Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
Hans Reiss, der am 2. April im Alter von
fast 98 Jahren in Heidelberg verstarb,
war einer der Großen der Germanistik.
Von ihm stammt die erste Darstellung
von Goethes Romanen im Zusammen-
hang, als Teil von dessen lebenslanger
Auseinandersetzung mit den Umbrü-
chen seiner Epoche. Das Buch, das erst-
mals im Jahr 1963 erschien, wurde vor
allem im englischen Sprachraum zu ei-
nem Publikumserfolg. Seine Aufsatz-
sammlung „Formgestaltung und Poli-
tik“ (1993) enthält Abhandlungen, die
zusammengenommen die bis heute
weitaus beste Darstellung von Goethes
Verhältnis zur politischen Welt erge-
ben. Sie sind in dem federnden, dialek-
tisch abwägenden Stil verfasst, der
Reiss' schmale, durch Gründlichkeit
des Nachdenkens gewichtige Produkti-
on insgesamt kennzeichnet.
Hans Reiss schrieb in seiner deut-
schen Muttersprache und auf Englisch
mit gleicher Gelenkigkeit. 1922 in
Mannheim geboren, war er im Alter
von 17 Jahren allein nach Irland ge-
flüchtet, wenige Tage vor Beginn des
Zweiten Weltkriegs. Sein Vater war ein
jüdischer Druckereibesitzer in Mann-
heim, den seine Mutter im Untergrund
versteckte. Reiss studierte am Trinity
College in Dublin, wo er 1945 promo-
vierte. Eine glanzvolle Karriere führte
ihn nach London und Kanada an die
McGill University in Montreal, am En-
de auf einen Lehrstuhl in Bristol. Ne-
ben der deutschen Klassik und Roman-
tik und ihren Beziehungen zur Politik
zählte das Werk Franz Kafkas zu sei-
nen Forschungsgebieten. Reiss gehör-
te in seiner Generation zu den Litera-
turwissenschaftlern, die Kafka als mo-
dernen Klassiker durchsetzten.
Erst spät hat ihn sein Geburtsland
mit Orden und Ehren dekoriert, so die
Goethe-Gesellschaft 1997 den 75-Jähri-
gen mit ihrer Ehrenmedaille. Bei Ken-
nern strahlt der Ruhm dieses Germa-
nisten hell, denn jede Seite von ihm be-
schenkt ihre Leser mit überraschen-
den Wahrnehmungen und geistrei-
chen Formulierungen. Wo Hans Reiss
tätig war, ist mit endgültigen Einsich-
ten zu rechnen. Sein Name wäre be-
kannter, hätte er sich nicht konsequent
allen Schulzusammenhängen entzo-
gen. Sein letztes Werk waren Lebenser-
innungen, die auch seine Fluchtge-
schichte enthalten. 2009, im Jahr ihres
Erscheinens, kehrte Reiss nach
Deutschland zurück. Seither lebte er in
Heidelberg, nahe am Ort seiner Ge-
burt. gustav seibt

