Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
interview: peter richter

S


elten dürfte jemand von seinen For-
schungsthemen so eingeholt worden
sein wie jetzt Beatriz Colomina. Die
in Princeton lehrende Architekturhistori-
kerin hat über die Ideologisierung des Zu-
hauses durch kriegerische Bedrohungen
geschrieben und über das Bett als Lebens-
und Arbeitsraum, von dem aus heute im-
mer mehr Leute nach dem Vorbild des Play-
boy-Gründers Hugh Hefner im Pyjama ih-
re Büroarbeit erledigen. In Colominas
jüngstem Buch „X-ray Architecture“ (Lars
Müller Publishers 2019) war schließlich zu
lernen, wie viel die Architektur der Moder-
ne dem Kampf gegen die Tuberkulose ver-
dankt, einer potenziell tödlichen Lungen-
krankheit so wie heute Convid-19. Auch da-
mals galt das Zuhause als Schlüssel.


SZ: Können Häuser tatsächlich eine Medi-
zin sein?
Beatriz Colomina: Können sie. Häuser kön-
nen aber auch der Feind sein. Tuberkulose
wurde zum Beispiel weitgehend als ein
Wohnungsproblem in engen Städten wahr-
genommen. Überfüllte Wohnungen mit
wenig Licht und Belüftung standen im Fo-
kus der Epidemiologen. Das Erste, was die
Ärzte verordnet haben, war die Bereini-
gung der Wohnungen von Teppichen, Vor-
hängen, Nippes zugunsten von weißen
Wänden und einfachen Möbeln. Das wur-
de Tuberkulosepatienten bei der Entlas-
sung aus dem Sanatorium empfohlen. Frü-
her kam gelegentlich auch die Polizei in tu-
berkulöse Häuser und hat aufgeräumt.


Heute scheint mir die Situation genau um-
gekehrt: Der Feind, Corona, ist in den Stra-
ßen, auf öffentlichen Plätzen, im Nahver-
kehr, und das Haus ist der Ort für die Qua-
rantäne. Das ist eher wie bei Pest und Cho-
lera.


Vitruv hat die Architekten schon in der An-
tike aufgerufen, Medizin zu studieren. Vie-
le haben sich seither von der menschli-
chen Physiologie inspirieren lassen. Aber
haben sie umgekehrt auch wirklich etwas
zum Gesundheitswesen beigetragen?
Architekten haben nie wirklich Medizin
studiert, auch wenn sie in der Renaissance
angehalten wurden, wie Medizinstuden-
ten beim Sezieren zuzusehen. Aber die Ob-
session mit dem medizinischen Körper
zieht sich konstant durch die Architektur-
geschichte. Ich würde schon sagen, dass
die moderne Architektur enorm beim
Kampf gegen Tuberkulose geholfen hat.
Sie hat es für sehr viele Leute nicht nur ak-
zeptabel, sondern geradezu wünschens-
wert gemacht, in weißen Gebäuden mit
großen Fenstern und luftigen Sonnenter-
rassen zu wohnen. Es hat sehr lange gedau-
ert, bis es ein effektives Antibiotikum ge-
gen Tuberkulose gab, bis 1943, und noch
länger, bis es allgemein verfügbar war. Bis
dahin war das einzige Heilmittel das Le-
bensumfeld, und da kam die Architektur
ins Spiel: Architektur war die Therapie.


In „X-Ray Architecture“ beschreiben Sie,
wie mit dem Röntgen auch das Leben in
Glashäusern propagiert wurde, etwa in ei-
nem Werbefilm von Kodak, wo beides auf
freudige Akzeptanz von Überwachung
hinausläuft, denn wer nichts zu verber-
gen hat, habe auch nichts zu befürchten.
Heute wird mit Corona das Tracking von
Mobilfunkdaten gerechtfertigt. Ist Ge-
sundheitsvorsorge tendenziell eher ein
Vorwand für autoritäre Maßnahmen?


