Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1

W


er hättesichvorstellen
können, dassder Welt-
sporteinmal aufatmen
würde,weilOlympischeSpieleausfal-
len? Die angekündigteVerlegungdes
für Sommergeplanten Großereignis-
sesin Tokiois teinnoc hniedag ewese-
ner Aktvonerheblicher sporthistori-
scher Bedeutung–und sie wirdgra-
vierende Folgen für den globalen
Sporthaben. Aber es gabkeine ande-
re Wahl mehr,und die Entscheidung
der japanischen Regierung zusam-
men mit dem Internationalen Olym-
pischenKomitee (IOC)ist die einzig
richtige, weil sie die einzig mögliche
ist. Die beiden Hauptakteure, Pre-
mierministerShinzoAbeund IOC-
Präsident Thomas Bach, habenlange
genug damitgewartet,bis zum aller-
letzten Moment, darum ging es am
Ende einesqualvoll langsamen Pro-
zesses auchplötzlic hsoschnell. Die
Teilnehmer-nationen hätten Japan
und dem IOC die Entscheidung über
kur zoder lang aus der Handgenom-
men, demnächstwahrscheinlichdie
VereinigtenStaaten, die immer tiefer
in die Corona-Krise sinken. Präsi-
dent DonaldTrump hättesicherlich
gerneals angeblicherPatrio tsein an-
geblichesVerantwortungsgefühl de-
monstriertund den Boykotteines Er-
eignisses ausgerufen, das ohnehin
schon utopischgeworden war. Be-
denkt man, wie abhängig das IOC
vonden VereinigtenStaaten ist,ganz
besondersvom Haussender NBC, der
Milliarden für dieÜbertragungsrech-
te ausgibt, wirdschnell klar,dass
schon dieser Schritt die olympische
Bewegung inTrümmer hättelegen
können.
Am Dienstagbeschlossen dieVer-
antwortlichen für die Spiele der
XXXII. Olympiade,gleichdas kom-
plette Jahr 2020 in das Jahr 2021 zu

verlegen. Näch stes Jahr soll also„To-
kio 2020“ ausgetragenwerden. Und
es gibt sicher eine MengeLeute, die
angesichts derweiterenAusbreitung
der Pandemievoneinem ähnlichen
Schritt träumen. Einfachdieses Jahr
für ungültig erklären und sichdirekt
ins nächste Jahr beamen,wenn hof-
fentlichdas Virusunter Kontrolle
sein wird.Aber auchOlympia, und
mit ihm dieParalympics ,könnensich
jetzt nicht inTiefschlafversetzen las-
sen, bis wieder bessereZeiten kom-
men. Die Arbeit, dievorallen Betei-
ligten liegt, istimmens. Es beginnt
schon bei der Ermittlung des besten
Nach holtermins. DieVerschiebung
nur um ein paarWochen scheidet an-
gesichts derVermehrung der Infekti-
onsfälle aus. Gerüchtebesagen, dass
die Zeit der KirschblüteimMärz/
April in Betrachtgezogenwerd e, um
nicht mit den vielen anderen Sport-
Events, die 2021 wiederstattfinden
sollen, zukollidieren. Oder vielleicht
exakt diegleichen Daten wie für die-
ses Jahrgeplant, 24. Juli bis 9.Au-
gust? Daswäre gegenüber den Sport-
lerndie fairsteLösung, ein neuer
Qualifikationszyklus brächteden in
Schieflagegeratenen Wettbewerb
wieder mehr ins Lot.
Für di eSpitzenathletenendetnun
eineschlimmeZeitder Zerrissenheit.
SiekönnenihreSystemeherunterfah-
renund müssen nicht mehr abwägen,
welche Risiken sie eingehen sollen,
um tr otzder Ausgangsbeschränkun-
genihr Trainingfortzusetzen. Einun-
würdigerZustand in einerZeit, in der
jedermann anderegesellschaftliche
Aufgabenhat,alssichdarauf vorzube-
reiten, derWelt ein ebunteFernseh-
Unterhaltungsshowzubieten. Viele
Athletenhaben sichauf demWegzur
Verschiebung zuWort gemeldetund
bewiesen, dasssie sic hselbstnicht
als abgehobene Elitesehen, sondern
als Menschen wie alle anderen. Sie
können jetzt auf andere,greifbarere
Weise vorleben, wie man das macht:
Unabänderliches annehmen–jede
Chance nutzen–und sofortaufste-
hen, wenn mangefallen is t.

