Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

Gegen den


»Rausch des


Ausnahmezustands«


Im nordrhein-westfälischen Heinsberg,
wo alles begann, sucht
Ministerpräsident Armin Laschet
nach Wegen aus dem Stillstand

M


an kann seinen Gesichtsausdruck
hinter der Atemmaske nicht richtig
sehen. An diesem Montagmittag
weiht Armin Laschet ein »virtuelles
Krankenhaus« für die intensivmedizinische Be-
handlung von Corona-Patienten in seiner Heimat-
stadt Aachen ein. Trotzdem wird klar: Für den
nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, po-
tenzieller Kanzlerkandidat der CDU, ist der Kampf
gegen die Pandemie längst mehr als eine medizi-
nische Notlage. »Wir als Politiker sind gut beraten,
jetzt nicht dem Rausch des Ausnahmezustands
und der Tatkraft zu verfallen«, findet Laschet, ohne
Namen zu nennen, und greift nach dem ganz gro-
ßen Besteck: Gerade noch habe man 70 Jahre
Grundgesetz gefeiert, nun sei man dabei, die wich-
tigsten Freiheiten fundamental zu beschneiden.
Über die Frage, wie man da wieder herauskomme,
müsse es doch »ein öffentliches Gespräch geben«.
Da liegt die Telefonschalte mit der Parteispitze, auf
der bekräftigt worden war, bis zum 20. April alle
Debatten über »Exit-Szenarien« einzustellen, gerade
vier Stunden hinter ihm.
Die Covid-19-Eindämmung als Demokratie-
projekt – für diese ehrgeizige Idee hat Armin La-
schet 50 Kilometer vor seiner Aachener Haustür
jetzt sein eigenes Labor: Es ist die Stadt Heins-
berg, 250.000 Einwohner und mit 1220 Erkrank-
ten und 31 Toten (Stand Samstag) so etwas wie
der »Ground Zero« des Corona-Virus in Deutsch-
land. Hier hatte, mit der »Kappensitzung« in der
Bürgerhalle am Abend des 15. Februar, alles ange-
fangen. Es war zum Tanz eines Männer-Balletts
im Kreis von 300 Feiernden gekommen, bei dem
»Patient Null« ahnungslos vergnügt das Virus wei-
tergegeben hatte. Seither erleben die Heinsberger,
ausweislich ihrer Facebook-Nachrichten (Recher-
chen vor Ort verbieten sich derzeit noch), nicht
nur Solidarität von ihren Landsleuten. »Heinsberg


