Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
von lea deuber

Peking– Anfangs hätten ihre Freunde sie
immer wieder gefragt. Aber mit ihnen
Computer zu spielen oder auch selbst nur
einen Film zu schauen, das habe Sun Ying
zu Beginn einfach nicht geschafft. Mehr
als zwei Monate sitzt die 22-Jährige jetzt
schon in der Wohnung mit ihren Eltern in
Wuhan fest. Über Nacht hat die Regierung
ohne Vorwarnung die Stadt abgeriegelt.
Die meiste Zeit habe sie seitdem am Han-
dy verbracht. „Vor allem am Anfang habe
ich permanent die Nachrichten gecheckt“,
sagt sie, voller Angst vor der nächsten
schlimmen Nachricht. Zuhause sei die
Stimmung bedrückend gewesen. Ihre El-
tern sind beide um die 50. In ihrem Be-
kanntenkreis gab es erst Erkrankte und
dann immer mehr Tote. Doch tun konnten
sie nichts, nur warten.


Mehr als 760 Millionen Menschen wa-
ren in den vergangenen zwei Monaten von
den strengen Quarantänevorschriften in
China betroffen. Noch immer verbringen
viele Menschen die meiste Zeit zu Hause.
Nirgendwo sonst wurde bisher so rigoros
durchgegriffen wie in dem Milliarden-
land, wo das Virus im Dezember ausgebro-
chen ist. Das Zuhause bleiben ist vielerorts
in eine totale Ausgangssperre ausgeweitet
worden. Teilweise wurden die Menschen
in ihren Wohnungen eingesperrt oder so-
gar eingemauert. Als Epizentrum des Aus-
bruchs ist China das Land, das neben den
wirtschaftlichen Folgen auch die gesell-
schaftlichen Nebenwirkungen dieser Mas-
senquarantäne als Erstes spürt. Betroffen
sind nicht nur die Menschen, die in ihren
Wohnungen ausharren müssen, sondern
auch das medizinische Personal, das in
den Krankenhäusern an der Frontlinie der
Epidemie arbeitet, sowie die Erkrankten


und Verdachtsfälle, die auf Quarantänesta-
tionen versorgt werden. Die psychosozia-
len Folgen sind dramatisch.
Eine aktuelle Untersuchung von Anru-
fern einer Notfallhotline in Sun Yings Hei-
matstadt Wuhan zeigt, womit die Men-
schen kämpfen. Fast die Hälfte berichtet
von Angstzuständen, jeder Fünfte leidet
unter Schlafproblemen, Angst und Unru-
he; weitere 15 Prozent haben Panikatta-
cken und sprechen von einem Engegefühl
in der Brust. Anfangs sei die Lage völlig au-
ßer Kontrolle geraten, sagt die Psycholo-
gin Luo Liping, die seit dem Ausbruch bei
einer solchen Hotline arbeitet.
Normalerweise kümmert sie sich in ei-
nem Gemeindezentrum um Menschen
mit mentalen Erkrankungen. Nun spricht
sie täglich mit Menschen, die seit dem Aus-
bruch unter Angststörungen und Panikat-
tacken leiden. Viele riefen direkt aus den
Krankenhäusern an. Andere sind körper-
lich gesund. Doch selbst die kleinste Erkäl-
tung verängstige die Menschen nun, sagt
Luo.
Vier Stufen hat die Hotline, die für Anru-
fer kostenlos ist. Jeder Anrufer bekommt
mindestens 15 Minuten. „Häufig informie-
ren wir über den Verlauf der Epidemie, wie
die Menschen sich schützen können oder
hören den Menschen einfach zu.“ Außer-
dem raten sie ihnen, wie sie auf sich selbst
acht geben können; Musik hören, sich et-
was gönnen und Nachrichten lesen, die
Mut machen. Wenn ein Anrufer psycholo-
gische Vorerkrankungen hat, bietet sie ein
einstündiges Telefonat an. Ein paar Tage
später ruft sie oder einer ihrer Kollegen
dann wieder an und erkundigen sich, wie
es den Menschen geht. Die nächsten zwei
Stufen richten sich an Menschen, die suizi-
dale Gedanken haben oder schwere psychi-
sche Erkrankungen. Hunderte kümmern
sich jeden Tag um die Anrufer, sie arbeiten
von zu Hause, teilweise ehrenamtlich und
rund um die Uhr.
Chinas nationale Gesundheitsbehörde
veröffentlichte bereits Ende Januar einen
Leitfaden für die psychologische Betreu-
ung der Menschen während der Krise. Un-
mittelbar nach der Abriegelung wurden
Psychologen in die besonders betroffenen
Regionen entsandt. Mehrere Provinzen
richteten eigene Hotlines an, im Netz gibt
es kostenlose Onlinekurse zum Thema psy-
chologische Gesundheit und Selbsthilfe.
Frühere Epidemien zeigen, wie massiv die
Folgen eines solchen Ausbruchs sein kön-

