf Knien und betend.
„Fotzenpoidl“ nannte das Volk den
Kaiser, weil er – wie viele Habsburger –
eine stark vorstehende Unterlippe hat-
te. Das ist in seiner Darstellung an der
Pestsäule auch deutlich zu sehen – an-
geblich ganz bewusst, weil Leopold
dem Erbauer des Denkmals nicht den
ausgemachten Lohn bezahlen wollte.
Die Wiener Pestsäule war stilprägend
und wurde in der ganzen k. u. k. Monar-
chie nachgeahmt.
Mit dem versprochenen Gotteshaus
war es dagegen lange nicht vorwärts ge-
gangen. Es sollte anstelle einer baufälli-
gen Kirche in einer Seitenstraße des
Grabens entstehen und der Heiligen
Dreifaltigkeit gewidmet werden.
AAAber erst 1701 nahm man die Arbeitenber erst 1701 nahm man die Arbeiten
fffür die neue Kirche in Angriff, 1722 warür die neue Kirche in Angriff, 1722 war
sie fertig – der erste Kuppelbau des ba-
rocken Wien: die Peterskirche. Der
Durchblick vom Graben auf ihre
schmale, geschwungene Fassade zählt
zu den reizvollsten Motiven der Wiener
Innenstadt.
Fast ein Dutzend Pest-Epidemien
hatte Wien erlebt, und drei Jahrzehnte
nach der „Großen Pest“ sollte die letzte
Seuche ausbrechen, die die habsburgi-
sche Metropole heimsuchte. Damals
war es der junge Kaiser Karl VI.,gerade
zwei Jahre auf dem Thron, der 1713 im
Wiener Stephansdom das Gelübde ab-
legte, nach der Befreiung von der Seu-
che eine Kirche zu bauen. Sie sollte sei-
nem Namenspatron, Karl Borromäus,
geweiht sein, der auch als Pestheiliger
gilt. Als die Epidemie ein Jahr später
vorüber war, schrieb der Kaiser einen
Architektenwettbewerb aus, den der
Hofarchitekt Johann Bernhard Fischer
von Erlach gewann.
1 716 wurde der Grundstein für die
Karlskirche gelegt, die Bußfertigkeit
und imperialen Herrschaftsanspruch
vereinigen sollte. Der Kaiser hatte ent-
schieden, dass das Bauwerk für die
Dankbarkeit aller Menschen im Reich
stehen sollte. Was durchaus edelmütig
klang, aber für den Vielvölkerstaat der
Habsburger praktische Konsequenzen
hatte. Denn alle mussten einen finan-
ziellen Beitrag leisten: Sardinien, Mai-
land, Neapel, die Spanischen Nieder-
lande und die Länder der ungarischen
Krone, also weite Teile des Balkans. Die
überlieferten mehrfachen Ermahnun-
gen sprechen für eine mäßige Zahlungs-
moral. Selbst die protestantische Freie
und Hansestadt Hamburg wurde ver-
pflichtet – als Sühne für die Verwüs-
tung der dortigen österreichischen Ge-
sandtschaftskapelle.
So bekam Wien eines seiner herausra-
genden Gotteshäuser und zugleich eines
der eigenwilligsten Kirchenbauwerke
des Barock in Europa: Dem von einer 70
Meter hohen Kuppel bekrönten Zentral-
bau ist eine ungewöhnlich breite Fassa-
de vorgeblendet mit einem Säulenporti-
kus und seitlichen Türmen, zwischen
denen zwei Kopien der römischen Tra-
janssäule stehen.
1 739 war der Bau vollendet, 26 Jahre
nach dem Gelübde. Über dem Portal
wwwurde eine goldene Inschrift ange-urde eine goldene Inschrift ange-
bracht, in der der kaiserliche Stifter Re-
chenschaft ablegt: „Vota mea reddam in
conspectu timentium deum“ (Ich will
mein Gelöbnis erfüllen vor denen, die
Gott fürchten). Karl VI. hat es noch er-
lebt, ein Jahr später starb er. Den meis-
ten Europäern mögen diese Ereignisse
weit entfernt erscheinen. Nicht aber
den Bürgern in Venedig und Wien, wo
die Pest-Epidemien bis heute Teil des
kollektiven Gedächtnisses sind – nicht
zuletzt, weil sich die Geschichte der
Seuchen in prägnanten und populären
Bauwerken spiegelt.
Das zeigte sich in den ersten Tagen
der Corona-Krise, als die Wiener Pest-
säule zu einer Anlaufstelle in der Stadt
wwwurde, wo zahlreiche Kerzen, Kinder-urde, wo zahlreiche Kerzen, Kinder-
zeichnungen und Gebetstexte niederge-
legt wurden für einen glimpflichen Aus-
gang der Epidemie. Und es hatte seinen
Grund, dass der Patriarch von Venedig
am Beginn der Corona-Krise die Kirche
Santa Maria della Salute auswählte, um
einen Gottesdienst zu feiern, der im
Fernsehen live übertragen wurde. Bis
heute steht der majestätische Bau jedes
Jahr am 21. November im Mittelpunkt
des Festes der Madonna della Salute.
Und auch die jährliche Dank-Prozes-
sion zu Palladios Kirche wird gerahmt
von mehrtägigen Feierlichkeiten, der
„Festa del Redentore“ mit Konzerten,
Regatten und Feuerwerk. Dafür wird je-
desmal eine 330 Meter lange temporäre
Pontonbrücke gebaut, auf der die Besu-
cher über das Wasser zur Kirche schrei-
ten können. Bald ist es wieder so weit: In
diesem Jahr fällt das Redentore-Fest auf
das Wochenende des 18. und 19. Juli.
Jede Pandemie schafft große Kunst
Einige der schönsten europäischen Bauten verdanken sich der Hoffnung auf das Ende tödlicher Krankheiten. Allerdings verlief
ihr Bau nicht immer konfliktfrei. Über die Architekturgeschichte der Erlösung
Aus dem Dunkel geschaffen: „Il Redentore“ in Venedig
(oben, fertig gestellt 1592), die Wiener Karlskirche (Mitte, 1739) und
die Pestsäule in Wien (unten, 1679)
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07.04.20 Dienstag, 7. April 2020DWBE-HP
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