Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

Freitag, 27. März 2020 INTERNATIONAL 7


Der Vulkan Taal hat einen Garten Eden


in eine Mondlandschaft verwandelt


Auf den Philippin en haben viele Familien nach dem Ausb ruch am 12. Januar ihre Lebensgrundlage verloren


MANFRED RIST, TAGAYTAY


Der Aberglaube, dass Schaltjahre Un-
glück bringen, hält sich auch auf den
Philippinen hartnäckig. 2020 schien sich
derAberglaube bereits vor derAnkunft
derCoronavirus-PandemieimInselstaat
zubestätigen.FürdieBevölkerunginden
Hügeln der südlich von Manila gelege-
nen ProvinzBatangas begann dasJahr
mit einem Knall, der dort allerlei omi-
nöseVermutungenbestärkt:DerVulkan
Taal,deranSilvesternochtiefzuschlum-
mern schien, explodierte wenigeTage
später und rief zumindest denAbergläu-
bischen in Erinnerung, dass ein prekä-
res Jahr begonnen hatte. Allen anderen
zeigte derAusbruch wieder einmal, wie
unruhig und brüchig die Erdkruste des
philippinischen Archipels ist.


Ein toxischesGemisch


Biszujenem12.Januar hatteRamilAlva-
rezdreiJobs.AufdemTaal-Seeunterhielt
der 46-jährigeFilipino einekleineFisch-
farm,hinter seinem Haus zoger Hühner
auf, und wennTouristen kamen,führte er
diese auf denVulkanberg, der keck mit-
ten aus dem Seeragt. Besucher kamen
immer mehr, seit inTagaytay, einer hüb-
schen Kleinstadt auf 700 Metern Höhe,
eine Lodge zu einem Luxushotel mit
Konferenzräumen ausgebaut worden
war.DasHochplateaumitSichtüberden
See und denVulkan war damit zu einem
erstklassigenAusflugsziel geworden, wo
viel geheiratet und nochviel mehr ge-
knipst wu rde. Hin und wieder wurden
hier gar Ministertreffen abgehalten oder
ausländischeStaatsgästeempfangenund
in die Schönheiten der philippinischen
Landschaft eingeweiht.
Mit demRumpeln des MountTaal
an jenem Morgen am 12.Januar begann
sich aber einiges zu ändern. Wä hrend
die Gäste derTaal Vista Lodge wäh-
rend des Mittagessens Zeuge eines dra-
matischenAusbruchs in zunächst siche-
rer Entfernung wurden, war es amFuss
des Vulkans bedeutend weniger gemüt-
lich. Ramil Alvarez hatte einen solchen
Ascheregen noch nie erlebt: Der Him-
mel verdunkelte sich, Blitze schossen
aus dem Krater, die Luft wurde staubig,
und schwarzerAuswurf prasselte auf die
Hütten nieder. Das toxische Gemisch
aus heissen Brocken, Asche und Gasen
liess im See die in Becken schwimmen-
den Jungfische verenden.Auch zurRet-
tung der Hühner bliebkeine Zeit. Die
verängstigtenPonys, auf derenRücken
sich Besucher sonst während der Sai-
son an den Kraterrand schaukeln lies-
sen, konnten zwar zwischen den Erup-
tionen mit Booten gerettet werden, an-
dere Nutztiere aber nicht.


1976 war es wenigerschlimm


Ähnliches, allerdings nicht in diesem
Ausmass, passierte das letzte Mal1976 –
ebenfalls ein Schaltjahr. Der 74-jährige
CornelioVilanueva,Ramils Nachbar, ist
der Einzige auf derVulkaninsel, der sich
an denAusbruch vor 44Jahren erinnern
kann.Damals habe man zum Besen ge-
griffen und die Plantagen von der Asche
gesäubert, erklärt er vor seiner halb ver-
schütteten Hütte; nach ein paarTagen
sei alles wieder normal gewesen. Dies-
mal aber sei alles weg, verschwunden,
begraben und tot. Den Namen desVul-
kans spricht der alteBauer mit hohlem
Mundalslanggezogenes«Taahl»aus,was
irgendwie zu seiner hageren Gestalt und
seinem knochigen Gesicht passt.Dann
nimmt er wieder Pickel und Schaufel in
die Hand und versucht sein verschütte-
tes Häuschen auszugraben.
Der Vulkan liess CornelioVilanueva
undseineFamilieübervierJahrzehntein
Ruhe und sicherte ihnen ein bescheide-
nesAuskommen.SeinegrünenAbhänge
waren vollerKokospalmen und erlaub-
ten dieKultivierung vonGemüsen und
Früchten,dieauchinTagaytayaufMärk-
tenunddenStrassenentlangfeilgeboten