nen. Wissenschaftler der Universität To-
ronto haben 2004 Menschen befragt, die
in der Stadt während des Sars-Ausbruchs
2003 unter Quarantäne gestellt worden
waren. 129 Menschen nahmen an der Be-
fragung teil. Ein Drittel zeigten Symptome
einer Posttraumatischen Belastungsstö-
rung, etwas mehr auch Symptome von De-
pressionen. Je länger die Menschen in Qua-
rantäne waren, desto stärker die Krank-
heitszeichen.
Ähnlich ging es Personen, die mit Sars
diagnostiziert worden waren oder erkrank-
te Menschen in ihrem Umfeld hatten. In
Hongkong litten 40 Prozent noch Jahre
nach dem Ausbruch an „aktiven psychi-
schen Erkrankungen“. In einer weiteren

Studie über die Folgen der Epidemie litten
fast 90 Prozent des medizinischen Perso-
nals an psychologischen Folgeerkrankun-
gen.
In China führt der Alltag unter Quaran-
täne zu einem deutlichen Anstieg von
häuslicher Gewalt. Bereits vor der Krise er-
lebte jede dritte verheiratete Frau Gewalt
in ihrer Beziehung. Die Zahl von Opfern
soll nun drei Mal so hoch sein, berichten
Frauenorganisationen. Polizeistationen
sagen, die Notrufe von Frauen hätten sich
verdoppelt. Auch, weil Frauen sich nicht
mehr zu Nachbarn oder Familienmitglie-
dern zurückziehen können. Die Regierung
ruft inzwischen aktiv dazu auf, Übergriffe
zu melden, wenn sie beobachtet werden.

In Wuhan geht das Leben langsam wei-
ter. Sun Ying hat wieder angefangen, von
zuhause aus zu arbeiten. Mit ihren Kolle-
gen hat sie die Arbeit einer Kollegin über-
nommen, die krank geworden ist. Die solle
erst einmal gesundwerden. Ganze Fami-
lien seien ausgelöscht worden, sagt sie.
„Freunde meiner Mutter, mit denen sie ge-
rade noch gelacht und Zeit verbracht hat,
sind nicht mehr da.“ Es sei nicht leicht, wei-
terzumachen.
Bei der Hotline, bei der Luo Liping arbei-
tet, rufen inzwischen nicht mehr so viele
Menschen an, wie noch vor ein paar Wo-
chen. Die Anrufer, die sich melden, teilten
aber alle eine Angst: Dass das Virus zurück-
kommen könnte.

