Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1

D


ie flanierendenPassanten auf
der schickenEinkaufsstraße
Omotesando mitten inTokio
staunten nicht schlecht.Sie
mochtenvorallemihrenOhrennicht
trauen.Fast im Minutentaktflogen vor
wenigen Wochen große Verkehrsflugzeu-
ge in wenigen hundertMeterHöhe über
der Straße undverbreit eten den Lärm
landender Düsenmaschinen.Fürdie Ein-
wohnerder japanischen Hauptstadtist
diese Belästigung ungewohnt, dochsie
werden sichdaran gewöhnen müssen.
Die FlügeimFebruarwarenTestflügeim
regulären Flugverkehr,umAbläufezutes-
ten. VonEnde Märzansollen die Lande-
anflügedirekt überTokio zu den regulä-
renFlugrouten zumstadtnahen Flugha-
fenHanedagehören.
Wenn de rSüdwind bläst,werden die
Fluglotsen die Flugzeugekünft ig in den
Nachmittagsstunden über Shibuya, Megu-
ro,Shinag awaund Ot azur Landebahn lei-
ten. Werdann auf derrichtigen Seite des
FlugzeugsamFenster sitzt, wirdeinen
wunderbarenBlickauf dasNationaleSta-
dion haben, das für die eigentlich in die-
sem Sommer anstehenden Olympischen
Spiele neugebautwurde. Daran wirdauch
die Verschiebung der Spieleumein Jahr,
auf die sichder japanische Ministerprä-
sidentShinzoAbeundderPräsidentdes
Internationalen Olympischen Komitees,
ThomasBach, amDienstagverständigtha-
ben, nichts ändern. Denn dieWerbungfür
Tokio 2020warohnehin nicht der Zweck
der neuenFlugrouten. Esgeht darum, die
Kapazität des Flughafens Haneda zu er-
weitern. DieRegierungwollteindiesem
Jahr dieZahl der auswärtigenTouris ten

auf40 Millionensteigern. Mit der Corona-
virus-Pandemie und der nun offiziellen
Verschiebung der Spiele istdieses Ziel
zwar überholt. Die neuen Fluglinien über
Tokio aberwerden in jedemFall kommen.

Steilerer Anfluggege nden Lärm

Dagegen gibt esWiderstand. Anwohner
fürchten den Lärm, herabfallendeTeile
und einenWertverlustihrer Immobilien.
„Überall auf derWelt bemüht man sich,
Flugzeugevon städtischen Gebietenfern-
zuhalten“, schimpftKiwami Omura,der
einer GruppevonAnwohnerngegen die
neuen Flugrouten vorsteht.„NurJapan
wendetsichgegen denTrend.“
Das warmal anders. In den siebziger
Jahre nhatteJapan gegenmilitanten Wi-

derstand der lokalen Bevölkerung den
FlughafenNarit aetwa60Kilometeröst-
lichvonTokiogebaut.Diemeisteninterna-
tionalen Flügezogen nachNarit aum. Die
rund eineStunde lang eAnreis eaus dem
Stadtzentrum heraus aberbegründetnoch
heutedenCharmedesstadtnahenFlugha-
fens Haneda, dergerade mal 20 Kilometer
vomHauptbahnhofTokio entfernt ist. Mit
450 000 Flügen im Jahrfertigt Haneda
weit mehr Verkehr ab als Narita mit
260 000. Seit einem Jahrzehntbaut die
Regierung Hanedazunehmendauchfür
internationale Flüge aus. In Haneda sol-
len die neuen Flugrouten zusammen mit
anderen Änderungen den internationalen
Flugverkehr von60000 auf 99 000 Flüge
im Jahr steigern. DieRegierung errechnet
einenwirtschaftlichenVorteilvon650Mil-

liardenYen(5,4 Milliarden Euro) im Jahr.
Omuravon der Bürgerinitiative hält dage-
gen, das sdie Routeüber dasZentrumvon
Tokio nur 11 000 zusätzlicheFlügeim
Jahrbringe. Daskönne anderweitig aufge-
fangen werden, meint er.
Bislangfliegen FlugzeugeHanedaaus
Gründen der Sicherheitund des Lärm-
schutzes über die BuchtvonTokioanoder
vomOsten kommend überweniger dicht
besiedeltes Land. Um auf den neuen
Routen direkt überTokio den Fluglärmzu
verringern, sollen die Fliegerkünftig bei
gutemWetterüberderStadtsteilerherein-
kommen. Die Flugzeugefliegen dann
beim Landen für längereZeit höher,und
der LärmamBoden istgeringer.Der An-
flugwinkel wirddeshalbbei gutemWetter
vondenglobalüblichen3auf3,4 5Grader-
höht.Das aberführt zu zusätzlichen Si-
cherheitsbedenken besorgterBürger. „Aus
meinerlangen Erfahrung als Pilotweiß
ich, dassder alt eFlughafenKaiTak in
Hongkong als diegrößteHerausforderung
galt“, sagt Hiroshi Sugie, ein ehemaliger
PilotvonJapan AirlinesundBeraterinSa-
chen Flugsicherheit.„Vonnun anwerden
Pilotenauf derganzen Welt Haneda als
den schwierigsten Flughafenweltweit an-
sehen.“ Sugie fürchtetgrößereUnfall risi-
ken, wenn die Flugzeugesteiler hereinkä-

