Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.04.2020

(Ann) #1

D


asind zweiPaare, die sich
langeZeit schon kennen.
Die Männer begegnetensich
in derStudienzeit, dieFrau-
en warenseit der KindheitFreundin-
nen. Es sind vier Menschen, die in ih-
renTemperamenten nicht unterschied-
licher seinkönnten. Der neueRoman
der englischenAutorinTessa Hadley,
2019 im Originalals „Lateinthe Day“
in Großbritannien erschienen, erzählt
aus deren Leben über drei Jahrzehnte
hinweg. Inzwischen sind sie alle in der
Mitteihrer Fünfziger.Esist eines dieser
Bücher,von denen man nicht lassen
kann, man liestweiter ,geht einStück
Wegs mit diesenFremden, die immer
vertrauterwerden.
Da is tAlex, dessenElter naus Polen
nach Londonkamen,dem Vaterblieb
die Anerkennung als Schriftsteller ver-
sagt.Alex’ erste Ehe,die er wegendes
Sohnes Sandygeschlo ssen hat, schei-
tert.Eine düstereSeitebeherrscht ihn,
derselbstfrustriertals Dichter ist;als
Lehreraneiner Grundschule hater
eine Aufgabe gefunden.Unddaist
Zachary, sein ungleicherFreundaus
Studienzeiten, liebenswert und stets
aufAusgleich bedacht, einwenig pom-
pös, großzügig nichtnur,weil er es sich
leistenkann; er führterfolgreicheine
Galerie in London. Da istChristine,
die aus gutbürgerlichen Verhältnissen
kommt,strebsam in ihremStudium,
nach außen hinkühl un ddiszipliniert;
siearbeit et für sichals Künstle rin
ohne nennenswertenErfolg, aus inne-
rerNotwendigkeit.Unddaist Lydia,
derenElter neinenPub betreiben.Ly-
diais tsinnlichund attraktiv,eineunbe-
rechenbar eDramaqueen, fü rKonzen-
tratio nund verantwortlichesHandeln
nichtgemacht.
Lydia warinden frühenJahrenver-
sessen auf den kompliziertenAlex,
ohne Erfolg. Christine und derflam-
boyanteZachar ywaren ein einander
freundlichzugewandtesPärchen. Doch
es sollteanderskommen. Christine und
Alexfinden zueinander,sie haben die
gemeinsamestrebsameTochter Isobel.
Dafü rsteigt Lydia in denLuxus ein,
den Zacharyihr bie tenkann, sie haben
dieeigenwilligeTochterGrace,dieBild-
hauereiinGlasgowstudiert. Diebeiden
Paarebleiben über all die Jahrehin
Freunde, in einemprekärenGleich-
gewicht, das sie ingemeinsamenUnter-
nehmungen undReisen immer wieder
zu untermauern suchen.
Am Beginn desRomanssteht eine
Katastrophe, die das zerbrechliche Ar-
rangement–„Zwei und zwei“, so der
deuts cheTitel –neuaufmischt.Dasgan-
ze Konstruktkommt insWanken. „Sie
hörtenMusik,als dasTelefon klingel-
te“, lautet der er ste Satz desRomans.
Christine lauscht der Musik, Alexliegt
auf dem Sofa. Christine nimmt ab,
Lydia ruft aus einem Krankenhaus an,
wirrgenug,Zacharyhatteeine Herz-
attacke.Endlichsagt Lydia: „Warum
hörst du nicht zu, Christine? Ichsage
doch, er isttot.“ Das hattesie vorher
nicht gesagt. Christine und Alexneh-
men Lydia in ihrer bescheidenenWoh-
nung auf, weil sie es daheim allein
nicht aushält.DortwirdLydia, ein paar
Seiten weiter ,Christine ihren
„Schmerz“ bekennen, aber auch: „Dir
mussich die Wahrheit sagen, sonstnie-
mandem. Anderskann ic hesnicht er-
tragen. Duweißt, dasseskeine Liebe
ist, nichtwahr?“

