Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

8 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 3. April 2020


Russisches Gedankenlesen


gegen Corona


Dass die russische Wissenschaft unter Putin immer korrupter


und dubioser wurde, ist inZeitender Corona-Krise nicht


hilfreich.Esmangelt an wissenschaftlichenAutoritäten.


Gastkommentar von Nikolai Klimeniouk


Migranten im Maghreb


stehen vor dem Nichts


Hunger, Elend,die Fluchtroutengesperrt – die Corona-


Pandemie trifft die Migranten imSüden des Mittelmeers hart.


Europasollte helfen.Gastkommentar von Beat Stauffer


Es gebekeine Coronavirus-Epidemie, alles nur
Panikmache, sagt ProfessorPawel Worobjow, Vor-
sitzender der MoskauerTherapeuten-Vereinigung
und MitgliedderAkademie der medizinischenWis-
senschaften, und wird von allerlei staatlichen und
regimetreuen Medien zitiert.Das sagt er imJanuar,
im Februar, sogar Mitte März. DerVirologe Felix
Jerschow, ein leitender Mitarbeiterdes Instituts für
Epidemiologie und Mikrobiologie und Mitglied
der Russischen Akademie derWissenschaften,be-
ton te noch am14. März, man solle nicht übertrei-
ben, die neue Krankheit sei nicht gefährlicher als
die Grippe. Der LungenarztAlexandr Tschutscha-
lin,ebenfallsAkademiemitglied, erklärte zur selben
Zeit, viel gefährlicher als dasVirus sei die Massen-
hysterie, man denke nur an Italien.
Am 22. März schickteRussland hundert Mili-
tärmediziner mit zehn Spezialfahrzeugen nach Ita-
lien. Offenbar nur, um die temperamentvollen Ita-
liener zu beruhigen,denn laut italienischen Medien
bestand die Hilfslieferung hauptsächlich aus nutz-
losem Desinfektionsgerät. Am 25. März verkün-
dete Professor Igor Gundarow, Epidemiologe und
Mitglied der Akademie der Naturwissenschaften,
die Sterblichkeit in Italien liege innerhalb norma-
ler Parameter, da passiere nichts Ungewöhnliches.
An jenemTag starben in Italien 753 Menschen an
Covid-19. DieLastwagen des italienischen Mili-
tärs, welche die Leichen aus Bergamo in die be-
nachbarten Orte zur Beerdigung brachten,erklärte
der russischeWissenschafter zu einer Propaganda-
posse der Behörden.
Sicherlich sind die russischen Wissenschaf-
ter nicht die Einzigen, die das neue Coronavirus
unterschätzten.Das spezifisch russische Problem
besteht aber darin, dass es wirklichschwer zu sa-
gen ist,welcheWissenschafter man üb erhaupt ernst
nehmen kann.Titel sind inRussland längst nicht
mehr aussagekräftig. Natürlich gibt es dort immer
nochexze llente Experten.Die grosseFrage ist aber,
woran man sie ausserhalb ihrerFachkreise erkennt.


Cissoko hat Hunger und weiss nicht mehr weiter.
Seine bescheidenen Einkünfte als Strassenhändler
in Casablancasind mit derVerhängung derAus-
gangssperrejäh versiegt.Nun sitzt er den ganzenTag
in seiner kleinenWohnung in einem armseligenAus-
senquartier der marokkanischenWirtschaftsmetro-
pole, die er sich mit acht anderen Senegalesen teilt.
Der rund 30-jährigeLastwagenfahrer, der Sene-
gal vor mehr als dreiJahren verlassen hat, um in
Europa sein Glück zu versuchen, teilt dieseLage
mit Zehntausenden anderer Migranten und Flücht-
linge in Marokko. Auch in Algerien undTunesien
sind unzählige Migranten ausLändern südlich der
Sahara gestrandet.Sie allekönnen mitkeiner staat-
lichen Hilfe rechnen.