  • Partnerstadt von Wuhan«, hat jemand unter ein
    Foto des Ortsschilds montiert. Die Heinsberger
    werden als »Corona-Schleudern« bezeichnet, Au-
    tos mit dem Kennzeichen »HS« werden zerkratzt
    und die Reifen zerstochen.
    Jetzt will Laschet aus dem Paria-Status von
    Heinsberg mithilfe der Wissenschaft einen Tri-
    umph machen – nicht nur für die Bekämpfung
    des Virus, sondern auch für den Schutz der De-
    mokratie in Zeiten des Gesundheitsnotstands. Seit
    Montag befragt ein Team unter der Leitung von
    Hendrik Streeck, Professor für Virologie an der
    Universität Bonn, tausend willkürlich aus gewählte
    Probanden in Heinsberg. Zuvor hatte man dort
    schon bei Infizierten im Schutzanzug geklingelt,
    Blutproben und Rachenabstriche entnommen.
    Ein bisschen Toilettenwasser wird in Röhrchen
    gefüllt, Luft in Testballons gesaugt, die Türklin-
    ken abgestrichen, die Oberfläche der Handys ab-
    gewischt. »Heinsberg ist das Deutschland von
    morgen«, sagt Streeck. »Der Landkreis ist der Re-
    publik immer zwei bis drei Wochen voraus.«
    Der 42-jährige Mediziner hat sich einen Na-
    men als HIV-Forscher gemacht. Er hat an der Uni
    Bonn die Nachfolge von Christian Drosten ange-
    treten, dem Charité-Virologen, der derzeit die
    Bundesregierung berät. Streeck stellt die Frage, die
    Laschet auch stellen will, ob es der Bundesregie-
    rung gefällt oder nicht: Wie kommen wir da wie-
    der raus? Welche Maßnahmen braucht man wirk-
    lich, und welche werden nur im »Rausch des Aus-
    nahmezustands« angeordnet?
    In Heinsberg wurden beispielsweise sehr früh
    Schulen und Kitas geschlossen. Bislang haben die
    Forscher noch keinen Beleg dafür gefunden, dass
    das geholfen hat.
    Laschet sei ihm dankbar dafür gewesen, dass
    Streeck eine Klärung verlangt: »Wohin genau
    wollen wir mit den Maßnahmen? Wollen wir
    eine Eindämmung?« Die Bundesregierung han-
    dele gut und situativ, aber »wir müssen einen
    Kompass entwickeln.« Für Streeck bietet Heins-
    berg eine so perfekte Forschungssituation, dass er
    nicht versteht, warum das der Bundesregierung
    unterstellte Robert Koch-Institut (RKI) nicht
    längst vor Ort ist. »Da wär ich doch vor einem
    Monat schon mit einem Team angerückt!« Auch
    Streeck hat inzwischen einen Podcast wie der
    nun allseits bekannte Christian Drosten.
    Für Laschet, dessen Landesregierung mit dem
    Hashtag #NRWkanndas für sich wirbt, ist das der
    Beginn eines Demokratieprojekts, in dem eben
    »mehr erklärt wird, als das früher oft der Fall war«.
    Die CDU unter Angela Merkel, unter der das
    manchmal wohl nicht so der Fall war, erfreut sich
    derzeit kräftig anziehender Umfragewerte. Starke
    Exekutive, ein lautes, selbstbewusstes Wir sowie
    ein Appell an Gemeinsinn und Eigenverantwor-
    tung – es wirkt, als wisse die Partei seit Langem
    einmal wieder, wer sie ist. Ob die Bürger in dieser
    Lage allerdings eine Regierung wollen, die jeden
    neuen Schritt breit zur Diskussion stellt, ist eine
    offene Frage. Laschet selbst fing sich am Montag
    jedenfalls erst mal eine höhnische Twitter-Dusche
    ein, weil er bei der Einweihung des virtuellen
    Krankenhauses vergessen hatte, seine Nase unter
    den Mundschutz zu stecken. Den Spott parierte er
    flugs mit einem Gebrauchsanweisungs-Video.
    NRW kann das. MARIAM LAU


A http://www.zeit.deeaudio

Virengrüße


aus Moskau


Der russische Staat und deutsche Rechtsradikale nutzen die


Corona-Krise, um im Internet Desinformation zu verbreiten.


Haben sie eine Chance? VON CHRISTIAN FUCHS,


LUISA HOMMERICH UND PAUL MIDDELHOFF


D


as Dokument zeich-
net das Bild einer
akribisch geplanten
Operation: Offizielle
Nachrichten-Websites
und falsche Online-
Accounts kapern Dis-
kussionen über das
Coronavirus im Netz.
In mehreren Sprachen und auf unterschiedlichen
Plattformen heißt es, Migranten hätten die
Seuche eingeschleppt. Anderswo wird behauptet,
die westlichen Regierungen ließen ihre Bürger
im Stich.
Neun Seiten umfasst der interne Bericht des
Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) zur
ausländischen Propaganda in der Corona-Krise.
Eines der enthaltenen Diagramme zeigt, wie seit


Anfang des Jahres immer mehr Menschen im
Internet nach Informationen über das Virus su-
chen: eine Kurve, die Ende Februar steil ansteigt.
Der Bericht, datiert auf Mitte März, zeigt auch,
welche Medien davon profitieren: Russia Today
etwa, der staatliche Auslandssender Russlands.