München– Mit seiner Vorgehensweise
im Kampf gegen das Corona-Virus setzt
sich der israelische Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu dem Vorwurf aus,
die Gewaltenteilung auszuhebeln und
den Geheimdiensten weitreichende Be-
fugnisse zur Überwachung der Bevölke-
rung einzuräumen. Die Opposition und
Bürgerrechtsgruppen haben sich an das
Oberste Gericht gewandt, das eine Frist
gesetzt hat: Bis Dienstagmittag müsse die
Knesset einberufen und ein Parlaments-
ausschuss eingerichtet sein, der über die
Massenüberwachung der Bürger ent-
scheidet. Geschieht dies nicht, müsse die-
se Maßnahme, die Netanjahus Regierung
ohne Einbindung des Parlaments be-
schlossen hat, gestoppt werden.
Netanjahu hatte am Donnerstag den In-
landsgeheimdienst Schin Bet damit beauf-
tragt, Mobiltelefone zu kontrollieren und
Bewegungsprofile zu erstellen, um eruie-
ren zu können, wo sich Corona-Infizierte
aufgehalten haben. 400 Menschen wur-
den am ersten Tag der Massenüberwa-
chung in Quarantäne geschickt. Der Ge-
heimdienst nutzt Methoden aus dem Anti-
Terrorkampf – ohne vorherige richterli-
che Genehmigung.
Auch Staatspräsident Reuven Rivlin
zeigt sich besorgt. Er forderte Parlaments-

präsident Juli Edelstein auf, die Knesset
einzuberufen: „Ein nicht funktionsfähi-
ges Parlament schädigt die Möglichkei-
ten des Staates Israel, gut und verantwor-
tungsvoll in einem Notstand zu agieren.
Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kri-
se, so ernst sie auch ist, unser demokrati-
sches System beschädigt.“ Die 120 Abge-
ordneten waren am Montag in Dreier-
Gruppen vereidigt worden. In der Nacht
zuvor hatte Netanjahu die Massenüberwa-
chung per Dekret verordnet.
Am Mittwoch hatte dann Netanjahus
Parteifreund Edelstein die erste Sitzung
der Knesset nach nur wenigen Minuten
beendet und sich auf die wegen Corona
verhängten Maßnahmen, die größere An-
sammlungen verbieten, berufen. Edel-
stein verhinderte damit eine von der Op-
position angekündigte Abstimmung, ihn
als Parlamentspräsidenten zu ersetzen.
Damit konnte auch nicht über die Aus-
schüsse abgestimmt werden, die die Ar-
beit der Regierung kontrollieren sollen.
Oppositionsführer Benny Gantz sprach
von „Aktionen, die Netanjahu und Edel-
stein anführen, um die Demokratie zu zer-
stören“.
Netanjahu beauftragte außerdem den
Auslandgeheimdienst Mossad mit der Be-
schaffung von Tests zur Bestimmung des

Corona-Virus. 100 000 Sets wurden aus
geheim gehaltenen Quellen im Ausland –
angeblich auch aus einem arabischen
Land – nach Israel gebracht. Ein Teil da-
von soll laut Einschätzung von Experten
im Gesundheitsbereich allerdings nicht
verwendbar sein.
Netanjahu führt seit Dezember 2018 ei-
ne Übergangsregierung, die eigentlich kei-
ne weit reichenden Entscheidungen tref-
fen dürfte. Nach drei Wahlen binnen eines
Jahres ist weiter keine stabile Regierung
in Sicht. Netanjahu hat mit seiner Likud-
Partei zwar die Wahl am 2. März gewon-
nen, er erhielt aber weniger Empfehlun-
gen von Abgeordneten als Gantz zur Re-
gierungsbildung. Präsident Rivlin vergab
daraufhin Anfang dieser Woche an Gantz
das Mandat. Gantz hat nun noch fünf Wo-
chen Zeit, eine Koalition zu schmieden.