Das ist ein guter Punkt, weil sich die Leute
tatsächlich nicht einmal um die Radioakti-
vität beim Röntgen gesorgt haben. Die hat-
ten sich einreden lassen, dass das vernach-
lässigbar wäre, mit desaströsen Folgen na-
türlich. Die Leute waren mehr über den Ver-
lust ihrer Privatsphäre besorgt, und der Ko-
dak-Film vergleicht das mit der Angst vor
einem Leben im Glashaus. Tatsächlich war
diese Assoziation verbreitet in der Populär-
kultur. Röntgenstrahlen wurden umge-
hend auch zur Kontrolle von Personen und
Gepäck eingesetzt, in Bahnstationen zum
Beispiel. Heute gibt es neue Technologien,
und tatsächlich werden Telefondaten ge-
nutzt, um zu überwachen, ob die Quarantä-
ne eingehalten wird, und wer mit wem Kon-
takt hat. All das geschieht im Namen der
Prävention, hat aber enorme Konsequen-
zen für Privatsphäre und die Bürgerrechte.
Wie stets werden bestimmte Leute zur Ziel-
scheibe, um die Bevölkerung zu kontrollie-
ren. Öffentliche Gesundheitsprogramme
werden immer auch für soziale Kontrolle
eingesetzt, und wenn das während einer
Krisis akzeptabel wird, wird es hinterher
normalisiert. Werden wir je wieder dahin-
ter zurückkönnen?

Sportive Modernisten wie Le Corbusier
forderten, tuberkulöse Altstädte durch
muskulöse Wohnhochhäuser zu ersetzen.
Andere, Aalto oder Loos etwa, dachten
das neue Bauen eher aus der Perspektive
des Bettlägrigen, der hauptsächlich an die
Decke schaut. Warum sind dann ausge-

rechnet die in diesem Geist gebauten Häu-
ser jetzt die problematischsten? In den
Hochhäusern der Pariser Banlieus
kommt es zu den meisten Verstößen ge-
gen die Ausgangssperren. Auch in Berlin
haben Politiker Sorge geäußert, den Be-
wohnern von Großwohnsiedlungen wie
in Marzahn könnten die niedrigen De-
cken der Moderne buchstäblich auf den
Kopf fallen. Mit anderen Worten: Hat das
moderne Bauen gerade da versagt, wo es
eigentlich helfen sollte?
Das haben wir hier noch nicht gehört. Wir
haben allerdings auch nicht mehr viele mo-
derne Großwohnsiedlungen in den USA.

Die wurden verteufelt und zerstört. Moder-
ne Architektur war hier nie so normal wie
in Deutschland. Aber es gibt hier ein be-
trächtliches Ausmaß an Armut und Über-
belegung, das der Öffentlichkeit verbor-
gen bleibt. Da impliziert die Klage über De-
cken, die einem auf den Kopf fallen, fast
schon einen gewissen Wohlstand. Hier gibt
es so viele Menschen, für die es schon ein
Privileg wäre, überhaupt eine Decke über
dem Kopf zu haben. Und wichtiger als de-
ren Höhe ist die Frage, ob du eine Kranken-
versicherung hast oder nicht.

Die Nachrichten aus New York klingen
schrecklich zur Zeit, wie erleben Sie das?
Ich lebe in New York, und jetzt bin ich in
Quarantäne und lehre in Princeton über
Zoom. Die Studenten sagen, alles sei sehr
ruhig dort. New York sieht sogar sehr
schön aus gerade, sehr friedvoll, kein Ver-
kehr, keinerlei Lärm, die Vögel wecken uns
auf. Wer hätte gedacht, dass es so viele Vö-
gel gibt in New York? Das steht natürlich
quer zu dem, was in den Krankenhäusern
los ist. Man kann zu dem, was mal die
Hauptverkehrszeit war, in der Mitte der
Fifth Avenue laufen, und es gibt keine Au-
tos. Plötzlich sieht man die Architektur viel
genauer. Also, das bestimmende Gefühl
hier ist Ruhe. Aber eben auch Ruhe in dem
Sinn, dass man nicht wirklich sieht, was in
den Häusern und Kliniken vor sich geht.
Da wird überall unsichtbar gelitten. Deine
Freunde sterben, aber die Krankheit, der
Tod, alles wird verborgen. Die Bilder von
Klinikpersonal, das nach Ausrüstung ver-
langt, ist die Fassade eines versteckten Alb-
traums. Die müssen in Räume, die wir
nicht zu sehen bekommen. Das ist auch ei-
ne Art Architektur, eine beängstigende Ar-
chitektur. Bei all den Barrieren, die in den
sozialen Medien geschleift wurden, ist der
Raum, der jetzt tatsächlich im Zentrum
der Aufmerksamkeit steht, komplett ver-
hüllt.

