Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

Freitag, 27. März 2020 INTERNATIONAL 5


Moskaus Bürger meister gibt den Takt an

In der Coronavirus-Krise greift Sergei Sobjan in korrigierend in di e Entscheidungen Präsident Putins ein


MARKUSACKERET, MOSKAU


InRussland scheint Moskaus Bürger-
meister Sergei Sobjanin der Mann der
Stunde zu sein. Allmählichkommt die
Erkenntnis an, dassdiePandemie vor
demLand nicht haltmacht.Wie schwer
es Präsident Wladimir Putin fällt, auf
die unangenehmeWahrheit angemes-
sen zureagieren, zeigte seineFernseh-
ansprache am Mittwoch. Als Signal war
sie zwar wichtig, die Botschaft aber war
unentschlossen.
Vor allem die Ankündigung, kom-
mendeWoche alle Angestellten in be-
zahlteFerien zu schicken,stiess sowohl
mit Blick auf die Eindämmung der Seu-
che als auch auf die sich abzeichnende
Wirtschaftskrise vielerorts auf Unver-
ständnis. Es dauerte nur wenige Stun-
den, bis Sobjanin die Anordnung für die
Hauptstadtrichtigstellte: EinePlausch-
woche dürfe es nichtwerden, deshalb
gebe es Einschränkungen.


Sobjanin korrigiertPutin


Sobjanin ist in dieser Krise derFunktio-
när, der denTakt angibt. In den vergan-
genenTagen war das so deutlich wie nie.
Auch Putin hätte, wie es später Sobja-
nin tat, das Schliessen allerRestaurants,
Cafés, Pärke, Einkaufszentren und nicht
lebenswichtiger Dienstleistungsbetriebe
wie Coiffeursalons undLäden ausser
Apotheken und Lebensmittelgeschäf-
ten anordnenkönnen. Dass er statt-
dessenFerien ausrief, wiewohl mitder
Aufforderung, zu Hause zu bleiben und
als Gesellschaft «zusammenzurücken»,
wirkte unbedacht, erstrechtangesichts
der nach wie vor verbreiteten Sorglosig-
keit um dasVirus und der zuAusflügen
einladenden wärmerenFrühlingstage.
Vielleicht war es auch eine bewusste
Entscheidung, die unpopulären Mass-


nahmenSobjanin zu überlassen. Aller-
dings kann dieser nur über Moskau be-
finden und darauf hoffen, denRegionen
mit gutem Beispiel voranzugehen.
In jedemFall erscheint es nun so, als
würde Sobjaninkorrigierend in Putins
Anweisungen eingreifen, um Schaden ab-
zuwenden. Das macht den ambitionier-
ten Moskauer Bürgermeister zum eigent-
lic hen Krisenmanagermitrealistischem

Blick. Diesen versuchte er unlängst auch
Putin nahezubringen.Alserster hoher
Funktionär sprach Sobjanin an einer Sit-
zung mit dem Präsidenten offen davon,
die wahrenAusmasse derPandemie in
Russland seien mangels ausreichender
Tests nicht klar, dieLage sei ernst.
Er pries die eigenen Massnahmen als
Vorbild, unter anderem die seitDonners-
tag geltende Quarantäne für allePerso-

nen über 65. Der anschliessende Besuch
Putins in der modernen Spezialklinik
für Coronavirus-Erkrankte im Mos-
kauer StadtteilKommunarka markierte
dann vor allem symbolisch das Umden-
ken: Putin zog sich einen gelben Schutz-
mantel über und eine Atemschutzmaske
wie bei einem Chemiewaffenangriff.
In anderer Hinsicht versagte die
Symbolik: Ein Bild machte dieRunde,

auf dem Putin dem Chefarzt der Kli-
nik die Handschüttelt.Dazu passt, dass
der Präsident in seinerFernsehanspra-
che die Hygienegebote nicht erwähnte.
In Moskau tragen zwar immer mehr
Leute Masken, aber vonAbstandhalten
ist nichts zu spüren. Immerhin startete
die Stadtverwaltung eine Plakatkampa-
gne mitAufrufen zum Händewaschen,
Abstandhalten und Maskentragen. Die
Aufforderung, zu Hause zu bleiben, ist
auch deshalb wichtig, weil abFreitag alle
Flüge insAusland gestrichen sind,aber
der Binnenverkehr nicht eingeschränkt
ist.Das droht die Seuche weiter imLand
zu verteilen. Zugleich will dasParlament
drakonische Strafen fürVerletzungen
des Quarantäne-Regimes einführen.