Vonhier aus entfaltet TessaHadley
ihreGeschichte, in die sie auchdie Kin-
der vonAlexund Christine undvonLy-
dia undZacharyeinflicht.Vor allem
aber blendetsie die früheZeit der un-
gleichenPaareein in siebenKapitel,
die sie souverän miteinander ver-
schränkt.Mit großartiger Geduld lässt
sie die Charaktereihrer Protagonisten
voruns er stehen. Immer wieder gibt es
Schnittstellen wieWegkreuzungen, an
denen das Knirschen im Gebälk dieser
gegenalle Flaggen aufrechterhaltenen
Freundschaften aufbricht.Einmal,
nochfrüh, als Christine mitZachary
liiertist,erkennt deren lebenskluge
Mutter instinktiv denReiz, denLydia
auf Zacharyausübt;Christine steckt
das auf ihredisziplinierte Artein.
Dann, später bei einemgemeinsamen
Ausflug der vier nachVenedig, derge-
genüber dem Beginn der Handlung
zehn Jahrezurückliegt,kommt es zu
einerKonfliktsituation,inderdieFragi-
lität dieserNähe aufbricht.Und auch
bitter wirddas noc hsein können, nach-
dem eben aus demVierer -ein Dreier-
gespanngeworden is t.
In Hadleys glasklarer Prosa, dievon
den Belastungen desAlltags in Eheund
Elternschaftund vonden Bedingungen
und Schwierigkeiten desAlterns han-
delt, wirddas Begehren sichtbar ,das mit
aller Anstrengung unterder Oberfläche
gehalten ist, genähr tvon Ent-
täuschungen undgetragenvom Schein
bürgerl iche rExistenz, diedeneinstigen
gemeinsamenAufbruc hinden achtziger
Jahrenüberdeckt. Hadl ey lässtdie Wün-

sche imRaum stehen, undwosie –spät
–eindrin gen, bleibtsie diskret,ohnedie
hartenKanten de rAmbivalenzenzuver-
schleiern. In denKindern, die inzwi-
schen jungeErwachsene sind, spiegeln
sichdie Ir rungen un dWirrungen und
ExaltationenderEl tern,nunun terverän-
dertengesells chaftlichen Bedingungen.
Soentstehtei nQuartett-SpielmitNe-
benfiguren, das dieAutorin–in der
Positioneiner viel wissenden Beobach-
terin–vonaußen beleuchtet, ohne al-
les ins Licht zu zerren. Der souveräne
Stilih rerProsaerlaubtHadleypunktuel-
le Tiefenbohrungen in die Seelen ihrer
Personen, unaufdringlichund lebenser-
fahren. Der deutscheTitel „Zwei und
zwei“, in derfeinfühligenÜbersetzung
vonGertraude Krueger,passt zum klu-
genKalkül. Die Versuchsanordnung
mit jenen einstbohèmehaftenExisten-
zenvollerIllusionenhatnichtsGeküns-
teltes. So finden Menschen eben zu-
einander,bleiben beisammen,bis die
Fassaden zu bröckeln beginnen.
TessaHadle y, Jahrgang 1956 und
spät zumeigenen literarischen Schrei-
ben gekommen, erzählt in derTradi-
tion einesRealismus,den es garnicht
mehroft gibt.Das is twunder voll zu
lesen, denn sie hatdie rargewordene
Gabe einesruhigen Erzählflusses, der
dennochodergerade deshalbfesselt.
Sie is teine scharfsinnige Beobachte-
rin, unerbittlichist sie nicht,sieisthell-
sichtig. Dabei schimmert ihreProsa in
einerschwebenden Ironie, die sich nie
über dievonihr geschilderten Geschi-
ckeerhebt.Und die Autorinschlägt
sichnicht aufdie Seiteeiner derFrau-
en odereines der Männer,immer wägt
sie in ihren Schilderungensorgfältig
ab. Es mag sein, dass ihrkaum spürbar
der sichverschwendendeZacharynah
ist, und am nächstenstehtsie vielleicht
Christine.Weilnämlichsooftdie simp-
le Arithmetik desLebensnicht auf-
geht.Dochdaist eineChance,latein
theday,spätamTag, noc heinmalanzu-
fangen mit dem,waszählt–am Ende
des Tages. ROSE-MARIAGROPP

Tessa Hadley:
„Zwei und zwei“.
Roman.
Ausdem Englischen
vonGertraude Krueger.
KampaVerlag,
Züric h2020.
320 S.,geb., 22,– €.