Kehrt da gerade die alte Angst vorm Mo-
loch Großstadt wieder? Es scheint doch
fast, als wären die Fünfziger zurück: Auto-

kino statt Nightclub, Einfamilienhaus
statt Großwohnblock. Und der Kreis, mit
dem man Kontakt haben darf, entspricht
dem, was mal Kernfamilie hieß, auch
wenn die Zeitschrift „Atlantic“ gerade be-
hauptet, die „nuclear family“ sei als Erfin-
dung der Nachkriegszeit heute obsolet.
Das ist in der Tat beängstigend, dass die
Idee der Stadt und der Öffentlichkeit unter
all dem leiden wird. Tut sie ja jetzt schon.
Viele New Yorker sind in ihre Landhäuser
geflohen, und die Jüngeren zurück zu ih-
ren Eltern. Erst wenn das alles vorbei ist,
werden wir den Preis dafür erfahren: Wie
viele Fälle von häuslicher Gewalt, von Kin-
desmissbrauch? Das Zuhause war immer
schon ein sehr gefährlicher Aufenthalts-
ort. Man hat als Frau mehr Aussichten von
jemandem getötet zu werden, der dich an-
geblich liebt, als von einem Fremden auf
der Straße. Aber es gibt kein Entkommen.
Die Vorstädte waren zuerst betroffen, und
die meisten Neuinfektionen gibt es jetzt
auf Long Island. Auch der Rest des Landes
wird schwer betroffen sein. Dass es in der
Großstadt gefährlich ist und auf dem Land
sicher, ist ein Mythos. Urbane Dichte be-
schleunigt Dinge nur und gibt ein Bild von
dem, was dann überall passieren wird.

Wenn einem jetzt so nachdrücklich das Zu-
hause verordnet wird, fragt sich zumin-
dest, woher das eigentlich kommt, und ob
dieses Konzept immer mit Krisenzeiten
einhergeht. Das Biedermeier fällt einem
ein – und Ihr Buch über „Domesticity at

War“: Ist moderne Häuslichkeit ein Pro-
dukt des kalten Kriegs?
Definitiv war der Kalte Krieg auch die Ära
des Zuhausebleibens und der vorstädti-
schen Zersiedlung, aber aus anderen Grün-
den, nämlich um die Gefahr der nuklearen
Auslöschung zu mildern. Es ist natürlich ei-
ne Pointe für sich, dass die „nuclear fami-
ly“ und das „nuclear house“ der Verteidi-
gung gegen die nukleare Auslöschung die-
nen sollten. Heute hat man aber auch Isola-
tion innerhalb des Zuhauses. So viele Woh-
nungen sind jetzt zwischen Kranken und
Nichtkranken aufgeteilt. Mies van der Ro-
hes Villa Tugendhat in Brünn kommt ei-
nem da in den Sinn oder Adolf Loos’ Haus
Müller in Prag, die beide einen Quarantäne-
raum hatten.

Schon auf dem Cover von „Domesticity at
War“ sieht man so eine rosige Kernfamilie
im „Family Fallout Shelter“, dem privaten
Atombunker. Auch damals ging es schon
um das Hamstern von Vorräten und die Ab-
wehr begehrlicher Nachbarn. Der Begriff
„family fallout“ lässt aber auch an Famili-
enstreits denken, an Lagerkoller und
häusliche Gewalt. Hängt das zusammen?

