Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1

Szene 1: Die Zusammenkunft


Diese Geschichte beginnt an dem Tag, an
dem sich die Oberammergauer zum vor-
erst letzten Mal rasieren dürfen. Und sie
hört auf an dem Tag, an dem es ihnen wie-
der erlaubt wäre. Dazwischen liegen 378 Ta-
ge. Mehr als ein Jahr der Vorbereitung auf
ein Ereignis, wie es nur alle zehn
Jahre vorkommt. Doch am Ende
steht nicht der geplante Ausnah-
mezustand im Ort, sondern der
Ausnahmezustand der ganzen
Welt, auf den niemand vorberei-
tet sein konnte. Nicht einmal die
Oberammergauer.
Es ist der 6. März 2019. Der
Barterlass tritt traditionell am
Aschermittwoch des Jahres vor
der Passion in Kraft. So bleibt
den mitspielenden Männern
Zeit, bis zur lang erwarteten Pre-
miere im Mai 2020 einen ernst
zu nehmenden Bart zu kultivie-
ren. Einen, wie ihn vielleicht Je-
sus und seine Jünger trugen.
Auch die Frauen lassen die Haa-
re wachsen. An den Frisuren
wird man künftig erkennen, wer
dabei ist bei der Passion, dieser
weltberühmten Aufführung der
letzten sechs Tage Jesu, die alle
zehn Jahre ein oberbayerisches Dorf zu
einer gigantischen Theaterfamilie ver-
schmelzen lässt. Und alles wegen eines fast
400 Jahre alten Gelübdes.
Als die Pest einst in Europa wütete,
wandten sich die Oberammergauer in ih-
rer Verzweiflung an den lieben Gott und
versprachen ihm ein Passionsspiel, wenn
er sie nur von der Seuche erlöse. Der Legen-
de nach starb nach dem Gelöbnis kein einzi-
ger Bewohner mehr am Schwarzen Tod. So
spielen sie seit 1634 die Passion, mittlerwei-
le in einem eigens dafür gebauten Theater,
im entschleunigten Rhythmus von zehn
Jahren. Mitmachen dürfen nur Leute, die

im Ort geboren sind oder seit mehr als
zwanzig Jahren dort leben. Die Jesus-Dar-
steller sind Oberammergauer, der Bühnen-
bildner auch, die Schneiderinnen, der
Chor, das Orchester, die Kartenabreißer.
Spielleiter Christian Stückl, 58, ist so ober-
ammergauerisch, wie es nur geht, er ist
hier in einem Gasthof aufgewachsen, wo er
als Kind den Großen lauschte,
wie sie über die Passion disku-
tierten. Der gelernte Schnitzer
ist heute Regisseur und Inten-
dant des Münchner Volksthea-
ters. Als Spielleiter muss er je-
den, der mitmachen will, auch
unterbringen, so will es das
„Spielrecht“. Von den rund
5500 Einwohnern sind knapp
2500 bei der Passion dabei, die
meisten auf und viele hinter der
Bühne. Wer weggezogen war,
kehrt für die Passion zurück.
Wer dort wohnt, baut sein Le-
ben um die Passion herum. Un-
vorstellbar, das Ereignis zu ver-
passen. Unvorstellbar, dass es
mal nicht stattfinden könnte.
Diese Geschichte beginnt an
dem Ort, an dem sie auch enden
wird: vor dem Passionstheater.
Glatt Rasierte und frisch Frisier-
te versammeln sich dort, man-
che waren extra noch ein letztes Mal beim
Haareschneiden, unschuldige Gesichter in
einer unschuldigen Zeit. Stückl sagt, er
möge die Bart-Tradition, weil sie lustig sei,
man habe immer was zu reden.
In den folgenden Monaten werden sich
echte Schnurrbärte über Oberlippen kräu-
seln, Haar wird unter Wollmützen zu Knäu-
eln verfilzen, sich zu abenteuerlichen Fri-
suren kringeln oder müde herabhängen.
Viele Oberammergauer werden sich ange-
wöhnen, mit den Händen durch den Bart
zu pflügen. Manche Männer müssen fest-
stellen, dass sie gar keinen Bart kriegen.
Manche Frauen, dass Haare in einem Jahr

gar nicht so wahnsinnig lang wachsen. Und
wer gar keine Lust hat auf einen Bart, spielt
halt einen Römer, die dürfen sich rasieren.
Das Haarewachsenlassen ist mehr als das
Kultivieren biblischer Frisuren. Jeder Zen-
timeter markiert ein Stück gemeinsam zu-
rückgelegten Weges. Zehn Jahre fast ha-
ben sie darauf gewartet. 2010 ist lang her.
Zur Erinnerung: Damals war Thomas Mül-
ler bei der Fußball-WM bester Nachwuchs-
spieler, und Lena Meyer-Landrut gewann
den Eurovision Song Contest. Gut, Ehren-
gast der Passion war auch damals schon
die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und
Cengiz Görür war zehn Jahre alt.
Der Schüler Görür trägt an diesem sonni-
gen Tag, beim Barterlass, noch Undercut,
bei jeder Gelegenheit wuschelt er sich
durchs Haupthaar. Er spielt den Judas.
Davon hat er wie alle anderen im Oktober
2018 erfahren, bei der Spielerwahl, als
man seinen Namen in Schönschrift an eine
Tafel malte. Alle 21 Hauptrollen der Passi-
on sind doppelt besetzt. Wer welche Rolle
spielt, entscheidet der Spielleiter. Wer die
Premiere spielt, entscheidet das Los, da-
nach wechseln sich die Darsteller ab.
Görürs Eltern kommen aus der Türkei,
seinem Vater gehört das Hotel „Ammergau-
er Hof“, er selbst ist Oberammergauer und
wurde für einen der begehrtesten Parts der
Passion ausgewählt. „Es ist die erste Haupt-
rolle, die je ein Muslim in der Passion
spielt. Wahnsinn, dass Christian mir das zu-
traut!“, sagt Cengiz Görür. Ein Muslim als
Jesus-Verräter. Manche auswärtigen Beob-
achter finden das sehr modern, andere ein
wenig fies.
Oberammergau liegt jenseits der Auto-
bahn, ins Dorf fährt man über eine steile
Serpentinenstraße, an deren Ende man
schon den Kofel sieht, den Hausberg. Ein
Gipfel wie eine sich trotzig reckende Nase.
Der Ort ist neben der Passion auch für
seine Lüftlmalereien bekannt und für sei-
ne Schnitzschule. Groß ist die Dichte an
Schnitzshops, die das ganze Jahr lang eine

