Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
Die Corona-Pandemie, heißt es, läute das
Ende einer Ära ein. Vielleicht bietet die Art
und Weise, wie die Gesellschaft auf sie re-
agiert aber auch eine Ahnung der Zukunft.
Wie viele Leute zum Beispiel werden, sollte
die Krise einmal ausgestanden sein, nicht
mehr ins Büro zurückkehren, sondern für
immer im Home Office bleiben?
Was in normalen Zeiten eine bessere Ver-
einbarkeit von Beruf und Restleben ver-
spricht, birgt auch eine reale Gefahr. Denn
je näher die Arbeitswelt in die eigene Woh-
nung vorrückt, desto eher erodiert auch die
Privatsphäre. Nicht nur, weil man sich
durch die räumliche Nähe des Arbeitsplat-
zes noch eher genötigt fühlt, auch außer-
halb der Bürozeiten auf die Nachrichten
vom Chef zu reagieren.
Sondern auch, weil jener Chef natürlich
sichergehen will, dass der Heimarbeiter
auch wirklich die Präsentation vorbereitet,
statt in der Küche zu saugen.
In Zeiten des Home Office ist die Stem-
peluhr ein veraltetes Instrument, um Pro-
duktivitätssignale aufzuzeichnen. Zu den
zeitgemäßeren Methoden gehört es, dass
die Beschäftigten in manchen Unterneh-
men ihren Vorgesetzten beispielsweise Zu-
griff auf Nachrichten im E-Mail-Postfach
oder in Chat-Software wie etwa Slack ge-
währen müssen.

In anderen Fällen ist die Software ein-
fach so beliebt, dass über ihre Nachteile ger-
ne hinweggesehen wird. Bis vergangene
Woche bot etwa Zoom, die Videokonferenz-
software, deren Popularität seit dem Coro-
na-Ausbruch ähnlich exponentiell steigt
wie die Kurven der Epidemiologen, eine
Funktion namens „Attention Tracking“ an.
Das bedeutete, dass derjenige, der die Kon-
ferenz ausrichtet, sehen kann, ob die Teil-
nehmer das entsprechende Fenster in ih-
rem Computer auch geöffnet haben. Auch
den Inhalt privater Nachrichten, die sich Zu-
schauer untereinander währenddessen
schicken, bekommt er nach Beendigung in
Form eines Transkripts zugesandt.
Spezielle Programme zum Mitarbeiter-
tracking gab es freilich schon vor Corona,
die momentanen Umstände beschleunigen
jetzt nur den Trend. Wie Bloomberg in der
vergangenen Woche berichtet, komme es
jedenfalls nicht nur in Supermärkten, son-
dern auch im Bereich der Arbeitsüberwa-
chung zu „Panikkäufen“. Wie so oft schei-
nen die Macher der entsprechenden Pro-
gramme zu naheliegenden Markennamen
zu neigen: Unternehmen wie Interguard,
Activetrack, Vericlock oder Time Doctor be-
richten davon, dass sich Anfragen und Ab-
satz in den vergangenen Wochen verdrei-
facht hätten. Deren Kunden haben nun Ein-
blick in die Tastatureingaben ihrer Ange-
stellten, können die von ihnen besuchten
Webseiten auswerten und in regelmäßigen
Abständen einen Screenshot mit der Lap-
top-Webcam aufnehmen. In anderen Fäl-
len werden die Beschäftigten dazu angehal-
ten, den gesamten Tag in einer Videokonfe-
renz eingeloggt zu bleiben.
Andere Anbieter kleiden die Überwa-
chungsmaßnahmen wenigstens mit dem
Deckmantel der mentalen Fürsorge aus.
Für eine jährliche Gebühr zwischen
250 000 und einer Million Dollar unter-
sucht das kanadische Unternehmen Recep-
tiviti die Nachrichten der Belegschaft auf
Anzeichen von Depressionen oder Burn-
out. Die wissenschaftliche Grundlage eini-
ger dieser Programme darf man dabei
durchaus als abenteuerlich bezeichnen.
So wird unter anderem analysiert, wie
häufig Mitarbeiter die Wörter „Ich“ und
„mich“ im Vergleich zu „Wir“ und „Uns“ be-
nutzen. Überwiegt die erste Person könnte
das ein Anzeichen für eine depressive Ver-
stimmung sein, so der amerikanische Psy-
chologe James Pennebaker, der prakti-
scherweise Mitgründer des Unternehmens
ist. In seinen Arbeiten fand er angeblich her-
aus, dass Schriftsteller, die Suizid began-
gen haben, in ihren Werken häufiger das
Wort „Ich“ benutzt haben, als Kollegen, die
vermeintlich bei psychisch besserer Ge-
sundheit waren. Nicht untersucht wurde je-
doch, ob auch permanente Überwachung
zu Verstimmungen führen könnte.
michael moorstedt