Der EAD attestiert ihm einen Riesenerfolg in
den sozialen Netzwerken. Und das nicht ohne
Grund: »Eine signifikante Desinformations-
kampagne russischer Staatsmedien und Pro-
Kreml-Kanäle betreffend Covid-19 läuft«,
schreiben die Experten des EAD. Sie sehen
hinter alldem ein Kalkül: »Diese Bemühungen
decken sich mit der umfassenderen Strategie
des Kremls, die darauf zielt, europäische
Gesellschaften zu unterwandern, indem ihre
Schwächen und internen Kon flikt li nien ausge-
nutzt werden.«
Als Ende Februar die Fälle des Coronavirus
in Deutschland zunahmen, hatten Nutzer auf
Face book und Whats App ein an der noch weit-
gehend harmlose Fake- News zugeschickt,
etwa, dass aufgeschnittene Zwiebeln das Virus
aus der Luft filtern. Aber die Informations-
kampagnen der Bundesregierung greifen mitt-
lerweile, derart simple Falschmeldungen ver-
fangen nicht mehr so leicht. Seit einigen Wo-
chen jedoch verändert sich die Kommunikati-
on im Netz, eine neue Form der Desinformati-
on tritt auf. Es kursieren Meldungen, die da-
rauf zielen, den ge sell schaft lichen Zusammen-
halt aufzuweichen und das Vertrauen in die
öffentlichen Institutionen zu zerrütten. Sie
werden von russischen Staatsmedien verbreitet
oder in rechtsextremen Chatgruppen gepostet.
Andre Wolf, der mit seinem Verein Mimikama
Internetmissbrauch erforscht und derzeit so-
wohl die österreichische als auch die deutsche
Regierung berät, spricht von »staatszersetzen-
den Mythen«.
Die Pandemie, so scheint es, eröffnet das
nächste Kapitel im globalen Informationskrieg.
Der in einem scharfen Ton verfasste Bericht
des EAD kann auch als Si gnal an Russland ver-
standen werden. Die EU will damit zeigen,
dass sie genau hinschaut, wie sich Moskau in
der Krise verhält.
Aber nicht nur Brüssel warnt vor russischer
Einflussnahme. Auch das US-Außenministeri-
um erklärte Anfang März, Moskau nutze
»Schwärme von falschen Online-Identitäten«,
um in der Corona-Krise die Stimmung im Netz
zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Dazu werde
das »gesamte Ökosystem russischer Desinfor-
mation« eingesetzt. Washington hat mit diesem
System schon einmal schmerzhafte Erfahrun-
gen gemacht. Im Vorfeld der Präsidentschafts-

wahl 2016 hatten vom Kreml beauftragte In-
ternetaktivisten der russischen Trollfabrik In-
ternet Research Agency (IRA) mit Sitz in Mos-
kau Millionen Tweets, Facebook-Kommentare
und Blogposts abgesetzt, um so den Verlauf der
Wahl zu stören. Die IRA wurde daraufhin von
einem US-Gericht verklagt, Twitter löschte einen
Großteil der Fake- Accounts.
Jedoch wurden offenbar nicht alle Trollprofile
gelöscht. Die ZEIT hat 41 Accounts aus dem Um-
feld der IRA ausgewertet. Sie sind seit Jahren aktiv,
twitterten 2014 zur Krim-Krise, bewarben 2016
den Brexit, schimpften im Vorfeld der letzten
Europawahlen auf die EU. Jetzt geht es auf diesen
Accounts um das Coronavirus: Viele der Nach-
richten lassen den liberalen Westen schlecht da-
stehen. Einige der Accounts loben das Krisenma-
nagement von US-Präsident Trump, einer teilt das
Video eines italienischen Mannes, der eine EU-
Flagge anzündet. Die Tweets sind mal scharf, mal
hetzerisch, mal neutral formuliert, aber oft weisen
sie in eine Richtung: Europa packt es nicht, die
Regierungen schützen die Menschen nicht.
»Einer der Gründe, warum der kriminelle
tiefe Staat in einem Wahljahr den #Covid19
biologischen Terror auf uns losgelassen hat: um
unsicherere Wahlmethoden einzuführen«, teilt
ein Nutzer, der sich als Trump-Fan ausgibt. Ein
anderer Account mit fast 25.000 Followern und
einem Soldaten als Profilbild beschäftigt sich
mit Angela Merkel: »Sie hat jetzt Angst ein Kil-
lervirus zu haben«, schrieb er vergangene Wo-
che, »nachdem sie versucht hat, Europa zu tö-
ten, indem sie die Grenzen für Millionen Men-
schen aufgemacht hat.« Die Tweets sind ein
weiteres Indiz dafür, dass der russische Staat die
Pandemie für seine politischen Zwecke nutzt.
Auch das aus Deutschland stammende An-
gebot politischer Agitation nimmt zu. Im »Dark
Social«, den geschlossenen Chatgruppen auf
Messenger-Diensten wie Whats App oder Tele-
gram, verbreiten Rechtsradikale zunehmend
ihre Thesen zum Virus und zu dessen Ausbrei-
tung. Über 250 solcher Telegram-Kanäle gibt es
derzeit in Deutschland, einige von ihnen haben
neutrale Namen wie »Coronavirus-Ticker«, ver-
breiten jedoch Falschinformationen aus der
»Reichsbürger«-Bewegung und der amerikani-
schen Q-Anon-Strömung, auf die sich auch der
Attentäter von Halle bei seiner Tat bezog. Vor
allem der Channel »Qlobal-Change« wächst ra-