DemSchicksalüberlassen
Am schlimmstenist di e Lage in Libyen. Mindestens
700 000 Menschen aus Staaten südlich der Sahara
befinden sich imLand. Die meisten dürften Gast-
arbeiter sein, wenn sich der Begriff in diesemKon-
text nicht verböte. Viele sind aber auch auf ihrem
Weg nach Europa gestrandet undversuchen,sich die
Überfahrt alsTagelöhner zu verdienen. Sie stehen
weiterhin Morgen für Morgen an den Strassenkreu-
zungen undVerkehrskreiseln inTripolis und zahl-
reichen anderen Städten auf der Suche nach Arbeit.
Doch zu verdienen gibt es nichts mehr, seit die
Arbeitgeber aufgrund der weitgehendenAusgangs-
sperre zu Hause bleiben. Auch dieBaufirmen, die
Maler- und Gipsergeschäfte, in denen vorwiegend
Afrikaner gearbeitet hatten, haben geschlossen.
Nun sind fast alle diese Migranten ihrem Schick-
sal überlassen.Sowieso schon schlecht behandelt,
aus gebeutet und stigmatisiert,können sie zudem
meist nicht mehr einkaufen, da viele der einfachen
Märkte und kleinenLäden dichtgemacht haben.
Auf medizinischeVersorgung in Notfällenkön-
nen sie nur in seltenenFällen hoffen, auf Almo-
sen ebenso wenig. Ihre Lage ist dramatisch. Denn
im Gegensatz zur Situation auf Lesbos und ande-
ren griechischen Inseln, wo die Geflüchteten vom
Uno-Flüchtlingshilfswerk immerhin halbwegs ver-
sorgt werden, ist dies in Libyen – allein schon aus
Sicherheitsgründen – nicht derFall.
Die Lage für Flüchtlinge und Migranten im
Maghreb war noch nie schlimmer als in diesenTa-
gen. Denn die Angst vor einer weiterenAusbrei-
tung des Coronavirus führt alle Maghrebstaaten
dazu, sich nun vor allem um Präventionsmassnah-
men zum Schutz der eigenen Bevölkerung zu küm-
mern.Allein dies ist ein gewaltiges Unterfangen,
hat doch dieAusgangssperre für die ärmsten Men-
schen im Maghreb – fürTagelöhner, alleinstehende
Frauen,Arbeitslose und Kranke – verheerende
Auswirkungen. Millionen von Menschen wissen
nicht mehr, wie sie ihren Alltag bestreiten sollen.
Zwar sollen, etwa in Marokko, Menschen, die im
informellen Sektor tätig sind,schon bald eine mini-
mal e finanzielle Unterstützung erhalten. Ob dies
funktioniert und ob diese Zahlungen ausreichen,
um diese Menschen notdürftig zu versorgen, wird
sich erst noch zeigen. Klar ist aber:Ressourcen für
Flüchtlinge und Migranten dürftenkaum zurVer-
fügung stehen.

Europa sollte den Maghrebstaaten in dieser
schwierigenSitua tion unter die Arme greifen. Mit
Überlebenshilfe für Flüchtlinge und Migranten,
vielleicht auch mit Unterstützung für die Ärmsten
in diesenLändern.Das ist leicht gesagt in Zeiten,
wo alle europäischen Staaten schwer gefordert sind
bei der Bewältigung derPandemie. Und dennoch
wäre es sinnvoll,eine gewisse Hilfe zu leisten – auch
im Hinblick auf eine zukünftige Zusammenarbeit
in Migrationsfragen.

Zum Erliegen gekommen
Die irreguläre Migration vom Maghreb in Rich-
tung Europa ist in den letztenWochen fast voll-
ständig zum Erliegen gekommen.Aufgrund der
striktenAusgangssperre sind nun dieTransporte
vom Landesinnern hin zurKüste kaum mehr mög-
lich. Zudem sind die See- undLandgrenzen ge-
schlossen. Sowohl für afrikanische Flüchtlinge wie
auchfür die maghrebinischen «Harraga» (irregu-
läre Migranten) ist es nunfast unmöglich geworden,
illegal nach Europa auszureisen. Arrangiert haben
sich hingegen die Schlepper, welche bis vor kurzem
Mig ranten durch die libyscheWüste transportiert
haben. Sie bringen nun imAuftrag von General
Haftar Söldner aus dem Sudan und aus Sahelstaa-
ten an die Bürgerkriegsfront imWesten Libyens.
Von denKüsten Nordafrikas legen deshalb zur-
zeit so wenige Boote ab wie seitJahren nicht mehr,
und die Zahlen derAnkünfte von Flüchtlingen und
Mig ranten im Süden Europas sind sehr tief. Laut
dem UNHCR haben im März 2020 gerade einmal
241 Migranten dieKüsten Italiens erreicht.
Doch das wird nicht so bleiben.Nach dem Ab-
flauen der Corona-Pandemiein den Maghrebstaa-
ten dürften viele junge Maghrebiner erstrecht auf
eine Ausreise nach Europa setzen,da sienoch weni-
ger als zuvor anPerspektiven in ihren Ländern glau-
ben. Und auch die Fluchtbewegungen aus den Staa-
ten südlich der Saharakönnten schon bald wieder
stark anschwellen.Wenn sich Europa nicht schon
jetzt anschickt, neue Strategien für den Umgang
mit dem zu erwartenden Zustrom von Migranten
und Flüchtlingen zu entwickeln, ist es absehbar,
dass es schon in wenigen Monaten zu einer weite-
ren Einwanderungskrisekommen wird.