Es ist schon ein verwegener Gedanke, mit
dem Albert Camus seinen Essay „Der My-
thos des Sisyphos“ schließt. Sisyphos, Kö-
nig in der griechischen Mythologie, hat die
Götter einmal zu oft ausgetrickst, zur Stra-
fe lassen sie ihn einen riesigen Felsblock ei-
nen Berg hinaufwälzen, immer und immer
wieder, ohne Ende in Sicht. Oben angekom-
men, rollt der Stein wieder nach unten. Ein
grausames Schicksal. Camus schreibt:
„Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen
Menschen vorstellen.“
Werden die Corona-Pandemie und die
damit einhergehenden Zwangsmaßnah-
men ein absehbares Ende haben? Noch hat
kein Politiker gewagt, einen Zeitpunkt zu
nennen, an dem alles vorbei sein wird. Und
so kann es sich bisweilen zu Hause im
Wohnzimmer so anfühlen, als hätten wir
bis in alle Ewigkeit gegen das Virus zu
kämpfen. Daheim zu bleiben. Und immer
wieder Hände zu waschen. Die Vorstellung

von Sisyphos als glücklichem Menschen
kann hier Trost spenden: Wenn er es hinbe-
kommt, schaffen wir es auch.
Camus’ Existenzialismus entstammt ei-
ner Zeit, in der die bekannte Ordnung zer-
fiel. Der Faschismus kämpfte gegen die De-
mokratie und den Kommunismus, eine
Antwort auf letzte Fragen war von keinem
der Systeme zu erhoffen, von Gott ganz zu
schweigen. Während um ihn also der Krieg
tobt, entwirft Camus in seinem 1942 er-
schienenen Büchlein eine „Philosophie des
Absurden“. Der Mensch, dessen Natur es
ist, nach Erklärungen zu verlangen, trifft
darin auf eine Welt, die sich nicht erklären
lässt. Er kann daran verzweifeln oder sich
der Herausforderung stellen, der absurden
Welt die Stirn bieten. Camus’ Empfehlung
ist eindeutig: Der aufrechte Mensch muss
im Widerstand gegen die Umstände leben:
„Es gibt kein Schicksal, das durch Verach-
tung nicht überwunden werden kann.“

Zwei andere Auswege aus der hoff-
nungslosen Lage beschreibt Camus als
Schummelei. Sowohl der Selbstmord als
auch die Hinwendung zur Religion würden
lediglich bedeuten, den nötigen Kampf zu
vermeiden. Es ist kein Zufall, dass Camus
aus der Ich-Perspektive schreibt, er macht
sich selbst Mut. Aus der Erkenntnis, dass
die Welt und das Leben keinen Sinn haben,
folgert er „meine Auflehnung, meine Frei-
heit und meine Leidenschaft.“ Er emp-
fiehlt ein Nicht-Nachgeben, das alle Wider-
stände bezwingt. „Wenn man alles recht be-
trachtet, wird eine entschlossene Seele
stets damit zurechtkommen.“
Es handelt sich aber bei Camus nicht
um eine Philosophie der Hoffnung, son-
dern um eine der Akzeptanz. Und das ist
der wohl wichtigste Unterschied zur gegen-
wärtigen Lage. Es gibt natürlich ausrei-
chend und sehr berechtigt Hoffnung, dass
die Menschheit das Coronavirus eindäm-

men und seine katastrophalen Folgeschä-
den reparieren wird. Die Mittel der Aufleh-
nung und inneren Revolte jedoch, die Ca-
mus seinen Lesern vor 80 Jahren an die
Hand gab, taugen auch heute zur Krisenbe-
wältigung. Sisyphos also: Jedes Mal, wenn
er oben ankommt, rollt sein Felsen ins Tal
zurück. „Ich sehe, wie dieser Mann schwer-
fälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu
der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht
kennt“, schreibt Camus. Das sei die Stunde
des Bewusstseins: „In diesen Augenbli-
cken, in denen er den Gipfel verlässt und
allmählich in die Schlupfwinkel der Götter
entschwindet, ist er seinem Schicksal über-
legen.“
Hier lehnt sich einer gegen sein Schick-
sal auf, indem er es annimmt. Vielleicht ver-
langt die düstere Gegenwart auch von uns
einen solchen Akt der Revolte. Und sei es
nur durch Händewaschen und zu Hause
bleiben. dominik fürst

