Süddeutsche Zeitung - 25.03.2020

(Wang) #1
von werner bartens

F


rüher sprachen Ärzte wie Laien da-
von, dass Patienten chronische Lei-
den hatten oder schlicht krank wa-
ren. Nun aber ist der Begriff „Vorerkran-
kungen“ zum geflügelten Wort geworden.
Damit sind jene Krankheiten oder Beein-
trächtigungen gemeint, von denen Men-
schen schon geplagt wurden, bevor die
Welt lernen musste, wie man das Wort Co-
ronavirus ausspricht.
Während es viele Gesunde beruhigt,
wenn es heißt, dass schwere Verläufe oder
gar Todesfälle durch das neuartige Corona-
virus hauptsächlich Menschen mit Vorer-
krankungen betreffen, fragen sich chro-
nisch Kranke, was dies für sie bedeutet.
Schließlich sind chronische Rücken-
schmerzen, ein Leberschaden und Neuro-
dermitis auch Vorerkrankungen. Nach bis-
herigen Auswertungen der Co-
vid-19-Krankheitsfälle zeigt sich aber,
dass es Erkrankungen und Lebensumstän-
de gibt, die mit einem deutlich höheren Ri-
siko für einen schweren Verlauf einherge-
hen als andere.
So gäbe es für Raucher wohl keinen bes-
seren Zeitpunkt als jetzt, um ihr Laster auf-
zugeben. Denn Raucher fügen ihrer Lunge
schweren Schaden zu. Zellen sterben ab,
Gewebe vernarbt, Flüssigkeit sammelt
sich an, es kommt zur dauerhaften Entzün-
dung. Zudem bleibt die Wand der Zellen in
den Lungenbläschen nicht so lange stabil
wie bei Nichtrauchern – Viren wie Sars-
CoV-2 können leichter eindringen. For-
scher vermuten zudem, dass Hypoxie, also
die lokale Unterversorgung mit Sauerstoff,
die Bildung von ACE2-Rezeptoren an der
Oberfläche von Lungenzellen anregt. Die-
se Andockstellen gelten als Eintrittspfor-
ten für das neuartige Coronavirus – Rau-
cher machen ihnen gleichsam die Tür auf.
Auch Patienten mit Bluthochdruck, Dia-
betes mellitus, Lungenleiden und einge-
schränkter Immunantwort wie etwa Krebs-
patienten sind besonders gefährdet. Den

genannten Krankheiten ist gemeinsam,
dass sie im Alter häufiger vorkommen. Dar-
um ist nicht immer klar, was mehr zur un-
günstigen Prognose beiträgt; die mit den
Jahren schwindenden Widerstandskräfte
oder Einschränkungen durch die Vorer-
krankung. Spezifische Gründe gibt es je-
doch außerdem.
„Viele Tumor-Patienten sind durch die
Krankheit geschwächt und ihre Abwehr-
kräfte oft schon in Mitleidenschaft gezo-
gen“, sagt Wolf-Dieter Ludwig, lange Jahre
Chefarzt für Krebsmedizin in Berlin-Buch
und zudem Vorsitzender der Arzneimittel-
kommission der Deutschen Ärzteschaft.
„Das macht sie auch anfälliger für Infektio-
nen.“ Ludwig hat in den vergangenen Ta-
gen wiederholt darauf hingewiesen, dass
chronisch Kranke auf keinen Fall ihre Me-
dikamente absetzen sollten. Hinweise auf
Wechselwirkungen mit dem neuartigen
Coronavirus seien nicht belegt.

Auch für andere Krankheiten gilt, dass
sie den Körper im Kampf gegen Sars-
CoV-2 beeinträchtigen. „Menschen mit Di-
abetes haben eine schlechtere Immunant-
wort sowohl auf bakterielle als auch auf
virale Leiden“, sagt Felix Beuschlein, Hor-
mon- und Stoffwechselexperte am Univer-
sitätsspital Zürich. „Deshalb ist das Infekti-
onsrisiko bei Diabetikern insgesamt deut-
lich höher, besonders, wenn ihre Zucker-
krankheit schlecht eingestellt ist.“ Die
schwächeren Abwehrkräfte, die größere In-
fektanfälligkeit und die schlechte Durch-
blutung in etlichen Geweben sind auch ein
Grund dafür, warum Wunden von Diabeti-
kern schlecht heilen und offene Beine und
Amputationen drohen.
Stoffwechselveränderungen im gesam-
ten Organismus führen bei Diabetes zu-
dem dazu, dass die linke Herzkammer früh