Ja, da gibt es etliche Parallelen: Der Feind
ist da draußen, und deine Nachbarn gehö-
ren dazu. Jeder für sich selbst, jedenfalls in
Amerika. In Europa gab es viele öffentliche
Bunker. Hier waren Bunker Privatsache.
Die Regierung gab nur eine Handreichung
für den Bau heraus. Und wie in der gegen-
wärtigen Krise war das nicht nur ein An-
lass, Klopapier zu horten, sondern auch
Waffen. Und die Statistiken aus Wuhan zei-
gen auch, wie die Scheidungsraten hochge-
gangen sind, seit die Ausgangssperre auf-
gehoben wurde.

Selbst in der Berichterstattung über die
alarmierende Zunahme von häuslicher Ge-
walt begegnen einem jetzt manchmal
überraschend traditionelle, fast schon es-
sentialistische Rollenbilder von Frauen,
die sich in ihrem natürlichen Habitat
nicht mehr sicher fühlen können, und
Männern als aggressiven Aliens, die zu
Hause tagsüber eigentlich nichts zu su-
chen haben. Zeigt Corona uns gerade, wie
sehr das Denken tatsächlich noch in den
Fünfzigern feststeckt?
Naja, das setzt immer noch voraus, dass
der Mann draußen arbeitet, und die Frau
nicht. Viele Frauen sind aber im Gesund-
heitswesen tätig und stehen jetzt in großer
Zahl in vorderster Front, vermutlich noch
zahlreicher als Männer. Viele Frauen ge-
hen unter diesen widrigen Bedingungen
weiterhin zur Arbeit. Es ist meines Erach-
tens also gerade weniger wie in Fünfzigern
als vielmehr wie in den Vierzigern, wäh-
rend des Krieges. Und der Fakt, dass Män-
ner jetzt eine höhere Sterbewahrscheinlich-
keit haben, wird schon auch seinen psycho-
logischen Effekt haben.

Was ist mit Patchwork-Familien, poly-
amourösen Menschen in allen möglichen
Konstellationen, Kommunen, die immer
noch der freien Liebe frönen: Gibt es für
die jetzt auch ein „Zuhause“?
Ja, ich glaube, darauf wollte der „Atlantic“
hinaus: New York ist voll mit solchen neu-
en Formen von Familien. Das starke Auf-
kommen der Mikroapartments spricht
schon für eine völlig neue Nachfrage von
Leuten, die in superkleinen Einheiten le-
ben wollen, im Prinzip nur mit einem Bett
mit ein bisschen Ausstattung und ansons-
ten mit großen Gemeinschaftsflächen für
das Essen oder den Sport. Leute, die jen-
seits sozialer Normen leben, bringen neue
Architekturen hervor, keine Frage. Aber
das ist nichts, was man vorhersagen kann.
Es ist halt genau das: eine Veränderung
von Normen.

Und gibt es schon etwas, das wir aus die-
ser Krise mitnehmen können? Wird Coro-
na unsere Art zu bauen und zu leben so än-
dern wie einst die Tuberkulose?
Keine Frage. Corona hat uns ja schon verän-
dert. Warum also nicht auch unsere Archi-
tektur?