von lothar müller

M


useen und Ausstellungen führen
derzeit ein Ersatzleben im Inter-
net, damit ihre Sammlungen und
Sonderausstellungen trotz Schließung
und Shutdown in der Sichtbarkeit verblei-
ben, ja womöglich sogar an Sichtbarkeit ge-
winnen und ein größeres Publikum errei-
chen als je zuvor. In dem Maße, in dem sich
dieses Panorama der sekundären Sichtbar-
keit entfaltet, tritt hervor, wie unterschied-
lich die Verluste sind, die durch den Entzug
der realen Räume und Objekte entstehen.
Es wäre ein lohnendes Unterfangen, je-
de Online-Variante einer geschlossenen
Ausstellung mit einem Hinweis auf ihren
spezifischen Verlustkoeffizienten zu verse-
hen. Die Faustregel lautet: je zäher die
Raumbindung der präsentierten Objekte,
desto höher der Verlustkoeffizient. Die Au-
ra eines Originals ist an die gleichzeitige
Anwesenheit von Gegenstand und Betrach-
ter in einem Raum gebunden, darauf be-
ruht die Kunstpilgerschaft zu Ausstellun-
gen klassischer und moderner Meister. Al-
le dreidimensionalen Gebilde können, so
sehr sie sich virtuell mit Kamerafahrten
umschmeicheln lassen, ihre Raumbin-
dung nicht an den Monitor delegieren. Nur
auf Postkarten haben alle Gemälde eine
glatte Oberfläche. Je näher man sie im Ori-
ginal betrachtet, desto mehr wird ihr Ober-
fläche , zumal in der Moderne, zum Relief.
Ende März hätte die erste große John-
Heartfield-Ausstellung seit Jahrzehnten
unter dem Titel „Fotografie plus Dynamit“
in der Berliner Akademie der Künste am
Pariser Platz eröffnet werden sollen. Was
daraus nach der Absage wurde, ist ein Lehr-
stück gelungener Kompensation, ein Multi-
media-Mix aus geschrumpftem digitalen
Ausstellungsparcours (https://www.john-
heartfield.de/), opulentem freigestellten
Online-Archiv (https://heartfield.adk.de),
gedrucktem Katalog und einer Special-In-
terest-Publikation, die Heartfields spätes
Adressbuch vorstellt. Das Fundament
der Ausstellung wie des digitalen „Kosmos

Heartfield“, der an ihre Stelle tritt, ist der
Nachlass des Künstlers im Archiv der Aka-
demie. Die Kuratorinnen Angela Lammert,
Rosa von der Schulenburg und Anna
Schultz konnten sich bei ihrer Arbeit auf
das Forschungs- und Digitalisierungspro-
jekt der Jahre 2017-2019 stützen. Es
schließt akustische Elemente wie das Inter-
view aus dem Jahre 1967 ein, in dem Heart-
field auf seine Herkunft und seine frühen
Jahre zurückblickt. Als Hellmuth Franz Jo-
seph Stolzenberg war er 1891 in Schmar-
gendorf bei Berlin, geboren. Warum die El-
tern, der sozialistische Schriftsteller Franz
Herzfelde und die Textilarbeiterin Alice
Stolzenberg, ihre vier Kinder 1898 verlie-
ßen, nachdem sie über die Schweiz noch in
die Nähe von Salzburg gelangt waren, ist
nie geklärt worden.
„Ein großer Maler wollte ich auf jeden
Fall werden“, sagt John Heartfield im
O-Ton und rekapituliert seinen Weg von
der Kunstgewerbeschule in München über
die Druckerei der Brüder Bauer in Mann-
heim bis zum Eintreffen in Berlin, wo er
1913 das Studium an der Kunst- und Hand-
werkerschule in Charlottenburg aufnahm.
In fünf schmalen Kapiteln folgt der digita-
le Parcours der Biografie und Entfaltung
des Werks vom Ersten Weltkrieg über das
Berlin der Weimarer Republik, das Exil zu-
nächst in Prag und dann in London bis hin
zur Rückkehr nach Deutschland im Jahr
1950 und neuerlichen Ansiedlung in Ber-
lin. Die visuelle Darbietung ist der Hand
mit den zupackenden fünf Fingern nachge-
bildet, die Heartfield für ein Wahlplakat
der KPD im Jahr 1928 entworfen hat.
Man kann dieses Plakat auf einer Litfaß-
säule anklicken. Auf den öffentlichen
Raum, nicht zuletzt den Stadtraum waren
die Arbeiten Heartfields von Beginn an be-
zogen. Sein politische Radikalismus ging
aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs
hervor, der ästhetische Radikalismus sei-
ner Bildsprache aus den Antworten auf
den Krieg bei George Grosz und in der Da-
da-Bewegung. Aus Protest gegen die Hass-
gesänge auf England hatte sich der Kriegs-