werden. Wegen der Höhenlage auf 70 0
Metern über Meer ist das Klima mild,
unddieNächtesinderstaunlichfrisch.Im
Süsswassersee vor seinem Haus – einem
267 Quadratkilometer weiten tektoni-
schenKessel aus der Urzeit – tummeln
sich reichlichTilapia-Fische. Längst ist
das Wasser wieder tiefblau, als wäre vor
ein paarWochen nichts passiert.
Auf der Insel dagegen sind dieVer-
wüstungen offensichtlich.Farbige Bilder
von vorher kann man sich inmitten die-
ser grauen Einöde jetzt kaum noch vor-
stellen.Aus dem Hühnerstall, wo Ramil
Alvarez seine Hennen hielt, dringt mitt-
lerweile ein säuerlich-beissenderVer-
wesungsgeruch. Der Schuppen und die
Gatter sind zu dreiVierteln unter der
bereits steinhartenAsch eschicht begra-

ben. Die kleinen Kadaver liegen flach
ausgestreckt in ihren Gitterkäfigen.
Blossein paar Fliegensurren herum
und belästigen den fremden Besucher.
Andere Lebenszeichen existieren hier
nicht mehr.
Zwischen eingedrückten Häusern
liegt eine toteKuh, die dort vergeb-
lich Schutz suchte; bereits hat dieVer-
wesung ihre riesigen Zähne freigelegt,
die nach Luft zu schnappen scheinen.
Das Pack der streunenden Hunde macht
einen weiten Bogen um den Kadaver.
Die Vierbeiner sind im Morgengrauen,
wenn der See noch ruhig ist, aufAus-
legerbooten an der Seite von ein paar
früheren Bewohnern herübergekom-

men. BeiTagesanbruch beginnen diese
mit Hacken und Schaufeln und mit dem
Ausbuddeln ihrer Häuser. Am Abend
müssen alle zurück nachTalisay, einem
idyllisch gelegenen Flecken, deram
nördlichen Ufer des Sees liegt. DieVul-
kaninselTaal selbst gilt nämlich immer
noch als Gefahrenzone. Für Fremde ist
das Betreten der Insel offiziell verboten.

Alles grau in grau


DerVulkan Taal giltwegen seiner unver-
mittelten Eruptionen als heimtückisch.
Weil er jahrzehntelang schwieg, fass-
ten Bewohner aus derBatangas-Region
aber zusehendsVertrauen und siedel-
ten sich auf der Insel an.Als sich1911 –
kein Schaltjahr – die vorletzte gewaltige
Eruption ereignete, überraschte er die
ganze Inselbevölkerung sowie die Ufer-
siedlungen rund um den See, was da-
mals1400Todesopfer forderte. Diesmal
konnte die Bevölkerung auf Schiffen
und Bootenrechtzeitig evakuiert wer-
den. Sie wurde inAuffanglagern unter-
gebracht oder fand bei Bewohnern in
Tagaytay und weit ausserhalb der Ge-
fahrenzone Unterschlupf. DerenRadius
wurdeauf 14 Kilometer festgesetzt.
Die menschlichen Sinne, die von der
Tropenvegetation anderswo auf diesen
Breitengraden so verwöhnt sind,reagie-
ren beim Betreten der Insel zunächst
irritiert.Alle Naturfarben sind hierver-
schluckt worden.Vom Staub am Boden
bis zum Horizont dominieren aschgraue
Töne. Ob die kleine Dorfkapelle, auf
derenDach noch ein zerzauster Christ-
baum steht, einst wohl einen eigenen
Farbton hatte?Jedenfalls ist davon jetzt
nichts mehr zu erkennen. Die Asche, die
ausdenglühendenTiefendesTaal-Mons-
tersstammenmuss,hatalleRitzengefüllt,
die Wände zugekleistert und dieDächer
eingedrückt.DerKirchplatzwarauchder
Basketballplatz. Die beiden Netzkörbe
kann man jetzt ergreifen,ohne die Hand
auszustrecken, so hoch sind die Ablage-
rungen aus Geröll und Asche.