„Es ist gerade
wie in den Vierzigern, wie
während des Krieges.“

„Die Idee der Stadt
und der Öffentlichkeit wird
unter all dem leiden.“

„Die moderne Architektur hat
enorm beim Kampf
gegen Tuberkulose geholfen.“

„Brasilien darf nicht stillstehen“, forderte
der brasilianische Präsident Jair Messias
Bolsonaro Ende März, er kopierte den Slo-
gan #milanononsiferma (Milano steht
nicht still) von Mailand. In meinen Ohren
klang das allerdings, als würde Bolsonaro
das Todesurteil über Hunderttausende
Mitbürger aussprechen. Am 24. März sag-
te er im Fernsehen, es stimme, die Krank-
heit werde vielleicht alte Menschen töten,
doch für die meisten wäre es nicht mehr als
eine „kleine Grippe“ (grippezinha). Auch
die Kinder sollten seiner Meinung nach
weiter zur Schule gehen.
Als der Präsident seinen Slogan weiter-
hin in den Medien verbreitete, blockierte
die Justiz seine Kampagne. Doch die gro-
ßen Unternehmen konnten ihre Strategien
nicht schnell genug den neuen Zeiten an-
passen und erfanden ihrerseits einen ähnli-
chen Slogan. Wegen dieser Offensive der
großen Konzerne gegen das Recht auf Le-
ben fürchten wir nun um unsere Freunde
und Verwandten.
Über die sozialen Netzwerke erfahren
wir, was vor sich geht, fast von Minute zu
Minute. Mein bester Freund, der in New
York lebt, verbrachte Anfang März eine Wo-
che in unserem Haus, als Covid-19 weder


in den USA noch in Brasilien eine Rolle
spielte. Er reiste einen Monat lang durch
Brasilien und ist nun wieder in New York,
wo er nur im nötigsten Fall mit Atem-
schutzmaske auf die Straße geht. Ein
Freund aus Joinville im Süden Brasiliens,

wo wir wohnen, sagt: „Ich steige nicht in
diesen Irrsinn ein“, und meint damit, er
wolle nicht zuhause bleiben. Er hat Bolso-
naro gewählt, und was dieser sagt, ist wie
eine Zeitbombe: „Ich lebe mein normales
Leben!“ Er denkt gar nicht daran, dass das
Leben in diesem Moment nicht mehr vom
Einzelnen abhängt. Jedes Teil in diesem
Mosaik zählt nun.

Für mich hat sich das Leben in den letz-
ten drei Wochen völlig verändert. Ich gehe
nicht mehr auf die Straße, ich fahre nicht
zur Arbeit, ich habe seit einem Monat mei-
ne Mutter nicht mehr besucht. Wir woh-
nen nur drei Kilometer voneinander ent-
fernt. Mein und ihr Leben hängen von unse-
rem Verhalten ab. Wir haben Angst, ich, sie
und meine Geschwister. Wir wissen, dass
die Regierung Bolsonaros nicht in Wissen-
schaft, Forschung und Bildung investiert.
Verantwortungsvolles Handeln ist nicht ge-
rade seine Stärke.
Mindestens 24 Personen, die mit Bolso-
naros Delegation Mitte März Donald
Trump in seinem Privatklub in Florida be-
suchten, wurden positiv auf Covid-19 ge-
testet. Er selbst legte keinen negativen
Test vor. Bolsonaro ignorierte am letzten
Märzwochenende erneut die Empfehlung
zu sozialer Distanz, die die WHO vorgibt,
und umarmte seine Anhänger.
An diesem Tag bekam mein Mann Fie-
ber, Schüttelfrost und Übelkeit. Er ist 49
Jahre alt, er fühlt sich vollkommen er-
schöpft. Seit sieben Tagen ist das nun
schon so. Das Fieber kommt und geht. Die
Schwäche bleibt. Ich schlafe im Wohnzim-
mer, dorthin habe ich auch meinen Kleider-

schrank und alle meine Sachen gebracht.
Unser siebenjähriger Sohn und ich benut-
zen jetzt ein eigenes Badezimmer.
Wir wohnen in einem Haus mit Garten.
Seit zehn Jahren arbeiten wir von Zuhause
aus. Wir sind daran gewöhnt. Aber wir sind
die Ausnahme. Seit 23 Tagen haben wir
das Haus nicht mehr verlassen, doch Brasi-
lien ist nicht stehen geblieben. Bisher sind
„nur“ 445 Tote (Stand Samstagmorgen) be-
stätigt, die am Corona-Virus gestorben
sind. Für ein so gigantisch großes Land wie
Brasilien erscheint das sehr wenig. Es wird
nicht beachtet, dass die Zahl der Todesfälle
jeden Tag rasant steigt. In wenigen Wo-
chen könnten die bisher schlimmsten Sze-
narien in Brasilien übertroffen werden.
Es kann zu einem Desaster kommen,
vor allem, weil die Politik den Kampf ge-
gen das Virus nicht auf staatlicher Ebene
aufnimmt und Hilfe verweigert. Der Präsi-
dent arbeitet gegen den Gesundheits-
minister und die Gouverneure der Bundes-
staaten. Die Präfekte der Städte verfolgen
unterschiedliche Strategien.
Dass das Gesundheitssystem diese Her-
ausforderung nicht bestehen wird, weiß
man schon jetzt. Wir haben Glück, im Bun-
desstaat Santa Catarina im Süden des Lan-

