Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1

FOTOS: PASSIONSSPIELE OBERAMMERGAU 2020; LINO MIRGELER/PICTURE-ALLIANCE/DPA; SEBASTIAN BECK/PICTURE-ALLIANCE/DPA


wir wissen, auch wild und provokant
sein.
Jesus war ganz bestimmt kein Softie, der
konnte einen heiligen Zorn entwickeln.
Austeilen und aggressiv werden, die Händ-
ler aus dem Tempel schmeißen. Dem war
nichts Menschliches fremd. Er muss ein
Charismatiker gewesen sein, sonst würden
wir heute nicht über ihn sprechen.
War er der Sohn Gottes?
Ach mei, das ist eine schwierige Frage. Ich
persönlich glaube, dass er sich als Sohn
Gottes begriffen hat, so wie er alle als Kin-
der Gottes gesehen hat. Aber ich weiß es
natürlich nicht. Vor zehn Jahren war ich
noch sehr überfordert, eine eigene Inter-
pretation zu finden. Man muss es ernst-
haft versuchen. Aber man begegnet selbst
in den Evangelien schon unterschiedli-
chen Auslegungen der Persönlichkeit, wie-
so also nicht auch in Oberammergau?
Sie sehen den Jesus-Darstellungen der

Es ist ein krasses Gefühl, wenn man selbst
da am Kreuz hängt und den Todeskampf
spielt. Aber es bleibt Theater. Ich habe das
Gefühl, dass mir in den vergangenen Mo-
naten ein Licht aufgegangen ist: Ich glau-
be, dass man Jesus noch viel mehr als Jude
betrachten muss. Der wollte keine Religion
gründen, sondern sein Leben völlig auf
Gott ausrichten. Seine Idee, zu sagen: „Lie-
be deinen Nächsten wie dich selbst“, ist
eine der stärksten Botschaften der
Menschheitsgeschichte. Und man soll so-
gar noch die Feinde lieben.
Hat nicht geklappt mit der Umsetzung.
Dabei ist Jesus recht konkret in seiner
Bedienungsanleitung. Wenn einer hung-
rig ist, gib ihm zu essen. Wenn einer durs-
tig ist, gib ihm zu trinken. Wenn einer
fremd ist, nimm ihn auf. Eigentlich nicht
so schwer zu verstehen.
Wie stellen Sie sich den Charakter
dieses Aufrührers vor? Der konnte, wie

Alten Meister ähnlich. Rochus Rückel,
der zweite Darsteller der Spiele, mit dem
Sie im Wechsel spielen sollen, kommt
optisch eher dem Bild nahe, das Histori-
ker von Jesus zeichnen. Spielen Sie unter-
schiedliche Jesus-Charaktere?
Wir erarbeiten die Rolle viele Wochen ge-
meinsam. Insofern hoffe ich nicht, dass das
so weit auseinandergeht. Rochus hat mal
zu mir gesagt, dass ich Jesus viel ähnlicher
sähe als er. Da täuscht er sich aber.
Im September reiste die Passions-
spiel-Besetzung gemeinsam nach Israel.
Wie war die Begegnung an den Original-
schauplätzen?
Unsere beiden Dorfpfarrer und der Bürger-
meister waren auch dabei. Die Leute in
Jerusalem hielten uns sicher für eine abge-
drehte Sekte, mit unseren Haaren und Bär-
ten. Wichtig war das Treffen mit jüdischen
Gelehrten – und der Besuch in Yad Vashem.
Inwiefern steht die Shoah-Gedenkstätte
Yad Vashem für Sie im Kontext zu den Pas-
sionsspielen?
Sie hat erst einmal viel mit mir als Deut-
schem zu tun. Deutsche, die sich als Chris-
ten verstanden, waren mitverantwortlich.
Das ist sehr bedrückend, was man da sieht
und empfindet. Wir haben einen Überleben-
den getroffen, der in den Konzentrations-
lagern seine Familie verloren hat. Mit ihm
über Feindesliebe gesprochen zu haben war
etwas Besonderes. Der Mann ist über 90
und kommt jedes Jahr nach Deutschland,
um Aufklärungsarbeit zu leisten.
Kann man die Passion spielen, ohne an
Jesus Christus zu glauben?
Der Regisseur Pier Paolo Pasolini hat für
seine Evangeliums-Verfilmung einen
atheistischen Kommunisten besetzt, um
innere Distanz zu erzeugen. Aber Oberam-
mergau ist nicht Pasolini. Ich bin katho-
lisch, ich glaube, es hilft, dran zu glauben.
Wie ist das eigentlich, an so einem Kreuz
zu hängen?
Auch wenn es Theater ist, bekommt man
eine ungefähre Ahnung, wie grausam das
war.
Nimmt Sie so eine Aufführung sehr mit?
Das macht etwas mit einem. Nicht nur die
Kreuzigungsszene, es ist der ganze Tag. Die
Momente des Jubels, wo Jesus auf dem Esel
einzieht, das letzte Abendmahl, die Todes-
angst – alles sehr emotionale Momente.
Wie stellen Sie sich den Himmel vor?
Kennen Sie den „Brandner Kaspar“? Es
wäre schon schön, wenn das Paradies so
aussehen könnte wie in diesem bayeri-
schen Volksstück: Alle sitzen zusammen,
es ist gemütlich und gibt Bier. Aber so wird
es nicht sein, ich bin mir nur in einem si-
cher: Es ist bestimmt anders, als wir uns
das alle vorstellen. 2

Frederik Mayet, 40, war
zum zweiten Mal bei den
Ober ammergauer Passions-
spielen für die Hauptrolle
vorgesehen: als Jesus von
Nazareth. Wenn er nicht den
Heiland verkörpert, ist
Mayet künstlerischer Leiter
am Münchner Volkstheater.
Durch die Corona-Krise
wurden die Spiele, die seit
fast 400 Jahren aufgeführt
werden, um zwei Jahre
verschoben. Die Proben
(unten) liefen bereits seit
Dezember 2019.

8.4.2020 85
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