Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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der gesamten Ökonomie über Wochen, vielleicht
Monate – wann hat es so etwas schon gegeben?
Die Bilder von den menschlichen Tragödien, die
in Italien täglich zu besichtigen sind, könnte es in
wenigen Tagen auch in Spanien geben. Das Land
beklagt inzwischen 2 323 Todesopfer – die Zahl der
Infizierten liegt bei 49 000.
Der Süden braucht die Solidarität des Nordens –
er braucht humanitäre und vor allem auch finan-
zielle Unterstützung. Massive Konjunkturpakete
zur Stützung der Wirtschaft, so wie es der Bundes-
tag gerade verabschiedet hat – Gesamtsumme 1,2
Billionen Euro –, können sich weder Spanien noch
Italien leisten. Die Staatsverschuldung der dritt-
größten Volkswirtschaft des Währungsgebiets be-
trägt gigantische 2,4 Billionen Euro – das ist fast ein
Viertel der gesamten Euro-Zonen-Verschuldung.
Auch auf dem spanischen Staat lastet eine Staats-
schuld in Höhe der Wirtschaftsleistung.
Aus eigener Kraft werden es die dritt- oder viert-
größte Volkswirtschaft der Euro-Zone nicht schaf-
fen: „Bei hochverschuldeten Ländern könnte es zu
einem Kollaps des Vertrauens kommen“, warnt Ifo-
Chef Clemens Fuest. Das gelte vor allem für Italien.
„Die Staaten des Euro-Raums einschließlich der
EZB müssen klar signalisieren, dass alle Länder
konsequent gestützt werden und Ausfälle bei
Staatsschulden ausgeschlossen sind“, warnt der
konservative Ökonom. Jetzt seien „drastische Maß-
nahmen erforderlich“. Auch Guntram Wolff, Direk-
tor des Wirtschaftsforschungsinstituts Bruegel,
mahnt: „Italien kann noch Schwierigkeiten an den
Anleihemärkten bekommen.“ Die Euro-Zone müs-
se dringend „gegensteuern, um spekulative Angrif-
fe gegen südeuropäische Staaten zu vermeiden“ (
Seite 47).
Wenig Gemeinsamkeit
Doch die Realität sieht anders aus. Erst mal wird
gestritten. Kleinstaaterei und nicht die Suche nach
einer gemeinsamen Lösung dominiert die politi-
schen Gespräche zwischen den Regierungszentra-
len in Europa. Grenzen werden geschlossen, ohne
Absprache, Exportstopps für Schutzmasken und
Sauerstoffgeräte verhängt, ohne die Betroffenen
Länder auch nur zu informieren. Der einheitliche
Binnenmarkt, die größte Errungenschaft der euro-
päischen Integration – er existiert nicht mehr.
Konfrontation statt Kooperation – das ist die
Stimmung unter Europas Krisenmanagern. Ihre
Gereiztheit ist der Tatsache geschuldet, dass diese
Krise eine völlig neue Qualität hat – nicht nur was
ihre globale Ausbreitung und die unglaubliche Di-
mension der ökonomischen Schäden, die sie an-
richtet, angeht. Auch die Mittel im Kampf gegen
diese Krise hat es so noch nicht gegeben.
In ihrer Not setzten die EU-Finanzminister am
vergangenen Montag den Europäischen Stabilitäts-
pakt komplett außer Kraft, überhaupt zum ersten
Mal in der Geschichte des Euros. Die EU-Limits für
Staatsdefizite (drei Prozent vom Bruttoinlandspro-
dukt) und für die Gesamtverschuldung (60 Prozent
vom BIP) gelten nicht mehr – von heute auf mor-
gen. Allein das ist eine kleine Revolution. Jahrzehn-
telang hatten die Europäer um diesen Pakt gerun-
gen, um endlich ihre Währungsunion auf ein stabi-
les Fundament zu stellen.
Jetzt kommt ein nationales Rettungspaket nach
dem anderen. Wer die Rechnung am Ende bezahlt?
Alles offen. Auf 13 Prozent des Euro-Zonen-BIP be-
ziffert die Euro-Gruppe die bisherigen Stützungs-
maßnahmen und Garantien. Das sind mehr als 1,5
Billionen Euro. Schon jetzt aber lastet auf der Euro-
Zone eine Staatsverschuldung von insgesamt mehr
als zehn Billionen Euro. Die Nervosität in den Re-
gierungspalästen und den Schaltstellen der EU
wächst.