versteift. Das Herz funktioniert wie eine
Saugdruckpumpe; die Verhärtung trägt da-
zu bei, dass die Auswurfleistung des Her-
zens sinkt, weil der linke Ventrikel nicht
mehr richtig pumpen kann. Zudem wird
weniger Blut aus der Lunge angesaugt. Fol-
ge dieser eingeschränkten Herzleistung ist
ein Rückstau in die Lunge; deswegen sam-
melt sich dort mehr Flüssigkeit an und be-
hindert den Gasaustausch.
„Es kommt in der Lunge zu einer Was-
sereinlagerung aus dem Gewebe, das
macht das Atmen sowieso schon schwerer,
auch ohne Infektion“, sagt Martin Halle,
Chef der Sportmedizin an der TU München
und Facharzt für Kardiologie. Kommt ein
Befall der Lunge mit Sars-CoV-2 hinzu,
droht Diabetikern früher Atemnot. Ähnli-
ches gilt für fast alle Herzpatienten, so ist
bei Herzinsuffizienz („Herzschwäche“) der
Herzmuskel ausgeleiert und die ge-
schwächte Pumpfunktion belastet die Lun-
ge sowie etliche andere Organe.
Menschen mit Bluthochdruck sind aus
ähnlichen Gründen anfällig für eine Infek-
tion mit dem neuartigen Corona-Virus.
„Bei Patienten mit Hypertonus kommt es
zur Drucküberlastung des linken Ventri-
kels, der gegen den Hochdruck anpumpen
muss“, sagt Halle. „Auf Dauer ist eine Ver-
steifung und bindegewebige Veränderung
der linken Herzkammer die Folge.“ Das
führt zu Rückstau in die Lunge, Wasseran-
sammlung, Atembehinderung. Neben Dia-
betes und Bluthochdruck ist das Alter der
dritte zentrale Faktor, der zu einer Verstei-
fung des linken Herzens beiträgt.
„Manche Herzkranke sind bereits am Li-
mit“, sagt Kardiologe Halle. „Während Ge-
sunde erst bei Anstrengung eine gewisse
Luftnot verspüren, erleben das viele Herz-
kranke im Alltag sowieso schon.“ Ähnli-
ches gilt für Patienten mit Koronarer Herz-
erkrankung (KHK), die sich in Beschwer-
den wie Angina Pectoris zeigen kann.
Dann sind die Herzkranzgefäße verengt,
sodass die Durchblutung des Herzmuskels
bedroht ist. Bei Anstrengung – manchmal

bereits in Ruhe – kann sich das in Sympto-
men wie Brustenge, Atemnot oder Schmer-
zen an Rumpf oder Schultergürtel zeigen.
Während einer Infektion ist der Organis-
mus damit beschäftigt, die Erreger loszu-
werden. Das kostet Energie und ist anstren-
gend, das Herz muss dann statt 60-mal
plötzlich 100-mal pro Minute pumpen,
und das womöglich über Tage. „Ein gesun-
der 30-Jähriger und auch ein fitter 55-Jäh-
riger können das kompensieren“, sagt Hal-
le. „Wer hingegen eine KHK hat, kommt
womöglich schnell an seine Grenzen und
das kann zur akuten Mangeldurchblutung
oder bis in die Herzinsuffizienz führen.“

Halle ist es wichtig zu betonen, dass für
den Verlauf der Krankheit das biologische
Alter entscheidend ist. „Ein trainierter
60-Jähriger wird besser mit der Krankheit
fertig als ein schlapper 40-Jähriger“, so der
Sportmediziner. „Auch in Zeiten der Kon-
taktvermeidung sollten sich die Menschen
deshalb weiterhin fit halten und bewegen.
Dann hat man eine bessere Prognose –
und zwar in jedem Alter.“
Auch wenn die Daten zur Corona-Pande-
mie noch nicht so zuverlässig sind, wissen
Mediziner, wie sehr Herzkreislauf- und
Lungenpatienten bei anderen Infektionen
gefährdet sind, die die Lunge betreffen.
Aus den genannten Gründen haben sie et-
wa ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko,
an der saisonalen Grippe zu sterben. Für
Lungenleiden gilt zudem, dass die Zellwän-
de dann oftmals krankhaft verdickt und
Atemwege verengt sind. Zusätzlich behin-
dern Entzündungsreaktionen den Gasaus-
tausch. Je nachdem, ob es sich um Asthma,
chronisch obstruktive Erkrankungen, eine
Pneumonie, Tuberkulose oder andere Lun-
genleiden handelt, fallen die Schädigun-
gen unterschiedlich aus.

