Süddeutsche Zeitung - 25.03.2020

(Wang) #1
München– Die Schulen schließen? Es ist
keine zwei Wochen her, da hatten die Kul-
tusminister es noch abgelehnt – ehe schon
am Tag darauf ein Bundesland nach dem
nächsten wegen der Corona-Krise die
Schulen zumachte, zunächst bis nach Os-
tern. Die Debatte hat sich schnell weiterge-
dreht: Können überhaupt noch Prüfungen
geschrieben werden? Kann das Abitur wie
geplant stattfinden?
Nun ist Schleswig-Holsteins Bildungs-
ministerin Karin Prien (CDU) vorge-
prescht: Nach ihrem Willen sollen in die-
sem Schuljahr keine Abschlussprüfungen
mehr geschrieben werden. Die Abitur-
Klausuren sollen ausfallen, das Zeugnis
auf Basis der Noten vergeben werden, die
die Schülerinnen und Schüler in den Ober-
stufenhalbjahren gesammelt haben. „In
der derzeitigen Situation und der besonde-
ren Herausforderung nicht nur für unser
Schulsystem, sondern auch jeden Einzel-
nen von uns, halte ich diese Entscheidung
für geboten“, sagte Prien. Das schwarz-
grün-gelbe Landeskabinett in Kiel soll am
Mittwoch über den Vorschlag beraten, die
oppositionelle SPD hatte sich zuvor gegen
eine Abitur-Absage ausgesprochen. Auch
in Berlin wird über eine Absage des Abis
nachgedacht. Es sei sehr gut möglich, dass
die Länder in diesem Jahr einen alternati-
ven Weg zum Abitur verabreden müssen,
sagte Berlins Bildungssenatorin Sandra
Scheeres (SPD). Da in Berlin die Sommerfe-
rien schon im Juni beginnen, gebe es we-
nig Spielraum für eine Verschiebung.
Einige Bundesländer haben die Prüfun-
gen bislang verschoben. Am Freitag hatte
das Kultusministerium in Baden-Würt-
temberg mitgeteilt, dass alle zentralen Ab-
schlussprüfungen später stattfinden sol-
len. Zuvor hatten schon Bayern, Mecklen-
burg-Vorpommern und Thüringen die Prü-
fungen verlegt. Bayerns Kultusminister Mi-
chael Piazolo (Freie Wähler) will dem Bei-
spiel Schleswig-Holsteins nicht folgen:
„Unser Ziel ist es, die Abiturprüfungen
nach dem neuen Fahrplan ab dem 20. Mai
durchzuführen“, sagte er. „Für den Fall,
dass dies aufgrund aktuell noch nicht ab-
sehbarer kurzfristiger Entwicklungen
nicht möglich sein sollte, gibt es verschie-
dene alternative Lösungen.“ Andere Län-
der wollten ihre Termine zunächst beibe-
halten. Hamburg will das nun nach der An-
kündigung aus Kiel überdenken. Schulse-
nator Ties Rabe (SPD) nannte Alleingänge
in einer so wichtigen Frage „nicht vernünf-
tig“. bernd kramer  Seite 4

von wolfgang janisch

Karlsruhe– In diesen Zeiten, in denen die
Not zum Handeln drängt, gilt vielfach der
Satz: Nehmt es bloß nicht so genau mit den
Buchstaben des Gesetzes. Starke Männer
sind gefragt, die nicht lange fragen, son-
dern handeln. Und manchmal ist das viel-
leicht gar nicht so schlecht. Genau bese-
hen, ist die Rechtsgrundlage im Infektions-
schutzgesetz wackelig, mit der gerade die
Bevölkerung ins heimische Wohnzimmer
verbannt wurde. Aber mit einem zuge-
drückten Auge ließen sich die Ausgangsbe-
schränkungen auch juristisch vertreten –
und bitter nötig sind sie ohne Frage.