Auch die würzigen Gerüche der
Natur, diese ständigen Begleiter im war-
menTropenklima, sind irgendwie ver-
schwunden. Erst später, als Ramil Alva-
rez während einer Arbeitspause unter
einer Plane eine dampfendeTasse mit
Nescafé herüberreicht und dazu ein sal-

ziges Biskuit auftischt, melden sich die
Geruchs- und Geschmacksempfindun-
gen zurück.Das Wasser hat er mithilfe
eines kleinen Solarpanels aufgekocht.
SchliesslichdieOhren:Esherrschtfast
Totenstille. Auf demWeg zum Gipfel,wo
die Vulkansuppe nochkocht, hört man
das Knirschen unter den Sohlen und den
eigenen Atem, fast wie auf einer Skitour.
Ehemalige amerikanische Mondfahrer,
diemanhierherversetzenwürde,könnten
vermutlich einen interessantenVergleich
ziehen.Aber wir befinden uns hiernicht
im All, sondern bloss70 Kilometer süd-
lich von Manila.Aus der einst so frucht-
baren Insel undTouristenattraktionTaal
ist einödes Niemandslandgeworden, wo
plötzlichaufkommendeWindeeinemden
Sand ins Gesicht treiben.

Wie Schneeverwehungen


Früher hatte es hierKühe und kleine
Pferde, auf denen Hunderte vonTouris-
ten durchPalmenhaine und grüneVege-
tation an den Kraterrandritten.Von dort
ging es dann gutgläubig in dieTiefe ins
Kraterzentrum,woübervierzigJahrelang
Ruhe herrschte und die Flora spriessen

konnte. Für buntes Leben in diesem ehe-
maligen kleinen Garten Eden sorgte das
Regenwasser, das sich dort sammelte.
Wanderer, Jogger und Biker, die den
Weg nach oben sportlich in Angriff nah-
men,konnten sich am Ziel schweissgeba-
det ins Grüne setzen und sich anKokos-
milch und frisch zubereiteter Ananas er-
quicken. Es wurde grilliert, und in den
Pfannen schmorten dieTilapias.
Dort oben,wo sich derAuswurf mäch-
tigen Schneeablagerungen gleich aufge-
türmt hat, wartet jetztkeine Seele mehr.
Die Vegetation ist meterdick unter den
tagelang niederprasselndenAuswürfen
begrabenworden.DerdurchThermikan-
gefachteWind pfeift hier heimtückisch,
und der aufgewirbelte Staub verwischt
die Konturen. Der an Schneeverwehun-
gen erinnernde Kraterrand ist brüchig,
weshalbVorsicht geboten ist. Unten im
Schlund, wo die Erdkruste am 12.Januar
in gewaltigen Explosionen weggesprengt
wurde, brodelt derweil eine schneeweisse
Brühe, die noch niemand näher inspiziert
hat.AlleinederBlickausderDistanzlässt
aber dieVermutung aufkommen, dass da
mächtigereundunberechenbarere Fakto-
ren als Schaltjahre am Werk sind.

Eine Ascheschicht überzieht dieFamilienfotos an derWand eineszerstörten Hauses imDorf Buso Buso. Die Bewohner sind Hals überKopf weggezogen. EZRA ACAYAN / GETTY

Die würzigen Gerüche
der Natur, diese
ständigen Begleiter im
warmenTropenklima,
sind irgendwie
verschwunden.

Die kleinen Kadaver
liegen flach
ausgestreckt in ihren
Gitterkäfigen. Bloss
ein paar Fliegen
surren herum.

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