men.Von dengroßen Flughäfen derWelt
lasse nurFrankfurtFlugzeugemit einem
Winkel vonmehr als3Prozenthereinflie-
gen, gib terzub edenken.

AmerikanerkontrollierenLuftraum

In Frankfurtwirdseit wenigen Jahren
mit einemsteileren Anflugwinkel von
3,2 Prozent der FluglärmamBoden ver-
ringer t. Dieinternationale Pilotenvereini-
gung Ifalpawarnte ihreMitglieder An-
fang des Jahres in einem Sicherheitshin-
weis vorden künftigen Schwierigkeiten,
Hanedaanzufliegen.
Der ehemaligePilotSugie sagt, dassin
Tokio nicht der Lärmschutz für densteile-
renAnflug überTokio ausschlaggebend
sei, sondern einepolitische Besonderheit.
Seit Endedes ZweitenWeltkriegs betreibt
das amerikanische Militär imWestenTo-
kiosden FlughafenYokota undkontrol-
liertdamit einengroßen Teil desLuft-
raums überTokio und angrenzenden Prä-
fekturen.Daslässt denJapanernnurgerin-
ge Möglichkeiten, Flugrouten nachHane-
da nach eigenem Gustofestzulegen.Für
die neuenRouten über derStadtmitteha-
bendieAmerikanererlaubt,dassdieJapa-
nerfürdreiStundenamTagFlugzeugeun-
tereigenerAufsicht in den amerikanisch
kontrolliertenLuftraumhineinlassen dür-
fen. DiesebegrenzteNutzungdes vonih-
nen kontrollierten LuftraumsRichtung
Haneda istein kleinesEntgegenkommen,
um mehr internationale Flügezuermögli-
chen.Striktabgelehnthabendie Amerika-
nernachBerichten japanischer Medien
aber die schon seitlangem bestehende
undvordenOlympischenSpielenerneuer-
te Bitte Japans, den FlughafenYokota im
Westen Tokios auchzivil nutzen zu dür-
fen. Das japanische Außenministerium
spricht zurückhaltendvon„unterschiedli-
chen Sichtweisen“. Die amerikanische
LuftwaffeinJ apan beantwortete Fragen
zu demVorgang nicht.
InjapanischenMedienstößtdas Geha-
beder ehemaligen Besatzungsmacht auf
schar fe Kritik .ImJahr 1964,während
der er sten Olympischen SpieleinTokio,
hatten die Amerikaner sichgroßmütiger
gezeigt. Damalsräumten sie mitfinan-
ziellerUnter stützung Japansdie Militär-
siedlung„Washington Heights“ imZen-
trum der Hauptstadt, damit auf dem
Yoyogi-GeländeSportanlagen gebaut
und Athletenunter gebrachtwerden
konnten.Auch diese Sporthallen,die für
die neuen Spiele renoviert werden, sind
aus den Flugzeugen zu sehen, diekünftig
direkt überTokio den Landeanflugstar-
tenwerden. Obwohl die Olympischen
Spiele inTokio in diesem Sommernun
nicht mehrstattfindenwerden,steht die
erste Hinterlassenschaftsos chon fest.Es
istein lärmendesVermächtnis.

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Frau Vălean ,Sie sind als Verkehrskom-
missarinMitglieddes Corona-Virus-
Notfallteams der EU-Kommission.
Kommen Sieüberhaupt noch dazu,Luft
zu holen?
Sagen wir es so: Ein intensiveres„Team
Building“ istkaum vorstellbar.Wir arbei-
tenineinem Team um PräsidentinUrsula
vonder Le yen, die VizepräsidentenValdis
Dombrovskis und Margrethe Vestager so-
wie eine Handvoll wichtigerKommissare
rundumdieUhrdaran,dieFolgenderKri-
se, so weit möglich, abzufedern. Mal im
Brüssel, malvonden Hauptstädten aus,
malvonzuHause.Wielangegehtdasjetzt
schon? Ichweiß es schongarnicht mehr.