Drei Familien–die eine jüdisch, die ande-
re muslimisch, die dritte protestantisch –
begegnen sichimPalästinades neunzehn-
tenJahrhunderts, sie arbeitenzusam-
men, lebenzusammen, heiraten unterein-
ander.IhreGeschichteerinnertan„ Na-
thanderWeise“,aberandersals Le ssings
Ringparabel wendetsich AviPrimors
neuer Roman nicht derZukunft, sondern
der Vergangenheit zu:Der Diplomat, der
von1993 bis 1999israelischer Botschaf-
terimfrischwiedervereinigtenDeutsch-
landwar und heute seinen fünfundacht-
zigstenGeburtstag begeht, schreibt sei-
nemStaat ein eschöne Vorgeschichte, die
es leider niegegeben hat.


Sie beginnt im Jahr 1869. David und
Neta Zemachleben seit einigerZeit in Je-
rusalem. Das jungeEhepaarkommt aus
Odessa, David istChefredakteur der heb-
räischen Lokalzeitung, dochsie sindkeine
Zionisten, denn Herzl wirdseine politi-
sche Bewegung erst Jahrzehntespäter
gründen. Sie sind moderne Juden aus der
weltoffenen Hafenstadt am Schwarzen
Meer, inderdieintellektuelleElitedesrus-
sischen Judentums sitzt.Sie sprechen He-
bräisch und sind nachPalästinagekom-
men, um ein neues Leben zu beginnen,
jenseits der Engedes Schtetls, in derRuss-
lands Judenkeine Zukunftmehr haben.
Dann begegnen sie dem PfarrerOswald
Simon, der ausWürttembergnachPalästi-
na gekommen ist. Er gehörtder pr otestan-
tischenTempelgesellschaftan,diedasHei-
ligeLand aufbauen will, um dieWieder-
kunftJesu herbeizuführen. Gernarbeiten
die Templer dabei auchmit Juden und
Muslimen zusammen.
Jerusalem liegt zu diesemZeitpunktin
der tiefsten Pr ovinz des Osmanischen
Reichs, in den Bergengelegen, istesnur
schwer zugänglich. Oswald schlägt dem
EhepaarZemachvor,sichamAufbau
einer Kutschenverbindung zu beteiligen,
die dieStadt mit derKüstenebeneverbin-
den soll. So lernen sie MustafaSamara
kennen, einen muslimischen Händler aus
der Hafenstadt Jaffa,und auchdieser
wohlhabende Mann beteiligt sichandem
Unternehmen.
AviPrimor führtdie Vertreter der drei
monotheistischenReligionen zusammen,
und gemeinsam lässt er sie ihr Heiliges
Land modernisieren. Nicht zufälligver-
wendeterdabei das Motiv derKutschen-
verbindung: Auf dieseWeise erschließen
zur gleichenZeit auc hdie Amerikaner ih-
renneuen Kontinent, undwo bald die Ei-
senbahnen fahrenwerden, wareneszu-
nächs tdie Pferdekutschen, der sogenann-
te Pony-Express, der die Außenpostender