D


ie Olympischen Spiele
und dieParalympics in
Tokio werden –nach ja-
panischer Darstellung
auf Wunsch Japans –
um maximal ein Jahr
verschoben. Dasgrößte
SportereignisdesJahreswirddamitzumOp-
ferder Coronavirus-Pandemie,die schon
Tausende Menschen in China, Italien und
anderswo das Lebengekostet hat.Mehr als
380 000 Menschen haben sichglobal schon
mit dem neuartigen Virusinfiziert. Die
Olympischen und Paralympischen Spiele in
Tokio werden nicht abgesagt, sagteJapans
Ministerpräsident ShinzoAbeamDienstag
nacheinem Telefongesprächmit dem Präsi-
denten des InternationalenOlymp ischen
Komitees (IOC), Thomas Bach. Sie sollten
spätestens bis zum Sommer 2021stattfin-
den. Er habe 100 Prozent Zustimmungvon
Bachfür seineBitteumeine Verschiebung
erhalten, erklärte Abevor Journalisten.
Bachsagte, Abesei mit demVorschlag des
IOC „hundertprozentig“einverstandenge-
wesen. Einegemeinsame Erklärung (siehe
Kasten) des IOC und des japanischen Orga-
nisationskomitees legt einegemeinschaftli-
cheEntscheidung nahe.
Der 65 JahrealteMinisterpräsident, der
die Olympischen Spiele inTokio auchals
persönlichen Erfolg ansah,fand umgehend
einen Weg, derVerschiebung einen positi-
venAnstric hzugeben.JapanwolledieSpie-
le im Sommer 2021 als ein Symbol des Er-
folgs der Menschheit über das Coronavirus
abhalten, sagteAbe. Japan dürftedie Spie-
le auc hwie bisherals SpieledesWiederauf-
baus und der Erholung desvondem Tsuna-
mi2011 schwergetrof fenenNord ostens des
Landes zelebrieren. Imkommenden Jahr
jährtsichzum zehnten Mal dieNaturkata-
strophe, dieetwa 20 000 Menschen das Le-
ben kosteteund die imKernkraftwerkFu-
kushima Daiichi zu einer dreifachenKern-
schmelze führte.
Nachder Erklärung sollen die Spiele
nach2020, abernicht später alsim Sommer
2021 abgehaltenwerden. Die Größe der
Olympischen Spiele imkommenden Jahr
sei nochzuentscheiden, sagteder Ge-
schäftsführer des nationalenUmsetzungs-
komitees,ToshiroMuto, am Dienstag. Der
Fackellauf, der an diesem Donnerstag in
der PräfekturFukushima beginne sollte,
wurde abgesagt. Die olympische Flamme
solle bis zumkommenden Jahr aber in Ja-
pan bleiben als „Leuchtfeuer der Hoff-
nung“ indiesen bewegten Zeiten, hießes in
der Erklärung.Auch der Name der Spiele,
Tokio 2020, solle beibehaltenwerden.
DieVerschiebung derOlympischen Spie-
le hattesichinden vergangenenTagenab-
gezeichnet,weil immer mehrAthletenund
Nationale OlympischeKomitees sichaus
Sorge um die GesundheitvonSportlern
und Zuschauerndafür ausgesprochen hat-
ten.ZumerstenMalindermodernenolym-
pischen Geschichtewirddas Sportfestda-
mit verschoben.Absagen hatteesbislang
nur in Kriegsjahrengegeben, zuletzt im
Jahr 1944.
InDeutschlandwieimAuslandwurdedie
EntscheidungauchvonOlympiaathletenbe-
grüßt.„Das is tdas,was wir allegefordert
und erwartet haben.Jetzt wollen wir erst
mal die nächstenWoche nhoffentlichge-
sund überstehen“,sagtedie sechsmalige
Dressur-OlympiasiegerinIsabelle Werth.
„Dannwollen wir erst mal sehen,dasswir
ins normale Leben und ins normale Wett-
kampfgeschehen zurückkehren können.“
Speerwurf-Olympiasieger ThomasRöhler
sprac hmit Blick auf die Mitwirkung der
Sportler unterFührung desVereins „Athle-
tenDeutschland“von einem„freudigen Mo-
ment“: An dieser „Entscheidung haben vie-
le aktiv und am Endeerfolgreich mitge-
wirkt .Eshat sic hgezeigt :Wenn alle an ei-
nem Strang ziehen,Athlete nund nationale
Verbände, dann istman ni chtmachtlos.“
Der olympischeTraum sei damitnicht aus-
geträumt, er wird nur um ein Jahrverscho-
ben. IngoWeiss, de rSprecher der Spitzen-
verbändeimDeutschenOlympischenSport-
bund ,verwies auf diekomplexenRegelun-
gen, di eIOC und Organisationskomitee be-
vorstünden.„Aber wenn es einer schafft,
dann Japan mitRückendeckung desIOC
und der internationalenFachverbände.“
Wann die Spiele imkommenden Jahr
stattfinden sollen,steht nochnicht fest.Die
Organisatoren müssenvorerstVerträg emit
Sponsorenneuaushandeln.Für43Sportan-
lagen, diefür die Spiele errichtetoder reno-
viertwurden, mussnun die Nutzung im
kommenden Jahr neugesicher twerden.
Viel Geld wird auchdie verzöger te Um-
wandlung desAthletendorfesinprivaten
Wohnbesitzkosten.
Japan, dasvondem Coronavirusver-
gleichsweisewenig betroffenist,hattein
den ersten Wochen derPandemie nochge-
hofft,die Spiele wiegeplant am 24. Juli be-
ginnen zu lassen. Dochinden vergangenen
WochenhattendieoffiziellenVerlautbarun-
gengelegentlichschon Zweifel durchschei-
nen lassen.Nach Umfragen hielt die Mehr-
heitderBevölkerungdenTerminschonlan-
ge nicht mehr für haltbar.