„Akryl, Akryl“, mit diesem gellenden
Ruf begeisterte er das von dieser Vital-
explosion völlig überraschte Mitter-
nachtspublikum im Varieté Chamäle-
on in den Hackeschen Höfen in Berlin.
Dabei war nichts besonders Auffälliges
an dem ansehnlichen Mann mit den
grauen Locken, dem schwarzen Sacco
und den weißen Hosen. Der sah aus wie
ein vornehmer Dichter. Und dann der
Schrei: „ Akryl, Akryl“.
Tilmann Lehnert, der 1941 in Darm-
stadt geboren wurde, war ein mitrei-
ßender Performer seiner Gedichte, Dia-
loge und Prosa, die sich in ihrer schein-
baren Alltäglichkeit binnen weniger
Sätze unwiderstehlich ins Groteske,
wenn nicht gleich ins Wahnwitzige stei-
gern. Wenn er allein oder in der Gruppe
„Erlebnisgeiger und Klavier und Ge-
sang“, in der auch der Berliner Maler Jo-
hannes Grützke dabei war, als Pianist
auftrat, blieb schon nach wenigen Mi-
nuten kein Auge mehr trocken, so herz-
zerreißend komisch war die Wirkung
dieser Combo der Extreme.
Ob in der Berliner „Bar jeder Ver-
nunft“ oder in Peter Zadeks Deut-
schem Schauspielhaus Hamburg, auf
Kleinkunstbühnen und in Museen,
wenn Grützke dort ausstellte, überall
machten die „Erlebnisgeiger und Kla-
vier und Gesang“ Sensation. Tilmann
Lehnert, der auch in Filmen von Wer-
ner Schroeter und Rosa von Praun-
heim mitwirkte, war nebenbei auch
Gymnasiallehrer, im Französischen ge-
nauso wie im Deutschen zu Hause.
Er erforschte die hochtönende Lyrik
von Saint John Perse, sang Altberliner
Lieder ebenso wie er die Musik über-
haupt leidenschaftlich liebte. Dass er
gute Weine und feines Essen schätzte,
gern durch Städte und Landschaften
Europas wanderte, erzählt etwas von
der im tiefsten Grunde romantischen
Seele dieses formbewussten Erzdich-
ters, der auch noch aus der abgefah-
rensten Alltagsfloskel - „Nie rufst Du
an!“- tragikomisches Potenzial ziehen
konnte.
Wie dieser Performance-Virtuose
bei seinen Auftritten den Refrain sei-
ner „U-Bahn“-Ballade („Dann bleib
doch unten!“) intonierte, ist so unver-
gesslich wie der ganze einzigartige, so
lustvoll wie unverdrossen zwischen
Bühne und Buch, Tiefsinn und leichter
Muse vagabundierende Künstler. Am


  1. April ist Tilmann Lehnert nach lan-
    ger Krankheit im Alter von 79 Jahren in
    Berlin gestorben.
    harald eggebrecht


Der Germanist


Hans Reiss ist tot


Ja, sie war die schönste Frau auf der Welt,
da gibt’s für David keinen Zweifel. Maria
steht im Laden und probiert ein Kleid an,
roter Baumwollstoff mit schwarzen Appli-
kationen in geometrischen Formen, glo-
ckenförmig und ärmellos. Ihr Haut verrät
ihre südeuropäische Herkunft. Sie scheint
unschlüssig. Als David an dem Laden vor-
beigeht, kommt es zu einem unerklärli-
chen Ereignis, ein Zusammenstoß, ein kur-
zer Blackout, er liegt am Boden, blutend an
den Handknöcheln. Er betritt den Laden.
Brauchen Sie vielleicht eine Entschei-
dungshilfe, fragt er die Frau vor dem Spie-
gel. Sie versteht, was er damit sagen will:
Ich liebe Sie. Wollen Sie mit mir schlafen?
Ja, gern!
„Der Choreograf“ ist Håkan Nessers ers-
tes Buch, von 1988, nun erstmals auf
deutsch erschienen. Ein Buch der Berüh-
rungs-, aber keiner Verknüpfungspunkte.
David und Maria schlafen miteinander,
aber sie wird nicht bleiben, sie verschwin-
det wieder aus der Stadt. Es gibt viel Dunk-
les in meinem Leben, schreibt sie David in
einem Brief, in dem sie dann von ihrem
Mann Carlo erzählt und von ihrer Tochter
Anna. ‚Ich muss immer wieder zurückkeh-
ren.‘ Sie geht spazieren, während David
den Brief liest.
Um Marias Geschichte geht es nicht
wirklich in diesem Buch voller loser Fäden,
an denen der Erzähler David unlustig
zupft. Die Mühsal des Erzählens, die Müh-
sal des Erinnerns. Er versucht die Begeben-
heiten seines Lebens und seiner Liebesge-
schichte in eine Ordnung zu bringen, das
mag man als artifizielle Konstruktion emp-
finden oder als Tändelei. David ist Wissen-
schaftler, er arbeitet in einem Institut mit
Patienten, Studenten und Versuchstieren.
Als Erzähler ist er hilflos, dem Hier und
Jetzt, der Übermacht des Augenblicks hat
er nichts entgegenzusetzen. Er bleibt der
Zeit ausgeliefert.