Zivilisation mit derenZentrenverband.
Die Amerikaner erschließen denKonti-
nent aufKosten derUrbevölkerung–vor
denEisenbahnendesweißenMannesmüs-
sendie Indianerweichen–, dochimPaläs-
tinaAviPrimorsistesanders.Alleverbün-
densichhier,Einheimischeund Zugewan-
derte bauen das Land mitvereinten Kräf-
tenauf und machen es auf dieseWeise zu
ihremgemeinsamen Besitz.
Wirwissen leider,dassesnichtsogewe-
sen ist, und dennochist PrimorsErzäh-
lung keine Utopie wie Theodor HerzlsRo-
man „Altneuland“ aus dem Jahr 1902. In
einemfiktivenPalästina des Jahres 1923
angesiedelt, erdichteteauchHerzl darin
eine glückliche Gemeinschaftder Völker
und Religionen, dennvonden schreckli-
chenEreignissenvorderGründungdesJu-
denstaates ahnteerd amals nochnichts.
Primor schreibtkeinen Familienroman
über menschliche Beziehungenund Kon-
flikte, denn dieZeichnungfiktiverFigu-
renist nicht seinestarke Seite. Er schreibt
einen Roman über historische Ereignisse,
dochsie erscheinen in einer unvertrauten
Perspektive: Primor lässt d en Staat, den er
langeals Diplomatvertrete nhat, aus ei-
nem Ursprung erwachsen, der aucheine
andereMöglichkeit eröffnethätte.
Zentral dafür sind die Mischehen, die
die dreiFamilien miteinander eingehen.
Schon früh in derRomanhandlung, 1894,
heiratenWerner,der jüngste Sohn des
Pfarrers, und Sarah, dieTochter des Ehe-
paarsZemach.IneinemhistorischenJeru-
salem, das es so niegegeben hat, entwirft
Primor für seine Leser einen anderenNa-
hen Ostenund eine anderedeutsch-jüdi-
sche Geschichte. Auch sie is tniemals so
gewesen, und am Ende desRomans wird
Werner der Tragik nicht entgehen, mit der
die historische Realität ihnkonfrontiert.
DieseRealität, die er poetisch um-
schreibt,kennt AviPrimor nur allzugut.
Das zeigen viele Facetten seines Ro-
mans.Neben derarabischen Hafenstadt
Jaffa ,aus der dieFamilie Samara
stammt,wird1909 TelAviv gegründet,
undimErsten Weltkrieg hat diesejunge
Stadt manches zu leiden.Das Osmani-
sche Reich, das seinem Ende entgegen-
geht, schickt dentyrannischen Gouver-
neur CemalPaschanach Palästina. Er
hatdie Juden imVerdacht ,mit de nEng-
ländernzupaktieren, er vertreibt sie aus
TelAviv,und Primorvermerkt eineIro-
niede rGeschichte: Esistein mit denTür-
kenverbündeterdeutscher General,
Eric hvon Falkenhayn, der dieJuden vor
Cemal PaschasÜbergriffenschützt.
Danngehen dieFamilien eineweitere
Verbindung ein, und auchsie hat es nie-
mals sogegeben: Josef, ein deutsch-jüdi-
scher Enkel des Pfarrers Oswald Simon
und des EhepaarsZemach, heiratet Wafa,
die Enkelin Mustafa Samaras, der mit Jo-
sefsGroßelter neinstdie Kutschenverbin-
dung aufgebaut und eine Lebensfreund-
schaf tgeschlossen hatte. Das Jahr ihrer
Hochzeit, 1932, istominös–bald darauf
kommtHitler andieMacht,undinPalästi-
na bricht der arabische Aufstand gegen
die jüdische Einwanderung aus, die
sprunghaftangestiegen ist.
Die Welt hat sich radikalverändert,
undmit ihr auch dieTempler im Heiligen

Land.Auf den Pfarrerssohn Werner hat
das eineverheerendeWirkung. Er muss
erleben,wie über demTemplerho tel in
Jerusalem dieHakenkreuzfahnegehis st
wird. Seine deutsch-jüdischen Söhne zie-
hen auf englischer Seiteinden Kriegge-
genDeutschland,RommelsTruppenmar-
schierenvonÄgypten her aufPalästina
zu, und seiner innerenZerrissenheit
kann Werner nic ht mehr Herrwerden.
Noch vorder Schlacht bei El Alamein, in
der Rommelgeschlagen wird, begeht er
Selbstmord.
PrimorsRoman endetamVorabend der
israelischenStaatsgründung, und der er-
fahrene Diplomatversteckt seine interes-
santesten Details oftzwischen denZeilen.
Während des Kriegs entdeckenWerners
Söhne in der deutschenBotschaftinIstan-
bul ein SchreibenvonAvrahamStern,ei-
nem jüdischenTerroristen, der die briti-
sche Mandatsherrschaftbekämpfthatte.
Er bittet Hitler umWaffenlieferungen für
seineBandeundbie tetihmdafürseineHil-
fe in Palästina an.
Der Brief, so lesen wir,findetsichauf
dem „Schreibtisch desstellvertrete nden
Militärattachés der Botschaft,Rolf Pauls“.