gegner in John Heartfield umbenannt,
Grosz hatte er bereits 1915 kennengelernt,
schon 1917 mit seinem jüngeren Bruder
Wieland Herzfelde den Malik Verlag ge-
gründet. In die KPD trat er unmittelbar
nach ihrer Gründung 1919 ein.
Aus den Schutzumschlägen für die Bü-
cher des Malik Verlages ist Heartfields
Kunst der Fotomontage herausgewach-
sen. Man sieht das am besten, wenn man
zusätzlich zum Ausstellungsparcours der
fünf Finger im Online-Archiv etwa den Na-
men Upton Sinclair eingibt, eines der wich-
tigsten Autoren des Verlags. Man erhält
dann 250 Treffer zu Romanen wie „Der
Sumpf“, „Jimmy Higgins“ oder „Die Wechs-
ler“, an denen die Nähe von Buchumschlag
und Plakat unübersehbar hervortritt.

Eine der ersten Originalmontagen He-
artfields entstand 1924 für die Schaufens-
terdekoration des Malik Verlages und sorg-
te für Tumulte unter den Passanten. Sie
hieß „Nach zehn Jahren: Väter und Söhne“
und zeigte in der Diagonale aufgereihte
Skelette, zu deren Füßen ein langer Zug
von Kindern mit Pickelhauben und Bajo-
netten vorbeizieht, auf einen Oberbefehls-
haber zu, der mit ordensdekorierter Brust
en face ins Publikum blickt. Erst zehn Jah-
re später wurde die Montage zur Druckvor-
lage für die von Willi Münzenberg heraus-
gegebene Arbeiter Illustrierte Zeitung
(AIZ), die ab 1930 zum wichtigsten Publika-
tionsorgan Heartfields wurde.
Hier erschien 1932 die Montage „Adolf,
der Übermensch: schluckt Gold, redet
Blech“ mit dem Hakenkreuz als Hitlers
Herzersatz und der in Röntgendarstellung
mit Goldstücken gefüllten Speiseröhre. Sie
wurde mit finanzieller Unterstützung
durch Harry Graf Kessler im Reichstags-
wahlkampf als Großformat plakatiert. Das
Großformat lässt sich in die digitale Dar-

stellung nicht hinüberretten, auf einer ele-
mentaren Ebene aber kommt die Kunst He-
artfields den Online-Formaten dadurch
entgegen, dass in ihr die massenhafte Re-
produktion das Entscheidende ist, nicht
das „Original“.
Der Verlustkoeffizient dieser Ausstel-
lung hält sich aber auch deshalb in Gren-
zen, weil sie sich weitgehend auf den „Kos-
mos Heartfield“ und seine zeithistorisch-
politische Lokalisierung beschränkt, ohne
den kunsthistorischen Kontext der Bilder-
sprache Heartfields zu erörtern. Spora-
disch bleiben die Seitenblicke etwa auf
Hannah Höch. Dafür treten die Arbeiten
für das Theater hervor, etwa für Inszenie-
rungen Erwin Piscators, und en passant
macht die Ausstellung deutlich, wie reso-
lut Heartfields Fotomontagen über das Col-
lage-Prinzip des Arrangements von Vorge-
fundenem hinausgingen. Eine Art Bühnen-
bild hat Heartfield 1931 bauen lassen, um
für den Einband von Upton Sinclairs „So
macht man Dollars“ (1931) die Banker an
den Verstrebungen des Dollarzeichens
hochklettern lassen zu können. Der Kata-
log, in dem viele Einzelaspekte noch ver-
tieft sind, ist zum Ausstellungspreis von
29,90 plus Versandkosten bei
http://www.adk.de/de/akademie/publikationen
zu erwerben.
Das Adressbuch der späten Jahre (John
Heartfield: Das Berliner Adressbuch
1950-1968. Herausgegeben von Christine Fi-
scher–Defoy und Michael Krejsa. Quintus
Verlag, Berlin 2020. 200 S., 18 Euro.) er-
gänzt die nach Öffnung der DDR-Archive
erstmals umfassend erschlossenen Jahre
Heartfields in der DDR, in der er zunächst
unter doppeltem Verdacht stand, als West-
emigrant und als Montagekünstler mit Nei-
gungen zum „Formalismus“. Erst 1957 wur-
de er, nicht zuletzt auf Betreiben Bertolt
Brechts, Mitglied der Akademie der Küns-
te. Ende 1960, Anfang 1961 nahm, wie der
Kommentar zum Adressbuch vermerkt, Ul-
rike Meinhof Kontakt zu Heartfield auf, sie
wollte ein Titelbild für konkret. Aber dar-
aus wurde nichts.