Netanjahu verweigert Gantz die Einbin-
dung in die weitreichenden Entscheidun-
gen mit der Begründung, er sei mit „Ter-
rorunterstützern“ in Kontakt. Damit
meint Netanjahu Abgeordnete der arabi-
schen Parteien, die die drittstärkste Kraft
im Parlament wurden. Sie werden vor al-
lem von arabischen Israelis gewählt, die
ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen.
Netanjahu verhängte mit seiner Über-
gangsregierung Notstandsverordnun-
gen, die unter anderem zur Folge haben,
dass Justizminister Amir Ohana die Ge-
richte schließen ließ. Damit konnte auch
der Korruptionsprozess gegen Netanja-
hu, der am Dienstag hätte stattfinden sol-
len, nicht beginnen. Zu den Verordnun-
gen gehört auch eine vorerst bis Ende
nächster Woche geltende Ausgangssper-
re, deren Einhaltung die Sicherheitskräf-
te rigoros durchsetzen. Auch die Armee
wird immer stärker eingebunden.
Dass das Parlament am Zusammentre-
ten gehindert wird, ruft auch bei der Be-
völkerung Kritik hervor. Weil Menschen-
ansammlungen verboten sind, organisier-
ten Israelis eine Demonstration mit Au-
tos: Rund hundert Fahrzeuge fuhren am
Donnerstag Richtung Sitz der Knesset in
Jerusalem. Die Polizei versuchte, den Kon-
voi aufzulösen. Einige Demonstranten,
die vor das Parlamentsgebäude mar-
schierten, wurden festgenommen. Der is-
raelische Historiker und Bestsellerautor
Yuval Noah Harari warf Netanjahu auf
Twitter vor, unter dem Vorwand der Coro-
na-Bekämpfung eine Diktatur zu errich-
ten. alexandra föderl-schmid

Rom– Es ist ein bisschen wie nach einer
Naturkatastrophe in einem fernen, armen
Land. Im Norden Italiens kommen nun im
Stundentakt Hilfsequipen aus aller Welt
an. Sie sollen die italienischen Ärzte und
Pfleger entlasten, die seit Wochen durch-
arbeiten, Schichten um Schichten, in ei-
nem Wettlauf gegen das schnelle, aggres-
sive Virus. Oftmals ohnmächtig.
Bereits gelandet sind Dutzende Ärzte
des chinesischen Roten Kreuzes. Sie wer-
den in Bergamo eingesetzt, jener Stadt im
Krisengebiet, die mit ihren tragischen Ge-
schichten und Bildern den Italienern das
Herz zerreißt. Vor den Toren Bergamos
wird eine Seilnetzkonstruktion hochgezo-
gen, ein Großzelt für hunderte Kranken-
betten, es sollte den Mangel an Behand-
lungsplätzen fürs Erste etwas lindern. In
Crema bei Mailand werden unterdessen
mehr als 50 kubanische Helfer erwartet,
die im Kampf gegen Ebola geschult wor-
den sind und jetzt in einem Feldhospital
der Armee gebraucht werden. Im benach-
barten Cremona hat eine evangelische
Hilfsorganisation aus den USA eine Struk-
tur aufgestellt, fast alles in Eigenregie.
Auch in Piacenza ist eine Feldklinik im
Bau. Und auf dem Messegelände in Mai-
land entsteht mit Spendengeld eine Ein-
richtung mit 500 Betten.
Damit es dann in den Ad-hoc-Kranken-
häusern auch genug Personal gibt für
halbintensive und intensive Behandlung
der Infizierten, reisen nun auch Hunderte
Ärzte aus anderen Regionen Italiens in
den Norden. Die Regierung beschloss, Me-
dizinstudenten mit Abschluss vom Staats-
examen zu dispensieren, damit sie sofort
einsetzbar sind. So kommen theoretisch
10 000 neue Ärzte dazu, über Nacht. Weite-
re 20 000 Mediziner und Pfleger werden
gerade in einer großen Welle unter Ar-
beitslosen und Pensionierten rekrutiert.
Dafür hat Rom einige Milliarden Euro aus
dem ersten Hilfspaket auf die Seite gelegt.
Alles dient dazu, die Dämme zu festi-
gen. Besonders groß ist die Sorge um den
Schutzdamm, der Mailand und seine Pro-
vinz bisher einigermaßen bewahrte. In
der wirtschaftlich für das Land so wichti-
gen Metropolregion leben drei Millionen
Menschen. Noch liegen die offiziellen Fall-
zahlen unter jenen der umliegenden Pro-
vinzen, vor allem Bergamo, Brescia, Lodi,
Piacenza. Doch sie stiegen stark – auf