Das warein Wehrmachtsoffizier,der am
Widerstand gegenHitler beteiligt war,
nachdem Krieg trat er in den diplomati-
schen Dienstein, 1965 wurde er Deutsch-
lands erster Botschafter in Israel. Drei
Jahrzehntespäter lerntePrimor ihn per-
sönlichkennen; in seinen Erinnerungen
spricht ervoller Hochachtung über ihn.
AviPrimorsDienstjahreals Botschaf-
terinDeutschlandwarentraumatischfür
Israel. MitYitzhakRabins Ermordung
schei terten dieFriedenshoffnungen,
aber Primorhat sie niemalsaufgegeben.
SeitBeginndes Jahrtausendsist er im
Ruhestand, und immer noch bemüht er
sichumden Frieden mit denPalästinen-
sern–alsRedner ,als Akademiker und
als Autor. JAKOB HESSING

Jonas Lüscher istder Gegenentwurf
zum Popliteraten. Er will erkennen, was
die Welt aus dem Innersten heraus zer-
fallen lässt, und bedient sichdazu an-
spruchsvollerMittelderdeutschenKlas-
siker :analytische Durchdringung und
ironischenTon.BeiallerLust amErzäh-
lensindseineBücherauchThesenlitera-
tur,verpackt inRollenprosa.Voreinem
Jahr stand Lüscher selbstfür seine Mei-
nung ein: als Dozent einerPoetikvorle-
sung der HochschuleSt.Gallen, die nun
als Bucherschienen ist. Lüscher erzählt
darin vomeigenenWerdegang, der ihn
nacheiner Ausbildung zum Schweizer
Grundschullehrer als Dramaturgfür die
EntwicklungvonDrehbüchernins deut-
sche Fernsehgeschäftbrachte. AusWi-
derwillen gegendessen zunehmende
Kommerzialisierung kündigte er und
studierte Philosophie.Lüscher sPromoti-

on über die Bedeutung des Erzählens
zurBe wältigunggesellschaftlicherKom-
plexitätfiel dann seiner schriftstelleri-
schen Karrierezum Opfer.Mit der Poe-
tikvorlesungbekommtmannuneineDi-
gest-Versiondes aufgegebenen Projekts.
Wärendie Wirtschaftswissenschaft-
lerausSt. Gall enunterdenZuhörernge-
wesen, wäre Lüscher mit seinen schlich-
tenökonomischen Ansichten nicht
durchgekommen.Wernochvom Mini-
max-Prinzip spricht–maximaler Ertrag
bei minimalem Ressourceneinsatz –,
der is timKlischeesteckengeblieben.
Unddadie zentrale Kritik Lüschers
dem gilt, waser„quantitativeBlen-
dung“ nennt, einer anZahlen orientier-
tenmathematisch-wissenschaftlichen
Welterklärung, istder Nachweis man-
gelnder Vertrautheitmitderen Behaup-
tungen ein Mankovon Gewicht.Das
kann man nichtwegerzählen. apl

AviPrimor:
„Weitwarder Himmel
überPalästina“.Roman.
Lübbe Verlag, Köln 2020.
336 S.,geb., 22,– €.

JonasLüscher:„Ins Erzählenflüchten“.
Poetikvorlesung.
Verlag C.H. Beck, München 2020. 111 S.,
br., 16,– €.