Leutnant Costa ist mitten im Krieg, mit
seinen Leuten versucht er ein französi-
sches Städtchen einzunehmen, in das
sich die Deutschen verbarrikadiert
haben, mit Panzern und SS.Ardennen
1944 heißt der Film von Robert Aldrich,
im OriginalAttack. Den schlimmeren
Gegner hat Costa aber hinter der Kampf-
linie, seinen Captain Cooney, der in der
Taktik tödlich stümpert, zur Flasche
greift und ein Feigling ist, Eddie Albert.
Er will dem Vater daheim imponieren
und lädt deshalb seinen Colonel, den
Lee Marvin spielt, zu feudalen Pokerpar-
tien mit Kentucky Bourbon ein. Den
Costa spielt der rebellische Jack Palan-
ce. Mit ihm hätte Fassbinder gern ge-
dreht, bei Godard war er in Le Mepris
der Hollywoodproduzent, der Fritz
Lang das Leben schwer macht. Die Leu-
te der Nouvelle Vague verehrten Al-
drich, weil er in Hollywood für die Unab-
hängigkeit des Filmemachens kämpfte.
In Godards erstem Film Außer Atem
geht Belmondo auf der Straße an einem
Plakat zu Ten Seconds to Hell vorbei,
und die Parole auf dem Plakat passt zu
Godards Film: Lebe gefährlich bis zum
Ende. Aldrich verachtet den Süden, sein
ungesundes Patriarchat, das damals
mit seinen durchgeknallten Söhnen in
den Stücken am Broadway herumspuk-
te – der Film basiert auf dem Stück
Fragile Fox von Norman Brooks. Wenn
ich mein Geschäft daheim so führen
würde wie die hier die Armee, nörgelt
Captain Cooney, wäre ich in einem Mo-
nat bankrott. Man sollte mal einen Busi-
nessman ranlassen ... (Was dabei raus-
kommt, sieht man in Amerika gerade in
der Politik, ganz ganz
oben.) Cooney ist in der
Jugend vom Vater schi-
kaniert worden, so
kauert er sich nun auf
der Pritsche zusam-
men wie ein kleines
Kind. (Explosive Me-
dia)


Ein Psychopath der Wissenschaften,
eher sympathisch, ist der Professor
Challenger, eine Figur von Arthur Co-
nan Doyle. Er will beweisen, dass das
Getier der Urzeit bis ins 20. Jahrhundert
überlebte, im Amazonasurwald. Eine
Expedition führt uns in dieseLost
World, ein Paradies mit Pterodaktylus
und Allosaurus. Belebt wurde es 1925
vom Trickkünstler Willis O’Brien und
seiner Stopmotion-Technik, der später
für King Kong tätig war. Ein Saurier,
nach London verschleppt, zerdeppert
die Tower Bridge. Challenger hat, auch
das kennt man nun aus der US-Politik,
cholerischen Hass auf die Presse, einen
Reporter verjagt er persönlich. (Studio
Hamburg)