des zu leben. Der Gouverneur Carlos Moi-
sés ist ein Oberst a.D. der militärischen Feu-
erwehr – man nennt ihn „Kommandant
Moisés“. Er ist Jurist, spezialisiert auf Ver-
fassungsrecht. 2018 wurde er für dieselbe
rechtsextreme Partei wie Jair Bolsonaro ge-
wählt. Doch im Gegensatz zum Präsiden-
ten hat er auf die Empfehlungen der WHO
gehört und handelt entsprechend.
Doch Moisés ist nur der Gouverneur ei-
nes kleinen Bundesstaates. Er ist wie ein
Vögelchen, das versucht, einen Brand da-
mit zu löschen, dass es mit seinem Schna-
bel Wasser holt. Dies ist ein Flächenbrand,
genährt von den „Covidioten“, die ihr nor-
males Leben weiterführen, die das Virus
und die Panik vor dem ökonomischen Ab-
sturz verschlimmern. Viele Menschen sind
unsicher. Das Gefühl, den Boden unter den
Füßen zu verlieren, raubt mir den Schlaf.
In dieser Pandemie sind wir ohne Füh-
rung. Brasilien weiß nicht, wo es enden
wird.

Katherine Funke, geboren 1981 im brasilianischen
Joinville, ist Autorin und Gründerin des Verlags „Mi-
crocontas“. Aus dem Portugiesischen von Michaela
Metz.

DEFGH Nr. 81, Montag, 6. April 2020 HF2 9


Feuilleton
Die britische Pop-Sängerin Dua Lipa
hat das Album zum
Durchhalten aufgenommen 10

Feuilleton
„Fotografie plus Dynamit“ – ein
Berliner Projekt zu John Heartfield,
dem Meister der Montage 11

Literatur
Håkan Nessers Debütroman
„Der Choreograph“ gibt es jetzt
auch auf Deutsch 12

Das Politische Buch
Befreiung und Zuwendung:
Drei wegweisende Reden
Richard von Weizsäckers 13

Wissen
Richtiger Schutz zur rechten Zeit –
jede Maske bietet unterschiedlich
viel Sicherheit 14

 http://www.sz.de/kultur

WELT
IM FIEBER

Beatriz Colomina
wurde 1952 in Madrid
geboren und ist eine
der renommiertesten
Theoretikerinnen und
Historikerinnen der
modernen Architektur.
Sie lehrt an der
University of Princeton
in den USA.
FOTO: CREATIVE COMMONS

Stress im Schutzraum


Ein Gespräch mit Beatriz Colomina, Architekturhistorikerin in Princeton, über modernes Bauen


als Seuchenbekämpfung, Häuslichkeit im Bunker und Familienbilder wie aus den Fünfzigern


Covidioten im Flächenbrand


Brasilien strauchelt in der Krise, blind geführt von einem Präsidenten, der so tut, als sei alles wie immer.Von Katherine Funke


Amerikanische Kernfamilie 1955 im Privatbunker auf Long Island, wo sich viele New Yorker heute vor Covid-19 verbarrikadieren. FOTO: IMAGO IMAGES/EVERETT COLLECTION

FEUILLETON


HEUTE


Das Virus trifft die ganze Mensch-
heit. Einige Orte erfasst es früher,
andere später. Sechs Literaten aus
sechs Ländern führen eine
globale Chronik. Heute: Brasilien
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