Ihr berühmtesterRomangehörtzuden
Büchernder Stunde,wie „DiePest“ von
AlbertCamus und„Verteidigung der Mis-
sionarsstellung“vonWolf Haas: Marlen
HaushofersEndzeitgeschichte„Die
Wand“ (1963) erzähltvoneiner Frau, die
bei einemWochenendausflug ins Jagd-
haus vonFreunden eines schönenFrüh-
lingsmorgens voneiner unerklärlichen
durchsichtigenWand überrascht wird, die
sievomRestderWelttrennt.Herausgeris-
sen aus derKomfortzone ihres fremd-
bestimmten Wirtschaftswunderlebens,
schlägt sie sichmit Hund,Katze undKuh
mühseligdurch und findetimGefängnis
der Waldeinsamkeit soetwa swie eine
neue Freiheit.
WieThomas Bernhards Erstling
„Frost“aus demselben Jahr ist„Die
Wand“ eine PhantasievomAusstieg aus
Zivilisation und Geschichte. Alsexisten-
tialistische Para bel vonnachhaltiger
Wucht zählt HaushofersOpus magnum
zu den Schlüsselwerkendes zwanzigsten
Jahrhunderts, immer wieder wurde seine
kulturkritische Botschaftneu gelesen –
psychoanalytischund ökologisch, pazifis-
tischund feministisch. 2012feierte Julian
Pölslerseindrückliche Verfilmung mit
Martina GedeckinternationalTriumphe.
Im Vorjahr entdeckteeine französische
Bloggerin HaushofersRoman in einem
Antiquariat und machteihn über Insta-
gramzum Sensationsbestseller.
Zu ihren Lebzeiten blieb Marlen Haus-
hoferdergroßeDurchbruc hversagt, auch
weil die oberösterreichische Försters-
tochter ausFrauenstein, andersals etwa
IngeborgBachmann,ihrLichtallzu bereit-
willig unter den Scheffelund ihr ePflich-
tenals Hausfrau und Mutter über ihre
Kunststellte. Die lähmendeRoutine in


EheundAlltag,diesie inihrenfrühenRo-
manen„Eine Handvoll Leben“ und „Die
Tapetentür“ beschreibt, hat Haushofer in
der Kleinstadt Steyrals Gattin eines als
SchürzenjägerverrufenenZahnarztes am
eigenen Leib erlebt.Nacheiner beglü-
ckend naturnahen, bedrückend gespens-
tergläubigen Kindheit imForsthaus, die
sie in demgrandiosenRoman „Himmel,
der nirgendwoendet“ vergegen wärtigt,
und einer traumatischenZeit im katholi-
schen Internat in Linzstudierte sie wäh-
rend des Krieges inWien Germanistik,
wurde schwanger undverheimlichtedie
Gebur tihresSohnesvorihrerbigott-from-
men Mutter.Eswar nicht der Kindes-

vater, den siespäterheiratete,undsieließ
sich, wiederum heimlich,vonihm schei-
den, ohne ihn (und die beiden Söhne) zu
verlassen, und ehelichteihn acht Jahre
später ein zweites Mal.
Marlen Haushofer lebteein Doppel-
lebenzwischenderProvinz unddenlitera-
rischen Kreisen inWien, in die siegele-
gentlichausriss. In ihremWerk machte
siedieseWidersprücheproduktiv,alsSpe-
zialistin für die Mechanik des Patriar-
chats, dieKollaboration derFrauen, die
perfide Bonhomieder Täter. „Wir töten
Stella“ heißt ihrebeklemmend ausweg-
lose –ebenfallsvonPölslerverfilmte–
Meisternovelle, in der ein junges Mäd-
chen als Hausgasteiner honettenFamilie
vonderen Oberhauptverführtund in den
Selbstmordgetrieben wird,während sei-
ne Frau tatenlos zuschaut.„Gerade diese
MischungvonDämonie und Idylle berei-
tetmir dasgrößteUnbehagen undfaszi-
niertmichzugleich“, bekannteHaushofer
gegenüber ihrem Mentor HansWeigel.
Ein letztes Mal beweistsie dies in ih-
remabgründig witzigen Eheroman„Die
Mansarde“, dessen Titeleinmal mehr
einenRückzugsortbenennt. Das Under-
statement ihres schnörkellosen Stils
täuscht vielleichtüber die Schärfe ihres
Blicks,die atemberaubendeRadikalität
ihrer Diagnose. HaushofersRealismus
mit doppeltem Boden gibt den Blickfrei
auf Abgründe, für die siekeinerlei meta-
physischenTrostbereithält.1970, noch
vorihrem fünfzigstenGeburts tag, stirbt
Marlen Haushofer an Knochenkrebs. Ihre
Prognose: „Blut, Fleisch, Knochen und
Haut, alles wirdein Häufchen Asche sein
und auchdas Gehirnwirdendlichauf-
hören zu denken. Dafür sei Gott bedankt,
den es nicht gibt.“