Es wird wohl nochWochendauern.
Eswir dmindestensbis zumEndedesJah-
resdauern. Erst kommt die Gesundheits-
krise, dann dieWirtschaftskrise. Das ist
keine SachevonWochen, sondernvon
Monaten.

Sie haben am Montag „Richtlinien“ für
denWarentransport vorgelegt, nachdem
die im Zuge der Corona-Krise eingeführ-
ten Grenzkontrollen zu Megastaus und
Wartezeiten von 18 Stunden und mehr
geführt haben. Die Kontrollensollen
nun innerhalb von15Minuten erfolgen.
Ist dasrealistisch?
Wirhaben garkeine Wahl, wenn der Bin-
nenmarkt nicht zusammenbrechen soll.
Die Produktion istsoverzahntinder EU,
dassein Bauteil, eine spezielle Schraube,
dienichtankommt,alleslahmlegenkann.
Deshalbkönnen wir auchnicht zwischen
wichtigenundunwichtigenProduktenun-
terscheiden.Zudem gibt es einen Domi-
no-Effekt, wenn einStaat mit derAbferti-
gung nicht hinterherkommt.Das haben
wiramWochenendegesehen,alser st Ser-
bien, dann Kroatien, dann Slowenien und
schließlich Italien die Grenzen schloss
und sichdie Lastwagen immerweiter zu-
rückstauten.

Bisher haben14Staaten des Schengen-
Raums Grenzkontrollen eingeführt.Die

Kommission hat daskritisiert. Haben
Sie die Hoffnung, dass der ein oder ande-
re einlenkt?
Im Gegenteil. Ichdenke, es istnur eine
Frageder Zeit, bis alleStaaten Grenzkon-
trollen einführen, ob wir das nun mögen
oder nicht.Deshalb sind dieRegeln für
den Warenverkehr so wichtig.

Die Staatensollennun „Grüne Spuren“
an wichtigen Grenzübergängen freihal-
ten, um Lastwagenschnellerabfertigen
zu können.
Unddas ni chtnur an einemÜbergang,
sonde rn an so vielen,wie eben nötig
sind, umdie15Minutenzuschaffen. Wir
ermutigendie Staaten auch, dieKontrol-
len gemeinsam zu machen.Esgibtja
wirklichkeinenGrund, alles zweimal,
bei der Ein-und der Ausreise, zukontrol-
lieren.

Die Kontrollensollensich auf Führer-
schein und Ausweis beschränken. Was
ist mit der Gesundheitder Fahrer?
Natürlic hkönnen wir an der Grenzeprü-
fen, ob jemandFieber hat. Wichtig ist
nur,dassder Fahrer dieKabinenicht ver-
lassen muss.Genau das istjaein großes
Problemder Staus: DieFahrersteigen
aus, sprechen miteinander undverbrei-

tendamit im Zweifel dasVirus .Gesund-
heitsbescheinigungenaber können wir
vonden Fahrer nnicht verlangen. Das ist
schli chtnicht praktikabel. Auch beiPa-
pierenund Genehmigungen, dieauslau-
fen, müssenwir flexibel sein.Wiremp-
fehlen,alle einfachdrei M onatezuver-
längern,umunnötigeund zeitaufwendi-
ge Behördengängezuvermeiden.

Biswann,glaubenSie,könnendie Mit-
gliedstaaten die Vorgabender Kommis-
sionumsetzen? Noch gibt es ja Staus.
Wirhoffen, das sdas bis zumWochenen-
de klappt. Wirkönnenniemanden zwin-
gen, andererseits haben dieTransportun-
ternehmen und Staaten uns händerin-
gend gebetenzuhandeln.Also gehe ich
davonaus,dasssiedie Vorgabenauchum-
setzen.

Undwenn es hakt? Dann können Sie
letztlich nicht viel tun, oder?
Wirhaben in den vergangenenTagen
schon auf oberster politischer Ebene in-
terveniert. DamussdannebenKommissi-
onspräsidentinvonder Le yenden einen
oder anderenStaats- undRegierungschef
direktkontaktieren. Das funktionierter-
staunlichgut.