In dieser Woche soll, neben vielen ande-
ren Gesetzen, auch eine Verschärfung des
Infektionsschutzgesetzes beschlossen wer-
den. Dem Entwurf zufolge soll die Bundes-
regierung eine „epidemische Lage von nati-
onaler Tragweite“ ausrufen können, wenn
sie eine „ernsthafte Gefahr für die öffentli-
che Gesundheit in der gesamten Bundesre-
publik Deutschland festgestellt hat“. Also
genau jetzt zum Beispiel. Die Opposition
freilich möchte erreichen, dass allein der
Bundestag eine solche Lage feststellen
dürfte. Aber wer auch immer in wahr-
scheinlich naher Zukunft diese „epidemi-
sche Lage“ ausriefe, der läutete damit die
Stunde des starken Mannes ein. Sein Name
wäre Spahn. Jens Spahn.
In einer epidemischen Lage könnte der
Bundesgesundheitsminister Meldepflich-
ten an der Grenze anordnen, Vorgaben zur
Versorgung mit Medikamenten und
Schutzausrüstung machen, Vorkehrungen
für Krankenhäuser und Apotheken tref-
fen. Und vieles mehr. Klingt alles sinnvoll
und entspricht dem in Notzeiten verbreite-
ten Bedürfnis nach zentraler Führung. Flo-
rian Meinel, Professor für öffentliches
Recht in Würzburg, hält das Vorhaben aber
für so gefährlich, dass man kein Auge zu-
drücken, sondern beide Augen weit öffnen
sollte. Nicht, weil es für den Gesundheits-
schutz untauglich wäre, das ist nicht sein
Thema. Sondern weil damit elementare
Grundsätze der Verfassung unterlaufen
würden: der Föderalismus und die Bin-
dung der Regierung an parlamentarische
Gesetze. „Damit schlagen wir langfristig ei-
nen ganz problematischen Weg ein“, sagte
er derSüddeutschen Zeitung.
Die föderale Aufgabenteilung sieht Mei-
nel in Gefahr, weil sich der Minister in ei-
ner „Lage“ kurzerhand an die Spitze der
Verwaltung setzt – obwohl die Verwaltung
grundsätzlich in den Händen der Länder
liegt. Das sei im Grundgesetz schlicht nicht


vorgesehen. Außerdem bestehe dafür kei-
nerlei Bedarf, jetzt, da es doch eigentlich
ganz gut laufe mit dem Föderalismus.
Noch wichtiger ist dem Juristen aber ein
zweiter Punkt – er hat mit dem Ermächti-
gungsgesetz von 1933 zu tun. Das muss
man jetzt ganz vorsichtig formulieren, weil
Meinel damit natürlich keinerlei Naziver-
gleiche ziehen will. Es geht vielmehr um ei-
ne Lehre, die das Grundgesetz aus dem un-
heilvollen Start des Hitlerregimes gezogen
hat: Die Exekutive ist an die Gesetze gebun-
den, die das gewählte Parlament erlassen
hat. Das gilt auch für Verordnungen, also je-
ne Regelwerke, die sich manchmal wie Ge-
setze lesen, aber keine sind, sondern vom
Ministerium in eigener Hoheit erlassen

werden. Sie bedürfen einer sehr präzisen
gesetzlichen Grundlage, die „Inhalt,
Zweck und Ausmaß“ regelt. So steht es in
Artikel 80 Grundgesetz, das Bundesverfas-
sungsgericht hat dies vielfach bekräftigt.
Schaut man nun in Spahns Gesetzent-
wurf, dann staunt man, welch gewaltiger
Spielraum dem Ministerium in einer epide-
mischen Lage zustehen soll. Ein Beispiel:
Derzeit wird unter Hochdruck nach einem
Impfstoff gegen Corona gesucht, aber die
Vorschriften für eine Zulassung neuer Me-
dikamente sind streng. Nach dem geplan-
ten Gesetz könnte der Bundesgesundheits-
minister „zur Sicherstellung der Versor-
gung mit Arzneimitteln“ Ausnahmen von
zahlreichen Gesetzen zulassen, vom Arz-

neimittelgesetz bis hin zur Zulassung von
Medizinprodukten. Er könnte also, mit an-
deren Worten, die Erprobung von Impfstof-
fen in der Bevölkerung erleichtern. Eine
schwerwiegende Entscheidung, die gravie-
rende Folgen haben könnte, wenn der Mas-
senversuch danebengeht. Soll das per Mi-
nister-Verordnung und ganz ohne Bundes-
tag oder Bundesrat möglich sein? „Das
muss der Gesetzgeber machen, dazu hat er
alle Möglichkeiten“, fordert Meinel.
Dass der Entwurf letztlich auf eine
„Blankettermächtigung“ für den Minister
hinausläuft, wie Meinel kritisiert, lässt
sich auch an einem weiteren Beispiel de-
monstrieren. Nach Paragraf 5 Absatz 3
Nr.3 soll der Minister „Ausnahmen“ vom

Infektionsschutzgesetz zulassen, also das
Gesetz teilweise außer Kraft setzen dür-
fen. Dafür aber müssten, siehe oben, diese
„Ausnahmen“ exakt umschrieben sein.
Doch dem Entwurf zufolge können Verord-
nungen bereits erlassen werden, „um die
Abläufe im Gesundheitswesen und die Ver-
sorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhal-
ten“. Die Abläufe im Gesundheitswesen,
die Versorgung der Bevölkerung – sehr viel
pauschaler geht es nicht. Darunter lässt
sich nach Meinels Einschätzung so ziem-
lich alles fassen, was rund um Corona dis-
kutiert wird. Womöglich könnte ein all-
mächtiger Minister Spahn damit sogar Aus-
gangssperren verhängen – über die Köpfe
der Söders oder Laschets hinweg.