Der Schatten von Julio Cortázar und Ita-
lo Calvino liegt über dem Buch und natür-
lich der von Franz Kafka. Alle Wege führen
nach K. , der Universitätsstadt in den Ber-
gen, „eine Stadt wie alle anderen, in einem
Land wie alle anderen, in einem Europa, in
dem berechenbar war, was geschehen
konnte“. Das Institut nennen alle nur das
Schloss. Die Politik spielt hinein ins Priva-
te. Erzählerischer Ausnahmezustand. Sol-
daten, ‚die Getreuen des Wahnsinns’, Trup-
penverlagerungen, Militärtransporte for-
mieren eine latente Chronologie, am Ende
ein Staatsstreich.

Eugen G. Brahms, der im Vorwort die
Motive sammelt, die aus diesem Roman in
Nessers späteres Werk rutschen, weist auf
die magische Präsenz des Militärs in Ing-
mar Bergmans Film Das Schweigen hin.
Den schwedischen Autor Håkan Nesser
kennt man in Deutschland vor allem als Au-
tor der Kriminalromane, die er ab 1993 vor-
legte, zehn sind es bisher, zunächst mit
dem Kommissar Van Veeteren in der fikti-
ven Stadt Maardam, dann ab 2006 die mit
dem Inspektor Gunnar Barbarotti (im bis-
lang letzten Roman „Der Verein der Links-
händer“ ist auch Van Neeteren wieder mit
dabei). Im Februar ist Håkan Nesser sieb-
zig Jahre alt geworden.
Wer der Choreograf ist, den der Roman

im Titel trägt, lässt sich nicht eindeutig
feststellen. Auch nicht, wer die Bewegun-
gen bestimmt, welche die Menschen zuein-
anderführen und wieder trennen, und wel-
che Rolle der Zufall dabei spielt. „Als ich
endlich in sie eindrang, erschien das fast
als etwas, das unserer Choreographie mit
der gleichen Sicherheit folgte wie alles an-
dere. Als wären wir zwei Schauspieler, die
das uralte Stück von Mann und Frau spiel-
ten. Ein unveränderliches, instinktives Ri-
tual, bei dem unsere Aufmerksamkeit so
groß, unsere Zärtlichkeit so konzentriert
war, dass unsere Bewegungen nie falsch
sein konnten ... und genau das, was ich in
diesem Hotelzimmer durchlebte, das war
der wahre Sinn meines Lebens. Und wir
sagten nichts. Hinterher weinten wir.“
Eine Choreografie ohne Choreografen?
Es geht aber dann doch nicht ums Erzäh-
len, sondern ums Schreiben. Ein Buch vom
Ende der Postmoderne, der Mythos der
ecriture, der manuellen, automatischen.
Von da führt ein direkter Weg zum Genre
des Kriminalromans. David beginnt beim
Schreiben die erste Begegnung, den ersten
Beischlaf mit Maria neu zu erschaffen,
während alles noch andauert. „Während
ich schreibe, überfällt mich plötzlich eine
heftige Wut: fest umklammere ich den
Stift in meiner Hand, so fest, dass die Knö-
chel weiß werden. Als wollte ich die Buch-
staben aus diesem Werkzeug herausdrü-
cken; die vollkommene Sprache heraus-
zwingen, von der ich weiß, dass es sie nicht
gibt, die mich jedoch aus meiner Ohn-
macht würde befreien können.“
Suche nie die große Wahrheit im Grü-
beln, ist der Rat des Schreibers. Er setzt
aufs Pointierte, auf Gedankenblitz und Iro-
nie. Auch das Gegenteil der großen Wahr-
heit ist eine große Wahrheit. „Wenn wir die
Münze umdrehen, dürfen wir uns nicht am
Königsabbild blind sehen. Wenn die Haut
zerreißt, dann können wir endlich klar se-