Beat Sta ufferist Buchautorund Journalist mit Schwer-
punkt Maghreb, Migration,islamistischeBewegungen so-
wie Muslimein Europa.

Wer in Russland inden letztenJahrzehnten
eine Karriere in Forschung und Lehre machte,
hatte sich nicht unbedingt durch hervorragende
Fachleistungen ausgezeichnet. Eines der promi-
nentesten Beispiele dieser Art ist der Physiker
MichailKowaltschuk, seit 2005 Präsidentdes tr a-
di tionsreichenKurtschatow-Instituts für Nuklear-
physik. Gleichzeitig ist er aber auch einTeil des
«Kowaltschuk-Brüder» genanntenDuos. Die bei-
den eng mit Wladimir Putin befreundetenPeters-
burger gebieten über ein milliardenschweres
Finanz- und Medienimperium. Der Physiker gilt
auch als einer der Architekten der 2013 erfolg-
ten Entmachtung derRussischen Akademi e der

Wissenschaften, die ihn zwei Mal in einem gehei-
men Wahlverfahren nicht zum ordentlichen Mit-
glied gewählt hatte.
Doch schon lange bevor die chronisch unter-
finanzierte Akademie derRegierung unterwor-
fen wurde, war sie weitgehend zumVerwalter ihrer
wertvollen Immobilien verkommen.Ausserdem
wurden ab den neunzigerJahren trotz lauten Pro-
testen aus der altenAkademie unterschiedliche«al-
ternative» Akademien gegründet, wie die bereits
erwähnte Akademie der Naturwissenschaften. Sie
bekommen zwarkeine staatlicheFinanzierung,
halten aber Mitgliederversammlungen undTagun-
gen in spektakulären, staatstragendenRäumlich-

keiten ab, verl eihenTitel, unter anderem an hohe
Beamte, und tragen zur Untergrabung derAutori-
tät derWissenschaft bei.
Seit Jahren decken zivilgesellschaftliche Aktivis-
ten Plagiate und unrechtmässigeVerleihungen von
Doktortiteln auf. Die 2013 gegründete Initiative Dis-
sernet listetauf ihrer Website allein 139 Direktoren
und Vizedirektoren wissenschaftlicherForschungs-
institute und149 Rektoren von Hochschulen und
Universitäten,die ihreTitel unrechtmässigerworben
haben sollen. Die sind aber nicht nur Profiteure, son-
dern auch Ermöglicher und Betreiber des Handels
mit gefälschten Doktorarbeiten,einer Krankheit, an
der alle Wissenschaftsbereiche inRussland leiden.
Die Medizin ist leiderkeine Ausnahme.
Nach einer langen Phase des Leugnens undVer-
harmlosens ergreifen nun die russischen Behörden
Massnahmen gegen die Corona-Epidemie. Dass
diese Massnahmen teilweise erratisch wirken, darf
nicht überraschen,denn die russischen Machthaber
haben sich selbst um die Möglichkeit einerkompe-
tenten wissenschaftlichen Beratung gebracht.Da-
für blühen in der russischen Machtelite Aberglau-
ben und Pseudowissenschaften.
Der Chef der Präsidialverwaltung AntonWaino
zum Beispiel patentierte ein Gerät, das er Noos-
kop nannte. Es soll daskollektive Bewusstsein
der Menschheit scannen, damitkönne man die
Welt besser manipulieren.Aus Putins unmittel-
barem Umfeld wurde öfters verkündet, man ver-
füge über «Psychogeneratoren» aus Altbestän-
den des KGB, mit deren Hilfe man Gedanken le-
sen könne; so habe man imKopf der ehemaligen
US-Aussenministerin Madeleine Albright gelesen.
Die einzige Hoffnung auf die erfolgreiche Eindäm-
mung der Coronavirus-Epidemie inRussland be-
steht wohl darin, dass dieRegierung in den richti-
gen Köpfen liest.

Nikolai Klimenioukwurde 1970 inSewastopol auf der
Krimgeboren und lebt heute als freier Autorin Berlin.

In der marokkanischen Hauptstadt Rabat istwegen der Corona-Krise Heimquarantäne angesagt. EPA


Nach der Pandemie dürften
viele junge Maghrebiner erst
recht auf eine Ausreise nach
Europa setzen.
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