sant. Allein in der vergangenen Woche gewann
dieser Kanal über 10.000 neue Abonnenten.
Diese Entwicklungen beschäftigen auch das
Bundesinnenministerium und die deutschen
Geheimdienste. »Das Coronavirus findet in
der rechtsextremistischen Szene große Beach-
tung«, sagte Thomas Haldenwang, der Präsi-
dent des Bundesamtes für Verfassungsschutz,
der ZEIT. Die Pandemie werde zum Anlass ge-
nommen, das Vertrauen in die Bundesregie-
rung zu untergraben, »Verschwörungstheorien
zu verbreiten und Migranten als Überträger
des Virus zu brandmarken. Gleichzeitig wer-
den Untergangsszenarien entworfen, um Zu-
stimmung zu radikalen und extremistischen
Positionen zu erzeugen.«
Noch reagieren die deutschen Sicherheits-
behörden auf die Störversuche aus Russland
mit Gelassenheit. Die Einschaltquoten und
Klickzahlen der vergangenen Wochen seien ein
Beleg dafür, dass sich die Deutschen in der Kri-
se überwiegend den klassischen Medien zu-
wandten, lautet ihre Interpretation. Tatsächlich
sahen 9,9 Millionen Menschen am 15. März
die Tagesschau, so viele Zuschauer hatte die
Nachrichtensendung seit der Fußball-WM
2018 nicht mehr. Der tägliche NDR-Podcast
mit dem Virologen Christian Drosten bringt es
bislang auf 15 Millionen Aufrufe. Die Sicher-
heitsbehörden nehmen daher an, dass die
Deutschen derzeit wenig anfällig für ausländi-
sche Propaganda sind.
Sorgen macht ihnen eher das Vorgehen des
Kremls in Italien. Dass dort vergangene Woche
russische Hilfskonvois, geschmückt mit der
weiß-blau-roten Landesfahne, medizinische Aus-
rüstung und Personal lieferten, werten die
Dienste als Teil einer »hybriden Konfliktfüh-
rung«. Denn ohnehin kritisierten viele Italiener
angesichts der verheerenden Lage, dass die EU
ihr Land im Stich lasse. Eine solche russische
PR-Aktion vertiefe diesen Eindruck und zerstöre
das Vertrauen in die europäischen Nachbar-
staaten, heißt es in Sicherheitskreisen.
Die russischen Staatsmedien flankieren die
Hilfsaktion im Netz. Auf der deutschsprachigen
Seite von Russia Today erschien am Montag ein
Text, der die mangelnde Solidarität innerhalb
Europas kritisierte. Deshalb eilten nun »China,
Russland und Kuba« der notleidenden Regierung
in Rom zu Hilfe.

Illustration: Doreen Borsutzki für DIE ZEIT

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4 POLITIK 2. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15


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