Tedros Adhanom Ghebreyesus hat in den
vergangenen Wochen wohl kaum ein Wort
so oft gebraucht wie das der Solidarität.
„Solidarity, solidarity, solidarity“, wieder-
holte der Direktor der Weltgesundheitsor-
ganisation WHO fast gebetsmühlenartig,
wenn es um die Frage ging, was der globa-
len Epidemie mit dem neuen Coronavirus
Sars-CoV-2 Einhalt gebieten könne.
Es ist daher wenig überraschend, dass
die UN-Gesundheitsbehörde die erste mul-
tinationale Megastudie im Kampf gegen
die Pandemie jetzt „Solidarity“ getauft
hat. Vier Therapien mit insgesamt sechs
Wirkstoffen sollen nun getestet werden,
an Tausenden Patienten weltweit. Dahin-
ter steht die Gewissheit, dass ein Impfstoff
in den kommenden Monaten nicht erhält-
lich sein wird. „Solidarity“ soll daher ein
wirksames Medikament identifizieren –
auch wenn nicht alle Kandidaten Anlass zu
viel Hoffnung geben.


Chloroquin und Hydroxychloroquin
zum Beispiel sind Arzneien, die seit den
1950er-Jahren als Prophylaxe und Thera-
peutikum gegen Malaria eingesetzt wer-
den. Beide Wirkstoffe verändern das Mili-
eu von Zellen und können so die Vermeh-
rung der Malariaparasiten stoppen. Es gibt
jedoch keine belastbaren Hinweise, dass
die zwei Wirkstoffe auch das neue Corona-
virus tatsächlich wirksam bekämpfen. Ins-
besondere Hydroxychloroquin hat zudem
gravierende Nebenwirkungen, es kann das
Herz schädigen. Ursprünglich sollten die
Mittel in der Solidarity-Studie deshalb gar
nicht untersucht werden.
Doch weil die Nachfrage nach den Mala-
riaarzneien zur Behandlung von Covid-
gestiegen ist und Daten zu Patienten, die in
China angeblich erfolgreich mit Chloro-
quin behandelt wurden, immer noch nicht
veröffentlicht wurden, entschied sich die
WHO vor einigen Tagen um. Es geht
womöglich darum, einen Verzicht auf die
Malariamittel in der Behandlung von
Covid-19 mit soliden Daten begründen zu
können – und die beiden Wirkstoffe für
andere Patienten zu reservieren, bei denen
sie wirklich helfen. Dazu gehören auch
Menschen, die von Amöben befallen sind


oder die Autoimmunkrankheit Lupus ery-
thematosus haben.
Wesentlich optimistischer waren Ärzte
dagegen zunächst bei einem Kombinati-
onsmedikament aus der HIV-Medizin. Das
Mittel mit den Substanzen Lopinavir und
Ritonavir ist unter dem Markennamen Ka-
letra seit fast 20 Jahren auf dem Markt. Es
hat sich zudem bei Coronaviren wie dem
Mers-Virus als wirksam erwiesen, zumin-
dest im Labor. Doch eine Studie an knapp
200 Covid-19-Patienten endete bereits er-
nüchternd, es war keine größere Wirkung
als durch übliche medizinische Maßnah-
men allein zu erkennen. Im Solidarity-Tri-
al sollen die Mittel deshalb zusätzlich kom-
biniert mit dem antiviral wirkenden Im-
munbotenstoff Beta-Interferon getestet
werden. Auch das ist nicht frei von Risiken,
das Interferon könnte die Krankheit vor al-
lem in der späten Phase verschlimmern.
Alle Hoffnung ruht deshalb vorerst auf
Remdesivir. Die Substanz greift direkt in
die Vervielfältigung von Viren ein, deren
Erbgut aus RNA besteht, und wurde im ver-
gangenen Jahr erstmals gegen das Ebola-
Virus eingesetzt – wenn auch erfolglos.
Laborversuche haben jedoch gezeigt, dass
das Mittel die Vermehrung von Coronavi-
ren stoppen kann. Und einzelne Fallberich-
te von Patienten, die schwer an Covid-
erkrankt waren und nach Gabe von Remde-
sivir fast umgehend wieder auf die Beine
kamen, schüren nun die Erwartungen.
Zahlreiche kleinere Studien und Therapie-
versuche laufen bereits oder sind geplant.
Die WHO hat angekündigt, in der Aus-
wahl der Therapien flexibel zu bleiben. Tat-
sächlich gibt es viele mögliche Kandidaten
für Covid-19-Behandlungen. Eine bislang
nur auf dem Preprint-Server bioRxiv veröf-
fentlichte Arbeit listet knapp 70 Substan-
zen auf, die aufgrund seiner genetischen
Eigenschaften direkt am Virus ansetzen
könnten. Hinzu kommen Stoffe wie das
Krebsmedikament Tocilizumab, das die
heftige Entzündung des Lungengewebes
ersten Hinweisen zufolge stark mildern
kann. Das Grippemittel Favipiravir wieder-
um ist ein möglicher nachträglicher Kandi-
dat für Solidarity.
Noch ist unklar, ob eines der Mittel die
große Erleichterung bringen wird. Wenn
ja, wird es wieder auf die Solidarität der
Länder ankommen – um möglichst vielen
Patienten weltweit die Behandlung zu-
kommen zu lassen. kathrin zinkant