Für Abeist die Verschiebung der Spiele
nun Niederlageund Sieg zugleich. Derkon-
servativeMinisterpräsident, der so lange
wie nochniemandvorihm Japanregiert,
steuerte mit dem internationalen Sportfest
auf einen Höhepunkt seiner seit Dezember
2012 dauerndenRegierungszeit zu. Esgab
Spekulationen über eineNeuwahl danach
und gareine bislang nicht zulässigevierte
Amtszeit alsVorsitzender derregierenden
Liberaldemokraten (LDP). Diese politi-
schen Gedankenspiele sindvorerstdahin.
Die Verschiebung um höchstens ein Jahr
biszumkommendenSommergibtAbeaber
dennochdie Möglichkeit, in seinem letzten
Amtsjahr 2021 die Spiele zufeiern.
Abes Wortwahl nac hdem Telefonat mit
Bachzeigte, dassseine größteSorge eine
Absageder Olympischen Spielegewesen
war. In denvergangenenWochen hatteer
die internationale Diplomatie bemüht, um
daszuverhindernundumeineVerschie-
bung sicherzustellen. MitteMärzholteAbe
sichtelefonischdie Unterstützung seines
Duzfreunds DonaldTrump, dassdie Spiele
in Tokio stattfinden sollten.Zu 1000 Pro-
zent stehe er hinter den Spielen inTokio,
soll Trumpgesagt haben. DreiTage später
bei einerVideokonferenz derRegierungs-
chefsder Siebenergruppe (G 7)warb Abe
dafür,die Olympischen Spiele in „voller
Form“, also mitZuschauernund ohne Ein-
schränkung, abzuhalten. Der britischeRe-
gierungschef Boris Johnson soll den Dau-
men gehoben und andereTeilnehmer zu-
stimmend mit demKopf genickt haben.
Abewarsic hdamitsicher,dasseskeineAb-
sagegeben werde. Der Ministerpräsident
warbei der Schlussfeier der Olympischen
Spiele in Rio de Janeiro2016 nochverklei-
detals die beliebteVideospielfigur des
KlempnersMario aufgetreten. Nunhatteer
die Rohregekittet,umt rotz derPandemie
das Sportfestfür Japan zu sichern.
Wirtschaf tlichistdie VerschiebungfürJa-
pan kein Beinbruch. Mit erwartet 600 000
ausländischen Besuchernund mehr als
11 000 Sportlernhättedas SportfestJapan
einen Konsumschubgebracht .DochÖkono-
men verschiedener Investmentbanken in
Tokio hatten dieFolgen eineAbsageder
Spiele für diesen Sommer in denvergange-
nen Wochen schon mit einemWachstums-
verlust von0,1 bis 0,2 Prozentpunkten be-
rechnet. Dasis trelativwenig füreineVolks-
wirtschaft, die nacheinem Wachstumsein-
bruc hnachder Erhöhung derKonsumsteu-
er im vergangenen Herbstund alsFolgeder
Coronavirus-Pandemie auf einRezessions-
jahr zusteuert. Die Verschiebung der Olym-
pischen Spielekönntedie Regierung dazu
bewegen, das für das im April beginnenden
Fiskaljahrgeplantegroße Konjunkturpaket
vonbis zu 30 BillionenYen(rund 250 Milli-
arden Euro) nochetwas größer anzulegen.