Putins durchkreuzte Pläne


Putin war nie ein guter Krisenmanager,
vor allem nicht am Anfang von Ereignis-
sen, die er nur noch bedingt zu beeinflus-
sen vermag. Das zeigt auch seineReak-
tion jetzt. Seine Pläne für diesesJahr
waren ganz andere – mit den um seinen
möglichenVerbleib an der Macht ange-
reichertenVerfassungsänderungen hätte
die Bevölkerung neu mobilisiert werden
sollen, und wirtschaftlich hätte es nach
magerenJahren wieder vorangehen sol-
len. Anstatt geopolitischen Einfluss im
Nahen Osten zu sichern, muss er sich
nun um lästigeFragen kümmern, die
vieleVorhaben zunichtemachen.
Mit den angekündigten wirtschaft-
lichen und sozialen Stützmassnahmen
lässt sich auch das angeschlageneVer-
trauen der Bevölkerung nicht verbessern.
Eher noch drohen der Umgang mit der
Pandemie und dieWirtschaftskrise die
Einschätzung zu bestätigen, der Kreml-
chef habe den Bezug zur Lebensrealität
seiner Bürger verloren.Sobjanin dagegen
kann in der Krise nur gewinnen.

Sobjanin – hier auf einem Plakatnach sowjetischemVorbild – lässtsüdlich von Moskau im Eiltempo ein Corona-Spital bauen. EPA

Gefährlicher Ärztemangel in Südosteuropa


Der medizinische Sektor ist besonders stark von der Abwanderung v on Fachkräften betroffen


VOLKERPABST, ISTANBUL


Als Montenegro vergangeneWoche den
ersten Erkrankungsfall meldete, ver-
schwand auch der letzte weisse Fleck
von der europäischen Corona-Karte.
Kosovo hatte bereits einigeTage zuvor
eine erste Infektion bestätigt. Obwohl
dieFallzahlen noch immer tief sind im
Vergleich zu den westeuropäischen Epi-
zentren, breitet sich dasVirus mittler-
weile auch im Südosten desKontinents
rasant aus. Am Montag hatte Monte-
negro den erstenTodesfall zu beklagen.
Der in derRegion notorischeMangel
anstaatspolitischerVerantwortungsteht
der Bekämpfung desVirus für einmal
nicht imWege. Auch diejenigenRegie-
rungen, die zu normalen Zeiten primär
auf Eigennutz und Machterhalt fokus-
siert sind, haben den Ernst derLage
erkannt. In fast allen Staaten gelten
mittlerweile weitreichendeAusgangs-
beschränkungen, die drastischste seit
Mittwoch inRumänien. Mit der grossen
Diaspora in Spanien und vor allem Ita-
lien, wo 1,3 MillionenRumänen leben,
galt der Karpatenstaat seitBeginn der
Krise als besonders exponiert.


Seltener Pragmatismus


Noch früherreagiert hat Serbien, ob-
wohl PräsidentVucicam Anfang der
Krise seinenLandsleuten noch emp-
fohlen hatte, dasVirus mit einem Glas
Pflaumenschnaps zu bekämpfen. Dort-
zulande dürfen die Häuser nachts be-
reits seit zehnTagen nicht mehr verlas-
sen werden. Zurzeit baut die serbische
Armee das Messegelände in Belgrad zu
einem riesigenFeldspital um.
Selbst Bosnien-Herzegowina, der In-
begriff staatlicher Dysfunktionalität auf
demBalkan, legt zurzeit eine beeindru-
ckende Handlungsfähigkeit an denTag.
In Zeiten der Krisearbeiten dieVertre-


ter der ethnischen Gruppen weitgehend
reibungslos zusammen. Nur inKosovo,
wo dieRegierung am Mittwoch zerbro-
chen ist, gelang es nicht, angesichts der
Gefahr dieReihen zu schliessen.
In der ganzenRegion blickt man zur-
zeit mit grosser Sorge auf die Gesund-
heitssysteme. Zwar verfügen die meisten
Staaten noch aus sozialistischer Zeit über
einrelativ solides Gerüst für die medizi-
nische Grundversorgung. Bulgarien ge-
hört– auch begünstigt durch den star-
ken Bevölkerungsrückgang – mit 760
Spitalbetten pro 100 000Einwohner so-
gar EU-weit zu den Spitzenreitern. Bei
den Kapazitäten auf der Intensivstation
liegtRumänien an vierter Stelle hinter
Deutschland, Luxemburg und Österreich.
Schwieriger wird es bei derAusrüs-
tung undvorallem beimPersonal. Denn
kein Sektor in derRegion ist derart
stark von der seitJahren andauernden
Abwanderung vonFachkräften betrof-
fen wie der medizinische. In den letzten
zehnJahren haben 25 00 0 ÄrzteRumä-
nien verlassen, bei den Krankenpfle-
gern waren es allein zwischen 2009 und
20152800 0 Personen.Das viel kleinere
Kroatien hat seit dem EU-Beitritt 2013
570 Ärzte durch Emigration verloren.
Aber auch Staaten ausserhalb der
Union verzeichnen eine starke Abwan-
derung. In Serbien werden jährlich 80 0
Bescheinigungen ausgestellt, die Ärzte
für Bewerbungen imAusland benötigen.
InKosovo stehen den150 Absolventen
der medizinischenFakultäten proJahr
180 voll ausgebildete Ärzte gegenüber,
die dasLand verlassen.
Die Gründe sind offensichtlich.
Einerseits sind dieVerdienstmöglich-
keiten imWesten viel besser, besonders
für Krankenpfleger, die in ihrenLän-
dern oftmals nur wenige hundert Euro
pro Monat erhalten. Zwarsindauch die
Arztgehälter niedrig, doch haben Medi-
ziner eher dieMöglichkeit, über Privat-