In Südosteuropa und Polen scheintdas
Problembesondersgroß zu sein.
Wirhatten gesternStaus vonvier Stun-
den zwischenRumänienund Bulgarien.
Wirhaben nachwie vorProbleme an vie-
len Übergängen nachPolen. Aber es gibt
auchStaus zwischenFrankreichund Bel-
gien und natürlichander Grenze zur
Schweiz, diekein EU-Mitglied ist, aber
mitten im Binnenmarkt liegt. Ichhoffe,
dassdas –nein das muss–zum Wochen-
ende zurAusnahme wird.

Der Fokus war inden vergangenen Ta-
gen vor allem auf dem Straßenverkehr,
wasist mit dem Luft- oder Schiffsver-
kehr?
Tatsächlichhaben wir eingroßes Pro-
blem,weilmitdemWegfallderPassagier-
flügeauchviele Warennicht ankommen,
die sonstimFrachtraum transportiert
werden. Wirwerden dazu inKürzeVor-
schläg evorlegen,umzumindestdie Abfer-
tigung an den Flughäfen zu beschleuni-
gen.

DieFragenstellteHendrikKafsack.

Adina Vălean FotoAP

Schon baldkein Testbetrieb mehr:Die neue Flugroutedirekt über dasStadtzentrumTokios FotoReuters

„Staus müssen die Ausnahme sein“


Die rumänische EU-VerkehrskommissarinAdina Vălean im Gespräch


niza. FRANKFURT. Das Geschäfts-
klima im Euroraum istwegen der Co-
rona-Krise so schlecht wie nie zuvor.
Dasgehtau sdemBa rometerdesLon-
doner Markit-Instituts hervor, das am
Dienstagveröf fentlicht wurde. Es ba-
siertauf der monatlichen Befragung
von5000 Unternehmen aller Bran-
chen und gilt als einer der wichtigs-
tenIndikatoren für diekonjunkturel-
le Entwicklung.Nach 51,4 Zählern
imVormonatistderIndeximMärzre-
gelrecht abgestürzt auf 31,4 Zähler.
Er hat sichdamit vonder 50-Punkte-
Schwelle verabschiedet, die Wirt-
schaftswachstum signalisiert, und
rangiertdeutlichunter dem bisheri-
genTiefstand vonFebruar 2009; da-
mals warder Markit-Index„nur“ auf
36,2 Punktegefallen.
„Die Eurozone verzeichnete im
Märzeinen beispiellosenKollaps der
Wirtschaftsaktivitäten“, schreiben
die Markit-Ökonomen.Nachdem
sichdasWachstuminden beidenVor-
monaten leicht beschleunigt hatte,
sei die Wirtschaftsleistung infolge
der zunehmendverschärften Maß-
nahmen zur Eindämmung des Coro-
navirusimMärzaufbreiterFrontein-
gebrochen. Besondersharterwischt
hat es dieUnternehmen des Dienst-
leistungssektors. Die überwiegend
konsum-und binnenwirtschaftlich
orientiertenDienstleisterhaben der
Industriemalaise bis zuletztgetrotzt
und einAbgleiten in eine allgemeine
Rezessionverhindert–bis zum Coro-
na-bedingten Stillstand sämtlicher
Wirtschaftszweige.
Für denDienstleistungssektor im
Euroraum hat sichdas Barometer
vonFebruar auf Märznahezu hal-
biertvon 52,6 auf 28,4 Punkte. Der
größtePessimismus hat sich–wenig
überraschend–inBranchen wie der
Reise- undTourismuswirtschaftso-
wie im Gaststättengewerbe breitge-
macht .Auchfür die Industrie ging es
abwärts, wenngleichvon 48,7 auf
39,5Punkte nichtganz so ausgeprägt.
Die Industrieproduktion istlaut Mar-
kit-Institut „ausgesprochenstark“ zu-
rückgegangen, und die Liefersituati-
on habe sich„drastischverschlech-
tert“. Bis auf Mai2000 hättensichdie
durch schnittlichenLieferzeiteninkei-
nem anderen Monat seit Ende der
1990er Jahresostark verlänger twie
jetzt im März.Zudem seien die Preise
für Industrieerzeugnissestark gefal-
len, da dieUnternehmen zur Ankur-
belung derUmsätze und zum Lager-
abbau Preisnachlässe gewährten.
Auch im Dienstleistungssektor seien
Preisnachlässeverbreit et an derTa-
gesordnung.

Im Tiefflug am Olympiastadion vorbei


Stimmung


so schlecht


DieOlympischen Spiele wie nie


im Sommer in Tokio


werden verschoben.


Trotzdem schaffen


sieschon einlautes


Vermächtnis.


VonPatric kWelter ,Tokio


SEITE 18·MITTWOCH,25. MÄRZ2020·NR.72 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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