Das einzig


Mögliche


VonEvi Simeoni

Feuer der


Hoffnung


„Der Präsident des Internationalen Olympischen
Komitees (IOC), Thomas Bach, und der japanische
Premierminister, ShinzoAbe, haben am Morgen
eineTelefonkonferenzabgehalten,umdiesichstän-
dig ändernde Situation in Bezug auf Covid-19 und
die Olympischen Spiele inTokio 2020 zu diskutie-
ren. Auc hYoshiroMori,PräsidentdeslokalenOrga-
nisationskomiteesTokio 2020, Sportministerin Sei-
ko Hashimoto,dieBür germeist erinvonTokio,Yuri-
ko Koike, derVorsitzendeder IOC-Koordinations-
kommission, John Coates, der IOC-Generaldirek-
torChris tophe DeKepper und der IOC-Geschäfts-
führer der Olympischen Spiele, Christophe Dubi,
nahmenteil.
PräsidentBachund PremierministerAbedrück-
tenihregemeinsame Besorgnis über dieweltweite
Covid-19-Pandemie aus undwelche weitreichen-

denAuswir kungen dieseauf dastägliche Leben
der Menschen unddamit auch aufdie Vorberei-
tungderAthletenaufdieSpieleweltweithat.Inei-
nemsehrharmonischen undkonstruktiven Ge-
spräc hlobtendiebeidendieArbeitdes lokalen Or-
ganisationskomiteesTokio 2020und er wähnten
den großartigenFortschritt, denJapanimKampf
gegenCovid-19 erzielt hat.Die beispiellose und
nicht vorhersehbare Ausbreitungdes Virushat zu
einer Verschlechterung der LageimRestder Welt
geführt. Gesternsagte Tedros AdhanomGhe-
breyesus, Generaldirektor derWeltgesundheitsor-
ganisation (WHO), dassdie Covid-19-Pandemie
sichstarkausbreite. Es gibtmehr als 375000 be-
kannteFälle weltwei tund in fastjedem Land, und
die Zahl steigtstündlich. Aufgrund der aktuellen
Umstände und basierend auf den Informationen,

die dieWHO heutebereitgestellt hat, sindder
IOC-Präsident undder japanische Premierminis-
terzuder Einsichtgekommen, dass die Spieleder
XXXII. OlympiadeinTokio auf ein Datumnach
Ende des Jahres 2020, spätestensauf Sommer
2021,verlegtwerden müssen, um die Gesundheit
derAthleten und alleranderen, die mit den Olym-
pischen Spielen zutun haben,sowie der internatio-
nalen Gemeinschaftzuschützen. Die beiden An-
führer sindsicheinig,dassdie Olympischen Spie-
le ein Signal der Hoffnungandie Welt in diesen
schwierigenZeitenseinkönnen unddassdie olym-
pische Flammedas Licht am Endedes Tunnels
werden könne, in dem sichdie Welt geradebefin-
det. Daher einigteman sic hdarauf, dassdie olym-
pische Flamme in Japan bleibt.Daherwurde ver-
einbart, dassdie Spiele dieNamen Olympische
undParalympische Spiele 2020behalten.“

Im letzten Moment einigen sichdas IOC und Japan auf eine


Verschiebung der Spiele ins Jahr 2021. Die Entscheidung


stößt auchinDeutschland aufgroßen Zuspruc hbei Athleten.


DerTraum sei nicht zu Ende.


VonPatric kWelter ,Tokio


Die Erklärung


zur Verlegung


vonTokio 2020


im Wortlaut


Das Ende fürTokio 2020–bis zum nächstenAnlauf
im kommenden Jahr.BewegendeTage auchfür
YoshiroMori(linksoben), Chef des OKvonTokio,
und Ministerpräsident ShinzoAbe.
FotosAFP,AP, dpa

VieleAthletenhaben
sichzuWortgemeldet
und bewiesen, dasssie
sichselbstnicht als
abgehobene Elitesehen,
sondernals Menschen
wie alle anderen.

SEITE 28·MITTWOCH,25. MÄRZ 2020·NR.72 Sport FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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