weihnachtliche Atmosphäre verströmen
mit ihren Krippenszenen und Heiligenfigu-
ren im Schaufenster. Busse mit asiatischen
Touristen stoppen hier oft auf ihrem Weg
von oder nach Schloss Linderhof, andere
kommen gern zum Wandern in den Am-
mergauer Alpen, im Winter zum Skifah-
ren. 2019 zählte der Ort 370000 Übernach-
tungen. Das Dorf lebt von den
Leuten, die kommen. Man könn-
te auch sagen: Es lebt von Sozial-
kontakten.
Zwischen Mai und Oktober
2020 werden für die 42. Passi-
onsspiele in Oberammergau
eine halbe Million Zuschauer er-
wartet, die Hälfte aus dem Aus-
land. Reisegruppen aus den
USA und Australien sind ange-
meldet. Bei 109 Vorstellungen,
jede unterteilt in elf Szenen, auf-
geführt bis Oktober, wollen sie
auf den rund 4500 Plätzen im
Passionstheater sitzen. Sie wol-
len einen, der so tut, als sei er Je-
sus, am Kreuz hängen, sterben
und wiederauferstehen sehen.
Unter den Fans sind auch über-
aus religiöse. Wie die sich die
teuflische Ironie erklären, dass
dieses Theaterspiel, mit dem
die Erlösung von einer anste-
ckenden Krankheit gefeiert wird, in diesen
Tagen ausgerechnet einer ansteckenden
Krankheit zum Opfer fällt?

Szene 2: Der Ursprung


Judas verriet den Sohn Gottes im Garten
Gethsemane am Ölberg in Jerusalem mit ei-
nem Kuss an die Römer. Heute umarmen
dort ein paar religiös Bewegte die wehr-
losen Olivenbäumchen. In deren Schatten
rastet eine Gruppe Oberammergauer. Es
ist September 2019, der fünfte Tag einer
Reise durch Israel. Von Covid-19 haben da
noch nicht einmal die Chinesen gehört.

Die Hauptrollen sind in Israel dabei, Bür-
germeister, Theologen und allen voran
Stückl, der auch bei größter Hitze immer
das Gleiche trägt: blaues Hemd zu Jeans
und Haferlschuhen, keine Sonnenbrille.
Der Spielleiter treibt seine Leute durch
Ausgrabungsstätten, Wüstentäler, Kir-
chen. Besuch von Yad Vashem, Gespräch
mit einem Holocaust-Überle-
benden. Überall diskutieren sie,
besser gesagt, diskutiert Stückl,
rauchend. Darüber, wie Jesus ge-
wirkt haben muss. Was seine
Wunder eigentlich sein sollen.
Was an ihm radikal war. „Nach-
her ratsch mer noch ein bisserl“,
sagt er zuverlässig am Ende des
täglichen Zwölf-Stunden-Pro-
gramms. In dieser Woche ist es
nicht Jesus, dem gefolgt wird.
Görür sieht so müde aus, wie
damals die Jünger ausgesehen
haben müssen, die mit Jesus im
Garten Gethsemane wachen
sollten. Eigentlich ist er hibbe-
lig, einer, der andere zum La-
chen bringt. Zum Beispiel, als er
sich zur Taufe ins brackige Was-
ser des Jordan stürzt. „Ehrlich
gesagt kenne ich diese Geschich-
ten kaum“, sagt er. Stückl geht
es bei seinen Spielern nicht um
Bibelfestigkeit, sondern um Talent. Und er
müsse sich auch vorstellen können, „mit
denen auf ein Bier zu gehen“, sagt er.
Im Passionstheater, früher ein sakro-
sankter Ort, der nur alle zehn Jahre betre-
ten werden durfte, macht Stückl auch
zwischen den Passionen Sommertheater.
Shakespeare, Schiller, Opern. Ein, zwei Jah-
re vor der Passion beginnt schon das Ge-
munkel: Der spielt doch gut den Wilhelm
Tell, wär der was für den Jesus? Passions-
frei hat Oberammergau eigentlich nie.
Stückl sowieso nicht.

 Fortsetzung nächste Seite

Von den
5500
Bewohnern
des Ortes
sind 2500
bei der
Passion
dabei

Spielleiter
Christian
Stückl
treibt
seine Leute
voran,
besessen,
rauchend

DEFGH Nr. 68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 11


BUCH ZWEI


Hängepartie


Alle zehn Jahre führen die Einwohner von Oberammergau ein Passionsspiel auf.


Einst dankten sie damit dem lieben Gott für die Erlösung von der Pest.


Jetzt bricht eine neue Seuche über das Dorf herein. Ein Drama in elf Szenen


text: christiane lutz, fotos: sebastian beck


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Alles abgesagt


Fast vollbracht: Bei der Kreuzprobe von Jesus (Frederik Mayet) stimmt noch nicht alles. Er muss etwas weiter unten befestigt werden, damit es schmerzvoller aussieht.
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