hen, und was wir sehen, das ist A und
Nicht-A.“ Den Essay, in dem David dies for-
muliert, schreibt er im Traum.
Das Ende ist dann schon mal wie in ei-
nem Kriminalroman, ein locked room mys-
tery. Die Frau verschwindet spurlos aus ei-
nem Geschlossenen Pensionszimmer. Nur
durch eine hauchdünne Schicht sind Kri-
mis von der fantastischen Literatur ge-
trennt. Zum entscheidenden Dreh - dass
das Fantastische, Unmögliche doch ratio-
nal noch erklärt werden kann - kommt es
hier nicht. Das Ende ist absolut, so absolut
wie es vorher nur bei G.K. Chesterton zu fin-
den war, das ultimative Verbrechen des Er-
zählens. „Ich bat dich, die Wirklichkeit auf-
zulösen, das, was gewesen war, ungesche-
hen zu machen; ich bat dich, den Sprung
aus dem Zusammenhang zu wagen ...“.
Das Spiel der Postmoderne hat bei Hå-
kan Nesser eine politische Grundierung. In
seinem Buch „Zur Frage der Distinktio-
nen“ beschreibt Hermann Klimke (ein Na-
me, der auch im späteren Nesser-Werk auf-
tauchen wird) zwei grundlegende Men-
schentypen. Zum ersten Typ zählt er dieje-
nigen, die eine Art angeborenes Recht auf
ihre Existenz habe, sich das Privileg her-
ausnehmen, ihr Schicksal selbst in die
Hand zu nehmen und meistens fordern,
dass die Dinge nach ihrer Vorstellung gere-
gelt werden statt umgekehrt.
Die andere Sorte Mensch dagegen lebt
Klinke zufolge, als hätten sie diese Berech-
tigung nicht von vornherein. Daher müss-
ten sie sich jeden Tag neu erobern, wieder
und wieder einen Sinn und einen Platz in
der Welt finden, in der nichts von vornher-
ein als gegeben angenommen werden
kann. Ständig müssten sie ihre Existenz
rechtfertigen. Doch, so Klimke, diese
scheinbar schwächeren Menschen sind in
Wahrheit die stärkeren. „Sie sind die wah-
ren Eroberer und die vorwärtstreibenden
Kräfte.“ fritz göttler

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach er-
hält einen bedeutenden Brief Friedrich
Schillers. Das fünfseitige Schreiben vom


  1. Juni 1787 an den Hamburger Schauspie-
    ler und Theaterdirektor Friedrich Ludwig
    Schröder, dem er das Manuskript des Don
    Carlos für die Hamburger Uraufführung
    zusandte, wurde 1919 zum letzten Mal ver-
    steigert und befand sich seitdem in Privat-
    besitz. Nun hat es die Wüstenrot Stiftung
    bei der Frühjahrsauktion des Auktionshau-
    ses Stargardt ersteigert und als Dauerleih-
    gabe dem Archiv zur Verfügung gestellt.
    Der Brief, in dem Schiller theaterprakti-
    sche Fragen wie Textkürzungen, Rollenbe-
    setzungen und Aspekte der Bühnenwirk-
    samkeit, aber auch die politische Dimensi-
    on des Dramas erörtert, steht damit der
    Wissenschaft zum ersten Mal im Original
    zur Verfügung. Er ist aber nicht an die Phi-
    lologie adressiert, sondern an einen wichti-
    gen Theaterdirektor. Aus vielen Wendun-
    gen spricht die Sorge des Autors um den Er-
    folg der Uraufführung seines Stückes: „Üb-
    rigens stellen Sie mir bei solchen Gelegen-
    heiten soviel Spanische Granden auf die
    Bühne, als Sie Röcke haben.“
    Über die Figur des Großinquisitors
    schreibt Schiller: „Aber über eine Hauptsa-
    che muß ich mich mit Ihnen berichtigen.
    Ich weiß nicht zu bestimmen, wie weit in
    Hamburg die Toleranz geht. Ob z.B. ein Auf-
    tritt des Königs mit dem Großinquisitor
    statt finden kann. Wenn Sie ihn gelesen ha-
    ben, werden Sie finden, wie viel mit ihm
    für das Stück verloren seyn würde [...].
    Wenn Kleidung und Name Schwierigkei-
    ten machten, so verändern Sie beides nach
    Gutbefinden. Gerne geb ich der Schwach-
    heit diese Nebensachen preiss, wenn mir
    meine Contrebande dadurch erleichtert
    wird. Über den Auftritt Philipps mit dem
    Marquis habe ich in der Republicanischen
    Stadt hoffentlich nicht unruhig zu wer-
    den.“ Schillers „Contrebande“ war die be-
    rühmte Forderung des Marquis Posa:
    „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ sz