Berlin –ARD, ZDF, CNN, RTL, FAS, BPK –
es gibt fast keinen Kanal mehr, auf dem
Olaf Scholz in diesen Tagen nicht sendet.
Die Corona-Krise lässt den wortkargen
Hanseaten über sich hinauswachsen.
Nicht nur, dass er plötzlich alles erklären
kann und auch will, etwa wer wo wie viel
Geld beantragen soll, um die Folgen der
Krise zu mildern. Der Bundesfinanzminis-
ter kann plötzlich auch empathisch sein.
Er macht Mut, er sagt Dank, und er ver-
spricht, beinahe jeden Wunsch zu prüfen.
Könnten Gehaltszulagen der Arbeitgeber
an ihre Beschäftigten für den Einsatz in
der Virus-Krise steuerfrei gestellt werden?
Wird geprüft, sagt Scholz am Dienstag bei
Bild-TV. Es gehe um „kleine zusätzliche Be-
träge“.
Olaf Scholz ist ganz klar zurück im politi-
schen Geschäft; er ist nach Bundeskanzle-
rin Angela Merkel (CDU) der wichtigste Kri-
senmanager der Bundesregierung gegen
Corona. Wenn er hustet, wird besorgt nach-
gefragt, ob das etwa das Virus sei. Man
bangt, bis das Testergebnis kommt und ist
erleichtert, dass es negativ ausfällt. Der
Bundesfinanzminister wird gebraucht,
um, und in dieser Einschätzung ist er sich
mit seiner Chefin einig, die vielleicht
schwerste Krise nach dem Zweiten Welt-
krieg in Deutschland zu bewältigen.
Überhaupt sind Angela Merkel und Olaf
Scholz ein eingespieltes Krisenteam. Der
Sozialdemokrat ist der einzige, der schon
dabei war im Jahr 2008, als die erste große
Koalition von Angela Merkel mit den Fol-
gen der dramatischen Banken- und Finanz-
krise zu kämpfen hatte. Weil die Banken
wankten, brach die Wirtschaft ein, Millio-
nen Arbeitnehmern drohte die Arbeitslo-
sigkeit. Damals war Olaf Scholz Arbeitsmi-
nister und erfand das Kurzarbeitergeld.


Dass das Team Scholz/Merkel einge-
spielt ist und schon einmal erfolgreich in
der Krisenbekämpfung war, ist zumindest
eine kleine gute Nachricht. Man muss also
auch keine Sorge haben, dass es am Mitt-
woch im Bundestag schiefgehen könnte.
Die Bundeskanzlerin wird nicht dabei sein,
wenn die Abgeordneten in ungewöhnli-
cher Sitzordnung – Abstandsregel einhal-
ten – und ungewöhnlicher Geschwindig-
keit – erste, zweite, dritte Lesung binnen
weniger Stunden – das in wenigen Tagen
aufgestellte Gesetzespaket mit den Corona-
Hilfen verabschieden sollen. Weil Angela
Merkel in Quarantäne ist, und auch nicht
per Video zugeschaltet werden soll, wird
sie nur auf Phönix verfolgen können, was
im Bundestag passiert. Der Vizekanzler
wird sie erstmals im Bundestag vertreten –
rein protokollarisch, wie man in seinem
Umfeld betont.
Olaf Scholz soll um 9.10 Uhr vor das Ple-
num treten, um seinen Nachtragshaushalt
einzubringen; insgesamt hat er ein Paket
von 756 Milliarden Euro schnüren lassen.
Das war bei dem Minister, der für seinen
Hang zum Mikromanagement bekannt ist,
so nicht zu erwarten gewesen. „Klotzen,
nicht kleckern“ ist die Devise von Olaf
Scholz in der Krise, und bisher hat er es ge-
schafft, dass alle mitziehen. Die Minister-
kollegen von der Union sind an Bord, die
Fraktionen im Bundestag, sogar die meis-
ten Oppositionspolitiker, von denen man
in diesen dramatischen Tagen der um sich
greifenden Epidemie sowieso keinen Wi-
derspruch erwartet. Abgerechnet wird
erst, wenn das Virus besiegt ist. In der aku-
ten Krise fordern Scholz und auch die Kanz-
lerin eine „nationale Kraftanstrengung“, al-
le müssen mitmachen, sich an die Regeln
halten.

