Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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dort droht eine Krise einer ganz neuen Dimension.
Eine Krise, die die Euro-Schuldenkrise, die vor
zehn Jahren ausbrach und bist heute nicht bewäl-
tigt ist, in den Schatten stellen könnte.
Wenn selbst Deutschland wegen der staatlich
verordneten Zwangsstilllegung ein Einbruch der
Wirtschaftsleistung von 20 Prozent droht, so wie es
das Münchener Ifo-Institut in seinem Worst-Case-
Szenario darstellt – was bedeutet das dann für die
ohnehin viel schwächeren Ökonomien des Südens?
Beispielsweise Italien, das im vergangenen Jahr-
zehnt wenn überhaupt nur in homöopathischen
Dosen gewachsen ist und einen Schuldenberg von
2,4 Milliarden Euro, das heißt 130 Prozent der Wirt-
schaftsleistung, vor sich herträgt. Was bedeutet es
für Spanien, das auch nach zwölf Jahren immer
noch mit den Folgen der geplatzten Immobilienbla-
se kämpft und eine Arbeitslosigkeit von 13 Prozent,
unter Jüngeren sogar von 30 Prozent aufweist?
Oder für Griechenland, jenes hoffnungslos über-
schuldete Land, das die Euro-Krise ausgelöst hatte
und mit 175 Prozent der Wirtschaftsleistung und
trotz mehrerer Schuldenschnitte immer noch die
mit Abstand höchste Schuldenquote aufweist (sie-
he Seiten 50 und 51).
Hält die Corona-Pandemie mehrere Monate an,
werden diese Länder sich aus eigener Kraft nicht
mehr aus der Krise befreien können. Acht Jahre
nach dem Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise
droht erneut der Zusammenbruch der Währungs-
union. Damals schon konnte der Euro nur gerettet
werden, weil Mario Draghi, der kürzlich abgetrete-
ne Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), mit
ebenso unorthodoxen wie umstrittenen Aktionen
die Währungsgemeinschaft zusammenhielt.
Nachtsitzungen bei der EZB
Es ist wieder so weit. Draghis Nachfolgerin, die
Französin Christine Lagarde, musste Angriffe von
Spekulanten auf die schwächsten Mitglieder der
Währungsunion abwehren. Die Notenbank be-
schloss ein Pandemie-Notfall-Kaufprogramm (PEPP)
in Höhe von 750 Milliarden Euro, nachdem die Ren-
diten italienischer Staatsanleihen mit zehnjähriger
Laufzeit innerhalb weniger Wochen von unter ei-
nem auf mehr als drei Prozent nach oben schossen.
Zusammen mit dem bereits laufenden Anleihekauf-
programm weist die Zentralbank bis Ende 2020 ein
Kaufvolumen von 100 Milliarden Euro auf – monat-
lich.
Wieder war es eine außerordentliche Nachtsit-
zung der EZB. Wieder war es eine Garantieerklä-
rung – angelehnt an die legendäre „Whatever it ta-
kes“-Rede ihres Vorgängers in London 2012 auf
dem Höhepunkt der letzten Euro-Krise. Erst am
Donnerstag musste die Zentralbank wieder zur Tat
schreiten. Diesmal hob sie die Limits für ihr neues
Ankaufprogramm auf. Bislang darf die EZB nach ih-
ren selbst gesteckten Grenzen nicht mehr als ein
Drittel der ausstehenden Anleihen eines Landes
kaufen. Dieser Grenze haben sich die Frankfurter
Währungshüter nun entledigt. Die Absicht ist klar:
Die Notenbank, die jetzt schon italienische Bonds
im Wert von 370 Milliarden Euro in ihren Büchern
hält – das entspricht 18 Prozent des Gesamtvolu-
mens italienischer Anleihen –, will sich alle Optio-
nen offenhalten: für den Notfall.
Das Tragische an dieser neuen durch ein Virus
ausgelösten Krise: Wieder trifft es die schwächsten
Mitglieder der Euro-Zone am härtesten. Die Zahl
der Corona-Infizierten in Italien ist inzwischen auf
74 000 gestiegen, die der Todesopfer auf mehr als
7 500. Um die Pandemie zu stoppen, versetzte die
Regierung in Rom das Land in eine Art künstliches
Wachkoma – nur noch „systemrelevante Unterneh-
men“ dürfen produzieren. Ein Total-Stillstand fast
Ruth Berschens, Eva Fischer, Martin Greive,
Jan Hildebrand, Jens Münchrath
Brüssel, Berlin Düsseldorf
O
laf Scholz muss derzeit nicht nur
der deutschen Wirtschaft helfen,
sondern auch seiner Stimme. Als
der Bundesfinanzminister am
Dienstag zunächst mit seinen Kolle-
gen aus den G7-Staaten und später mit seinen euro-
päischen Kollegen in einer Videoschalte konferier-
te, gab es vorher erst einmal Hustensaft. Das kleine
Fläschchen „Bronchicum Elixir“ steht griffbereit
auf seinem Schreibtisch, etwas abseits außerhalb
der Kamera der Videokonferenz. Auf der anderen
Seite des Schreibtischs liegt eine Packung Ricola-
Bonbons, Sorte „Schweizer Kräuterzucker“, aus
der sich der SPD-Mann ausgiebig bedient.
Scholz plagt seit Tagen eine schwere Erkältung.
Trotzdem muss er die vielen Telefonschalten
durchstehen. Schon als er am Samstagabend in ei-
ner Telefonkonferenz mit Haushalts- und Wirt-
schaftspolitikern des Bundestags die gigantischen
Corona-Rettungspakete präsentierte, gingen einige
Zahlen im Husten des Ministers unter. Später hör-
ten die Abgeordneten dann im Hintergrund, wie
Scholz bei sich zu Hause den Kaffeeautomaten an-
schmiss. Der Minister hat lange Arbeitstage und be-
kommt kaum Schlaf.
Gesund ist der Lebensstil von Olaf Scholz sicher
nicht. Und es ist bei Weitem nicht nur der kritische
Zustand der deutschen Corona-geplagten Wirt-
schaft, der dem Minister den Schlaf raubt. Es ist
vor allem der Ausnahmezustand der südeuropäi-
schen Volkswirtschaften, der ihn umtreibt. Denn
Unruhe an den Finanzmärkten
Renditeabstand* zur
Bundesanleihe
in Prozentpunkten
HANDELSBLATT *Anleihen: Laufzeit 10 J. • Quellen: Bloomberg, Thomson Reuters
1,930 PP
0,994 PP
1,698 PP
Griechenland
Spanien
Italien
1.10.2019 26.3.2020
4
3
2
1
17,7
76,4
1,0
Griechenland
Spanien
Italien
1.10.2019 25.3.20 20
4
3
2
1
Prämie zur Absicherung
eines Zahlungsausfalls (CDS)
für 5 Jahre in Basispunkten