von thorsten schmitz

I


m Auto von Florian Jaenicke liegt seit
15 Jahren eine Mundharmonika, im
Handschuhfach. Sie stammt aus Indi-
en. Nur im Winter, wenn Eis auf der Wind-
schutzscheibe klebt und Jaenicke den
Kratzer sucht, betrachtet er sie. Vor fünf-
zehn Jahren war der Münchner Fotograf
in Indien auf einer Reportagereise, seine
Frau war damals schwanger. In einem Zug
hatte Jaenicke nachts einen Jungen gese-
hen, der auf einer Mundharmonika spiel-
te. Die Musik hatte Jaenicke derart betört,
dass er eine kaufte – sein Sohn Friedrich
sollte auch einmal auf einer spielen.
Bis heute hat Friedrich keinen einzigen
Ton auf der Mundharmonika gespielt.
Aber er liebt Musik. Gerade hat er seinen


  1. Geburtstag gefeiert. Sein Vater und sei-
    ne Mutter haben ihm eine Platte von Carla
    Bruni geschenkt. Wenn Friedrich Lieder
    von Bruni hört oder von den Beatles, be-
    ginnt er zu lächeln, seine Mimik ent-
    spannt sich. Er wirkt dann beseelt. „Ein
    Musikinstrument, das nicht klingt, ist in
    gewissem Sinne wie ein Mensch, der nicht
    spricht“, schreibt Jaenicke in seinem be-
    rührenden, aufwühlenden, tröstlichen Fo-
    tobuch „Wer bist du?“.
    Neben dem Satz ist ein Foto, das Fried-
    rich an seinem ersten Geburtstag zeigt,
    auf dem Schoß seiner Mutter, die ihm die
    indische Mundharmonika an den Mund
    hält. Das Buch ist eine Offenbarung und


die Liebeserklärung eines Vaters an sei-
nen Sohn, von dem die Eltern nicht genau
wissen, was er denkt, was er sieht, was er
fühlt. Friedrich ist mit Sauerstoffmangel
zur Welt gekommen.
Was die Ursachen waren für den Sauer-
stoffmangel, wissen die Eltern nicht, sie
werden es nie erfahren. Friedrich ist mehr-
fach schwer behindert, er kann nicht ge-
hen, sich nicht alleine im Bett umdrehen,
er kann nicht sprechen, er kann einem
nicht in die Augen schauen, und er be-
kommt regelmäßig epileptische Anfälle.
Manche Kinder, schreibt Jaenicke, könn-
ten mit Friedrich nichts anfangen und nör-
gelten: „Der kann ja nichts.“ Sein Vater
sagt dann: „Doch. Glücklich sein.“ Wer
Friedrich kennenlernt, spürt, dass das
stimmen mag. Denn sein umwerfendes Lä-
cheln sagt: „Mir geht es gut.“

Seit seiner Geburt hat Florian Jaenicke
seinen Sohn fotografiert, auch, um sich
ihm anzunähern, ihn besser zu verstehen.
Das Faszinierende an den Fotos: Der Vater
reduziert seinen Sohn nicht auf einen Be-
fund. Er zeigt: ein Kind, seinen Sohn, beim
Aufwachsen. Ein Jahr lang hat dasZeit-
Magazinjede Woche ein Foto von Fried-
rich veröffentlicht, dazu wenige Sätze sei-