Ein bisschen nervös werden die Kanzle-
rin am Bildschirm und ihr Vertreter im Bun-
destag am Mittwoch dennoch sein. Schließ-
lich steht eine etwas heikle Abstimmung
bevor. Weil der Bund deutlich mehr neue
Schulden machen will als die im Grundge-
setz verankerte Schuldenbremse es er-
laubt, soll die Klausel für „außergewöhnli-
che Notsituationen“aktiviert werden. Da-
für braucht es eine sogenannte Kanzler-
mehrheit im Bundestag; konkret also eine
Zustimmung von mindestens 355 Parla-
mentariern. Damit nichts schiefgeht, hat
Scholz viele Kontakte zu den Abgeordne-
ten gesucht; hat sich etwa zuschalten las-
sen zur virtuellen FDP-Fraktionssitzung.

Es läuft, könnte man meinen, wären da
nicht die Umfragen. In Krisen schlagen ja
immer die Stunden der Exekutive, das Ver-
trauen der Bürger in ihre Politiker steigt.
Die aktuellen Umfragewerte spiegeln das
wider, sie schwanken bei plus fünf bis
sechs Prozentpunkten für die Union. Aber
nur bei plus einen bis zwei für die SPD. In
der Krise ist also bisher vor allem das Ver-
trauen in die Union gestiegen. Das mag
auch mit daran liegen, dass der bayerische
Ministerpräsident Markus Söder sich be-
sonders hervorgetan hat. Aber natürlich ist
es auch, dass es für Scholz und die SPD das
bekannte Problem gibt: Wer ist Koch und
wer ist Kellner. Die Bürger vertrauen der
Kanzlerin mehr als dem Vizekanzler. Der
Krisenmanager Scholz zahlt sich noch
nicht für die SPD aus; aber auch hier gilt,
dass erst nach der Krise abgerechnet wird.
In der SPD staunen jetzt auch einige,
wie gut sich Scholz schlägt, ganz beson-
ders oben an der Spitze. Dort regieren seit
Dezember Saskia Esken und Norbert Wal-
ter-Borjans. Das dachten sie jedenfalls, bis
das Virus kam und Scholz wieder zum Ge-
sicht der Sozialdemokratie gemacht hat.
Neu ist aber auch, dass die Parteiführung
trotzdem allem zusammenhält. Die engere
Parteiführung hat ja schon länger eine In-
ternetgruppe gegründet, die rege Nachrich-
ten austauscht. Wenn Olaf Scholz mal
nicht irgendwo auftritt oder in Verhandlun-
gen sitzt, dann bestimmt in einer Telefon-
schalte mit der Parteispitze. Die dürfte
jetzt weniger an dem Bundesfinanzminis-
ter zu kritisieren haben, schließlich sind ei-
nige ihrer Forderungen inzwischen obso-
let geworden. Den ausgeglichenen Haus-
halt hat Scholz aufgegeben, die Investitio-
nen trotzdem hoch gehalten, zumindest
auf dem Papier. Scholz will lieber neue
Schulden machen als sparen. Walter-Bor-
jans hatte ihm ja einst im internen Wahl-
kampf um den Parteivorsitz vorgeworfen,
das Land mit der schwarzen Null strangu-
liert zu haben. Dieses Seil ist nun weg.
cerstin gammelin, mike szymanski

Mit harter Hand regieren: Jens Spahn – hier vor zwei Wochen im Bundestag – könnte bald neue Befugnisse bekommen. FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA

Erfahrung mit Notlagen: Finanzminister Olaf Scholz bekämpfte schon 2008 die Fi-
nanzkrise, unter anderem durch Kurzarbeitergeld. FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA


DEFGH Nr. 71, Mittwoch, 25. März 2020 (^) POLITIK HF2 5
Abitur im Norden
soll ausfallen
Schleswig-Holstein will alle
Abschlussprüfungen absagen
Vollmacht für den starken Mann
Um gegen Epidemien entschlossen vorgehen zu können, soll das Infektionsschutzgesetz verschärft werden.
Der Bundesgesundheitsminister könnte dann im Alleingang entscheiden. Doch ist das verfassungsgemäß?
Da Kanzlerin Merkel unter
Quarantäne steht, wird Scholz sie
erstmals im Bundestag vertreten
Im Grundgesetz wurden Lehren
aus dem Ermächtigungsgesetz
von 1933 gezogen
Klotzen mit der Kanzlermehrheit
756 Milliarden Euro gegen die Krise: Den Bundestag erwartet eine heikle Abstimmung

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