Stillstand in Brüssel
In dem sonst so hektischen Europaviertel Brüssels
herrscht in diesen Tagen eine außergewöhnliche
Stille. Die Fahnen der EU-Staaten flattern im Früh-
lingswind, ab und zu fährt ein leerer Nahverkehrs-
bus vorbei. Die Europaparlamentarier sind in ihre
Heimatländer zurückgekehrt, geben bei Abstim-
mungen per E-Mail ihr Votum ab. EU-Regierungs-
chefs und Ministerräte tagen nur noch per Video-
schalte. Die 27 EU-Kommissare kommen zwar
noch ins Büro in den oberen Stockwerken des Ber-
laymont, dem Stammsitz der EU-Behörde. Doch
persönlich begegnen dürfen sie sich dort auch
nicht mehr. Selbst Tür an Tür sitzende Kommissare
sind gehalten, per Video zu kommunizieren.
Der Politikbetrieb in Brüssel ist fast zum Still-
stand gekommen – und das in der vielleicht größten
Krise der Nachkriegsgeschichte. Dass die Corona-
krise den europäischen Zusammenhalt gefährdet,
scheint auch den Regierungschefs der 27 EU-Mit-
gliedstaaten inzwischen zu dämmern. Am Donners-
tagabend wollten sie sich erneut zu einer Videokon-
ferenz zusammenschalten, um zu retten, was zu
retten ist. Die Schalte begann erst nach Andruck
dieser Ausgabe, doch im Entwurf einer Erklärung,
die bei dem virtuellen EU-Gipfel beschlossen wer-
den sollte, heißt es: Befristete Grenzkontrollen sei-
en zwar erlaubt, doch ein „reibungsloser“ grenz-
überschreitender Verkehr „von Personen und Gü-
tern“ müsse sichergestellt werden. Exportverbote
für medizinische Schutzmasken sollten „vollständig
aufgehoben“ werden. Auch gelte es, die „sozio-öko-
nomischen Konsequenzen“ der Coronakrise ge-
meinsam „anzupacken“.
Das sind zurückhaltende, ja zaghafte Formulie-
rungen, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel
steht. Warum die Europäische Union in diesen Ta-
gen so machtlos wirkt, zeigt bereits eine Schalte der
Euro-Finanzminister am vergangenen Dienstag.
Die Frage der Euro-Bonds
Rund zwei Stunden dauerte die Telefonkonferenz
der Euro-Finanzminister, zu der sich Olaf Scholz
aus seinem Büro im Bundesfinanzministerium zu-
geschaltet hatte. Er und seine Kollegen berieten da-
rüber, wie sie die enormen ökonomischen Schä-
den, die Corona verursacht, abmildern können.
Frankreich, Italien und Spanien fordern seit Tagen,
dass die Euro-Zone einen Beitrag leisten müsse, da
die Staaten überfordert sein könnten. So forderte
der spanische Notenbankchef Pablo Hernández de
Cos weitreichende Stützungsaktionen der Euro-
Xinhua / eyevine / laif
Xinhua / eyevine / laif [M],
Wir werden
innerhalb
unseres
Mandats alles
tun, was
erforderlich
ist, um den
Euro-Raum in
dieser Krise zu
unterstützen.
Christine Lagarde
EZB-Chefin
Krisenmanager Europäische Zentralbank
Bilanzsumme in Mrd. Euro
Volumen der von der EZB gehaltenen Anleihen
Käufe im Rahmen des PSPP1
Anteil der nationalen Zentralbanken am Kapital2 der EZB
Nationale Zentralbank
Deutschland Italien Spanien
Anteil in Prozent des Gesamtbestandes
370,6
16,7 % 11,7 %
Mrd. €
531,2
23,9 %
Mrd. € 261,2
Mrd. €
Deutsche Bundesbank
Banque de France
Banca d’Italia
Banco de España
De Nederlandsche Bank
Gesamt
Kapital-
schlüssel
Gezeichnetes Kapital
21,4
16,6
13,8
9,7
4,8
%
%
%
%
%
2,32
1,80
1,50
1,05
0,52
Mrd. €
Mrd. €
Mrd. €
Mrd. €
Mrd. €
10,82 Mrd. €
Deutschland
Frankreich
Italien
Spanien
Niederlande
HANDELSBLATT
1) PSPP = Public Sector Purchase Programme
2) Stand: 30.1.2020, Beitragsschlüssel nach dem Brexit
Quellen: EZB, Bloomberg
4 927 Mrd. €
1.1.2010 20 .3.20 20
5 000
4 000
3 000
2 000
000