Ein Jahr zuvor entstanden, dasWachsfi-
gurenkabinett, ein Klassiker der dämo-
nischen Leinwand von Paul Leni. Ein
junger Dichter soll für drei Wachsfigu-
ren eine Geschichte schreiben, Harun al
Raschid, Iwan der Schreckliche, Jack
der Aufschlitzer: Emil Jannings, Conrad
Veidt, Werner Krauss. Der Stummfilm
ist heute keinelost worldmehr, Lenis
Werk lief restauriert auf der letzten
Berlinale. Siegfried Kracauer sah es als
Highlight der deutschen Tyrannenfil-
me. Deren Popanze sind geboren aus
dem Geist des Jahrmarkts, besonders
Iwan, der sich gern zum Folterspaß in
seinen Keller verzieht,
am Ende schmiegt er
sich an sein liebstes
Spielzeug, das Stunden-
glas, das die verbleiben-
den Sekunden zählt.
Väterchen reden seine
Gehilfen ihn an. (abso-
lut Medien)


Die falschen Väter der Kirche, inGelobt
sei Gott/Grace à Dieu, von François
Ozon. Ein Missbrauchsfall aus Lyon, um
den Geistlichen Père Preynat. Weil sein
Kardinal Jahre lang nichts in der Sache
macht, tun seine Opfer von damals sich
zusammen, mit Webseite und TV. Ein
Triumph der Solidarität, in dem alle ein
bisschen von dem Pfadfindergeist wie-
derfinden, den ihnen der Père, als er sie
zu sich in die Dunkelkammer oder ins
Zelt holte, ausgetrieben hat. (Pandora)


Das Kind gehört dem Vater, erklärt der
Höchstbauer seiner Tochter Wally, so
gut wie ein Kalb oder ein Ross. Aber
Wally will den Mann nicht heiraten, den
der Vater ihr bestimmt, geht lieber ins
Gebirge, in Schnee und Eis:Die Geier-
wally, von Franz Cap. Die Rebellin ist in
der Nachkriegsversion Barbara Rütting,
die vor wenigen Tagen gestorben ist.
Die Liebe kann nur dann absolut sein,
wenn sie jederzeit in tödlichen Hass
umschlagen könnte. (Filmjuwelen)


Kampf um die Steppe, Kampf um die
Freiheit,Taras Bulba, ein Superspekta-
kel von J. Lee Thompson, nach Nikolai
Gogol. Taras Bulba ist der Führer der
Kosaken, er kämpft mal an der Seite der
Polen, mal gegen sie. Sein Sohn studiert
in Krakau und verliebt sich in eine Prin-
zessin, Christine Kaufmann. Yul Bryn-
ner und Tony Curtis sind Vater und
Sohn, ihr Konflikt eskaliert. Ich habe dir
das Leben geschenkt, droht der Patri-
arch Taras Bulba, ich werde es dir wie-
der nehmen. Taras
Bulba, das bin ich,
sagte Robert Aldrich,
der den Stoff lange Zeit
verfilmen wollte – bis
seine Produktionsfir-
ma in Schwierigkeiten
geriet. (Koch Me-
dia) fritz göttler


Chefschnüffler


Gerade wird die Überwachung
am Arbeitsplatz perfektioniert

Steine rollen, Hände waschen


Wie Albert Camus in seinem Essay über Sisyphos in der Qual der ewigen Wiederholung den Aufruf zum Widerstand entdeckte


Für 250 000 Dollar wird in den
Nachrichten der Belegschaft nach
Anzeichen von Burnout gesucht

Für Heartfields Kunst ist
die Reproduktion entscheidend,
nicht das „Original“

Sprengsätze im öffentlichen Raum


Ende März hätte die erste große John-Heartfield-Ausstellung seit Jahrzehnten in Berlin eröffnen sollen.


Daraus wurde nichts. Doch ihre Verlegung ins Netz gerät zu einem Lehrstück gelungener Kompensation


Welches Buch bietet Trost,
welcher Film beruhigt die Nerven,
welches Kunstwerk weitet
den Blick? Empfehlungen des
Feuilletons für beispiellose Zeiten.

Die im Londoner
Exil 1941 überarbeitete
Montagefotografie
„Krieg! (Niemals
wieder!)“ (links außen)
wurde nicht publiziert.
In Prag erschien
Ende August 1933
die AIZ mit Hitler in
Thyssens Hand.
Die Arbeiterhand
prägte das Wahlplakat
für die KPD im Jahr
1928.FOTOS: ADK BERLIN/
VG BILD-KUNST, BONN 2020

DEFGH Nr. 81, Montag, 6. April 2020 (^) FEUILLETON 11
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ÜBER LEBENSKUNST

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