behandlungen ein Zusatzeinkommen zu
erwirtschaften. Bei Ärzten steht deshalb
weniger die wirtschaftliche Not imVor-
dergrund als die Arbeitsbedingungen in
den meist schlecht ausgerüsteten Spitä-
lern und dieAusbildungsmöglichkeiten
für dieFamilie. Hinzukommt die aktive
Anwerbung der Zielländer, insbeson-
dere Deutschlands, wo infolge derrasch
alternden Bevölkerung der Bedarf an
Pflegekräften und medizinischemFach-
personal in denkommendenJahren
drastisch zunehmen wird.
Viele junge Südosteuropäer starten
eineAusbildung im Gesundheitsbereich
bereits mit dem klaren Ziel zu emigrie-
ren.Das ist auch in finanzieller Sicht
ein Problem für die Herkunftsländer.

DieAusbildung eines Arzteskostet den
kosovarischen Staat 100 000Euro.

Wenige Ärzte auf dem Land


Noch problematischer ist der Effekt für
die medizinischeVersorgung, insbeson-
dere jenseits der grossen Zentren. Die
ohnehin tiefe Ärztedichte in einigen der
Länder (siehe Grafik) wird noch dra-
matischer, wenn man die extrem unglei-
cheVerteilung innerhalb desLandes be-
rücksichtigt.Das Kreisspital von Zenica
in Zentralbosnien etwa, das ein Einzugs-
gebiet mit mehr als 100 000 Einwohnern
abdeckt, kann seitletztem Herbstkeine
neuropädiatrischen Behandlungen mehr
anbieten.Dies alles wirft dieFrage auf,

inwiefern die Gesundheitssysteme den
zu erwartenden Ansturm in den nächs-
tenWochen und Monaten meisternkön-
nen. MitAusnahmeKosovos weisen alle
Länderstarkalternde Gesellschaften
und damit einen besonders hohen An-
teil an gefährdetenPersonenauf.
Entsprechend versuchen dieRegie-
rungen, mehr Fachpersonal aufzubie-
ten.Das imregionalenVergleich privi-
legierte Slowenien hat dieFacharztaus-
bildung ausgesetzt, damit die Studenten
unterstützend einspringenkönnen. Der
Chef des Hauptspitals in Sarajevo er-
klärte gegenüber der Nachrichtenagentur
AP, dass er mindestens 30 Prozent mehr
Personal brauche, und appellierte an pen-
sionierte Ärzte, den Dienst wieder auf-
zunehmen. Albanien, Bulgarien und Ser-
bien haben die Gehälter für Gesundheits-
berufe teilweise merklich erhöht.
EineRückkehr der emigriertenFach-
kräfte ist nicht zu erwarten.Dass die
Corona-Krise dazu führt, dass dieBal-
kan-Staaten künftig stärker versuchen
werden, die Emigration ihrerFachkräfte
einzudämmen, ist aber durchaus möglich.
Bereits imFebruar erklärte der serbische
PräsidentVucic, es werde keine mit Berlin
koordinierte Entsendung von Kranken-
pflegern nach Deutschland mehr geben.
Unabhängig davon birgt die Abhän-
gigkeit von Immigration aus Osteuropa
gegenwärtig auch für die westlichen Ge-
sundheitssysteme Risiken.Vor allem im
Pflegebereich ist die sogenannte zirku-
läre Migration ausgeprägt: Arbeitskräfte
kommenregelmässig für einige Monate
nach Deutschland, Österreich oder in
die Schweiz, behalten ihren Lebensmit-
telpunkt aber im Heimatland.In der
häuslichen Pflege («24-Stunden-Pflege»)
kümmern sich oft mehrerePersonen ab-
wechslungsweise um einen betagten
Menschen. Ersatz steht wegen der gelten-
denReisebeschränkungen und Quaran-
täneverordnungen kaum zurVerfügung.

https://myldl.biz
Free download pdf