Zugegeben: Die Ähnlichkeit ist nicht ge-
rade offensichtlich. Aber dieses Wesen,
das etwa die Größe eines Reiskorns hat, ist
der älteste bisher bekannte Vorfahre vieler
Tiere, einschließlich des Menschen. Ein
Team aus Paläontologen und Geologen der
University of California fand gleich mehre-
re Fossilien der Tierchen im südaustrali-
schen Nilpena, und zwar in Gesteinsschich-
ten, die Schätzungen zufolge mindestens
555 Millionen Jahre alt sind (PNAS).
Das Besondere an dem Wesen, genannt
Ikaria wariootia, ist, dass es bilateral
strukturiert ist. Es hat also eine linke und
eine rechte Körperhälfte, die – zumindest
im frühen Entwicklungsstadium – spiegel-
bildlich aufgebaut sind. Die meisten heute
lebenden Tiere, egal ob Regenwurm,
Schmetterling, Garnele, Hund oder
Mensch, sind solche „Bilateria“ oder Zwei-
seitentiere. Weitere Merkmale sind ein Vor-
der- und ein Hinterende sowie ein Darm
mit zwei offenen Enden. Schätzungen zu-
folge hat sich diese Art der Körperorganisa-
tion im Ediacarium entwickelt, einer Perio-
de der Erdgeschichte, die vor etwa 541 Mil-
lionen Jahren zu Ende ging.
Die Forscher sind sich sicher, dass Ika-
ria wariootia ein Zweiseitentier ist, unter
anderem hat sie ein dickes und ein dünnes
Ende, also ein Vorne und Hinten. Aus dem
Vorne hat sich im Lauf der Evolution unter
anderem der Kopf der heute existierenden


Arten entwickelt; aus dem Hinten etwa die
Schwänze. Höchstwahrscheinlich habe Ika-
ria vorne ein Maul gehabt und hinten einen
Anus – beides verbunden durch einen
Darm, schreiben die Autoren der aktuellen
Studie.
In der Evolution der Tiere war die Ent-
stehung der bilateralen Symmetrie ein
entscheidender Schritt. Unter anderem ist
sie die Voraussetzung dafür, sich gezielt in
eine bestimmte Richtung bewegen zu kön-
nen. tina baier

Ein trainierter 60-Jähriger kann
besser mit Covid-19 fertig werden
als ein schlapper 40-Jähriger

Offene Türen für das Virus


Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, mit dem Rauchen aufzuhören: Das Laster erleichtert


Sars-CoV-2 den Angriff. Warum auch Herz-, Lungen- und Krebsleiden das Risiko erhöhen –


und was man tun kann, um sich gegen die Krankheit zu wappnen


Der größte Hoffnungsträger


bislang: Remdesivir, das als Mittel


gegen Ebola entwickelt wurde


Das Rennen beginnt


Die WHO testet sechs Wirkstoffe gegen Covid-


Die Erfindung des Hinterns


Bislang ältester Vorfahr fast aller Tiere entdeckt


Auch Diabetes ist problematisch,
besonders, wenn die Krankheit
schlecht eingestellt ist

Für Raucher ist die Corona-Pandemie gefährlicher. FOTO: IMAGO/ZUMA PRESS

(^14) WISSEN Mittwoch, 25. März 2020, Nr. 71 DEFGH
So könnte sie ausgesehen haben: Ikaria
wariootia. ILLUSTRATION: SOHAIL WASIF/UCR


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