nes Vaters. Die Serie hat sehr viele Men-
schen in Deutschland berührt, jetzt ist ein
Buch daraus geworden.
Friedrich hat das Leben seiner Eltern
komplett verändert. Alle Pläne, alle Hoff-
nungen, alle Vorstellungen haben sie ver-
werfen und angleichen müssen, und viel-
leicht ist dieses Buch sogar die beste Lektü-
re in der Corona-Krise, die einen lehrt,
dass man sein Leben durchplanen kann –
dass das Leben einen aber immer wieder
vor ungeplante Tatsachen stellt.
Auf manchen Fotos, die Jaenickes Buch
zeigt, ist die schwere Behinderung Fried-
richs unübersehbar. Zum Beispiel auf je-
nem, das Friedrich in einem Stehständer
zeigt, ein „merkwürdiges Gerät voller
Schnallen und Schrauben“, wie Jaenicke
mit leisem Humor schreibt, „es erinnert ei-
nen an die spanische Inquisition“. Die
meisten Bilder aber zeigen seinen Sohn im
Alltag, bei der Friseurin, die ihm einen
schicken Haarschnitt verpasst, in einem
Swimmingpool, wie er gerade von seiner
Mutter hochgeworfen wird, sein Gesicht
dabei ein einziges Lächeln, oder bei der Er-
öffnung einer Modefotografieausstel-
lung.
In „Wer bist du?“ beschreibt Florian Jae-
nicke die schönen Momente, wenn Fried-
rich in den Haaren des Vaters krault, und
er kann sich über die Frau aufregen, die
ihm in einem Kurs sagt, in dem er als einzi-
ger Mann unter elf Frauen kraftsparendes
Hochheben von Bettlägrigen lernt: „Das

muss ja furchtbar sein, besonders für ihre
Frau.“ Auch Männer, erregt sich Jaenicke,
als er diese Szene beschreibt, haben Gefüh-
le – und wehrt sich gegen „diesen mütterli-
chen Gefühlshoheitsanspruch“.
Das bezaubernde, verzaubernde Buch
ist eine Liebeserklärung eines Vaters an
seinen Sohn, den er nicht hat fragen kön-
nen, ob er einverstanden ist, dass Fotos
von ihm veröffentlicht werden. Was der Va-
ter aber weiß: Friedrich liebt Schweinebra-
ten, die Stimme von Carla Bruni und das
gelbe Plastikbärchen, das an einem Gum-
mi über seinem Bett hängt, und das Fried-
rich stundenlang anstupsen kann.
Das Buch ist besonders berührend, weil
hier ein Vater sein Herz öffnet. Ein Vater,
der von seinen Tränen im Badezimmer
schreibt und von der Traurigkeit, die ihn
manchmal erfasst, dass Friedrich nie „Pa-
pa“ oder „Mama“ sagen wird. Viele Fami-
lien, schreibt er, trennten sich, wenn ein
Kind nicht gesund auf die Welt komme.
Ihn und seine Frau aber habe Friedrich zu-
sammengeschweißt. „Und natürlich gibt
es auch Zeiten, in denen wir den anderen
auf den Mond schießen wollen. Aber wir
sind zusammen – welch ein Glück.“ Glück
sei immer dort, schreibt Jaenicke, „wo Lie-
be ist“.

Florian Jaenicke:Wer bist Du? Unser Leben mit
Friedrich. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 176 Seiten
mit 52 Abbildungen, 24 Euro.

Håkan Nesser:
Der Choreograph. Roman.
Aus dem Schwedischen
von Christel Hildebrandt.
btb Verlag, München 2020.
256 Seiten, 20 Euro.

Der Vater hat seinen Sohn nicht
fragen können, ob er mit der
Publikation einverstanden ist

Die Wut des Schreibens


Jetzt auch auf Deutsch: Håkan Nessers Debütroman „Der Choreograph“


Tilmann Lehnert


ist gestorben


Marbacher Archiv


erhält Schiller-Brief


Friedrich kann glücklich sein


Florian Jaenicke fotografiert seinen schwerbehinderten Sohn, um ihn besser zu verstehen.


„Wer bist Du?“ ist die berührende Liebeserklärung eines Vaters


(^12) LITERATUR Montag, 6. April 2020, Nr. 81 DEFGH
Eine tragende Rolle in
Florian Jaenickes Buch
über seinen Sohn spielen
die Fotografien: Vater und
Sohn beim gemeinsamen
Bad (oben), Friedrich auf
seinem Stehständer (unten).
FOTOS: FLORIAN JAENICKE

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