Daran, dassHaushofers(mit Paul Ce-
lan geteiltes) diesjähriges Doppeljubilä-
um –hunderster Geburts- und fünfzigster
Todestag–trotzKultbuchund Verfilmun-
genkaum zu bemerkenist,ist der Ullstein
Verlag schuld, dessen Ignoranzgegen-
über einer seiner bedeutendstenAutorin-
nen einem Boykottgleichkommt: Kein
Wort vonGeburts- undTodestagsteht
auf derWebsite, keinerleiVeranstaltun-
genwaren geplant,keine Werkausgabe
wirdvorgelegt.Dabei istHaushofer die
einzigeGröße der österreichischenNach-
kriegsliteratur,die bis heutekeine Edi-
tion erhalten hat.Und das LinzerAdal-
bert-Stifter-Institut,wo sichder Großteil
des Nach lasses befindet, hat 2018 eine
wissenschaftlic herstellteLeseausgabean-
geregt undkonzipiert und hätteauf eige-
ne Kosten auchderen Redaktion besorgt.
Die angereistenVerlagslektoren waren
hochzufrieden, dochihre Vorgesetzten
bliesen die Sache ab. Jetzt behauptetder
durchaus nichtbettelarmeVerlagdesBon-
nier-Konzerns in einemStatement,eine
weiter eöffentlicheFörderung sei „leider
nicht bewilligtword en“, obwohl dieVer-
lagsleitung mit ihrerAbsagejedem Ansu-
chen zuvorgeko mmenwar.
Nicht einmal eine Jubiläumsausgabe
der„Wand“hatmanbei Ullstein zus tande
gebracht, und der Erstling „Eine Hand-
voll Leben“, dessenRechte be iZsolnay/
Hanser liegen, ist2020 garüberhauptver-
griffen. Nicht minder skandalös sind die
Coverbilder,die Ullstein den lieferbaren
Taschenbüchernverpas st hat:weich-
gezeichneteFrauenporträts zwischenGar-
tenlaube und Groschenheft, die Marlen
Haushofer in die Galeriegenau jener
„Frauenliteratur“ zwängen, in der sie
nichtsverloren hat. DANIELASTRIGL

Quartett-Spiel


mit Nebenfi guren


So is tesleider


nie gewesen


AviPrimorsRoman „Weit warder Himmel über


Palästina“ erzählt einen alternativen Geschichtsverlauf


Jerusalem alsgemeinsamerOrt der Religionen FotoReuters

Marlen Haushofer Fotoimago

In der Aprilausgabe des
F.A.Z.-Bücher-Podcasts:
Woody Allens Memoiren
und der Migrationsroman
„American Dirt“ in der
Kritik ,LeseempfehlungenvonAutoren


blogs.faz.net/buecher-podcast


Das Gehirnwirdendlichaufhören zu denken


Der Roman „DieWand“ passt wieder mal zurZeit,doc hMarlen HaushofersVerlag verschläftihrDoppeljubiläum


NeuimBücher-Podcast


Viel wissen,nichts


verzerrenund


berüc kend erzählen: In


TessaHadle ys Roman


„Zweiund zwei“


kreuzensichdie Wege


vonvierMenschen.


EinAutorim


Klischee


SEITE 12·MITTWOCH,8.APRIL 2020·NR.84 Literatur FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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