  1. Medien reden von der „Schlacht um
    Mailand“.La Repubblicatitelte am Freitag
    über ihre erste Seite: „Halte durch, Mai-
    land.“ Insgesamt gab es in Italien bis Frei-
    tagabend 627 weitere Todesopfer, in 24
    Stunden.
    Massimo Galli, Oberarzt im Mailänder
    Krankenhaus „Sacco“ und einer der wich-


tigsten Virologen im Land, sagt, in der
Stadt gebe es sehr viel mehr Infizierte als
die offiziellen Statistiken auswiesen. „Ich
sehe auch noch viel zu viele Leute auf der
Straße mit nichtigen Gründen“, sagte er.
Auf dem Weg zur Arbeit sei er etwa einer
Gruppe Arbeiter begegnet, die Fußgänger-
streifen und Mittellinien der Straßen neu
gemalt hätten. „Wäre es nicht vielleicht ge-
scheiter, solche Dinge aufzuschieben?“

Auch in Mailand ist das öffentliche Le-
ben heruntergefahren. Die U-Bahn regis-
trierte einen Rückgang der Passagiere um
90 Prozent. Nur zur Stoßzeit zwischen
sechs und sieben Uhr früh sind die Wagen
besetzt – doch selbst dann um 70 Prozent
weniger als in normalen Zeiten. Mit einem
Trackingsystem für Handys fand die
Stadt heraus, dass sich an Werktagen
40 Prozent der Mailänder draußen aufhal-
ten, mindestens eine Handyantenne ent-
fernt von zu Hause. Zieht man die unge-
fähr 30 Prozent ab, die in Ämtern, Super-
märkten, Apotheken, Banken, Fabriken
und Verteilzentren arbeiten, bleiben zehn
Prozent, die zum Teil ohne triftigen
Grund ihr Haus verlassen. Nicht sehr viel,
doch die Zahl alarmiert die Behörden.
Der Gouverneur der Lombardei, Attilio
Fontana von der Lega, warnt ständig, und
da er nun mit Schutzmaske in die Mikrofo-
ne spricht, ist das eindrücklich. „Wir ris-
kieren, dass wir bald nicht mehr alle Kran-
ken behandeln können.“ Auch die eingeflo-
genen Freunde vom chinesischen Roten
Kreuz hätten darauf hingewiesen, dass
die Mailänder sich nicht gebührend an die
Verordnungen hielten, so werde das
nichts. Fontana fordert jeden Tag noch
härtere Schritte der Regierung in Rom.
Geschlossen werden sollen auch alle un-
nötigen Baustellen, öffentliche Ämter, An-
waltskanzleien, die Tabak- und Parfümlä-
den. Für Lebensmittelläden verlangt er
kürzere Öffnungszeiten, vor allem am Wo-
chenende. Manche Italiener gehen nun
nämlich ständig einkaufen. Und natürlich
wird wieder diskutiert, ob auch Jogging
und Spaziergänge verboten werden müss-
te. Die links regierte Region Emilia Roma-
gna hat bereits ein härteres Regime be-
schlossen. Premier Giuseppe Conte zö-
gert noch, die Bürgerrechte landesweit
weiter einzuschränken. Man fragt sich in
der Regierung, ob die Gefahr dann nicht
wachse, dass Italiener in großer Zahl die
Geduld verlieren und ihre bisherige Diszi-
plin ablegen. oliver meiler

Spanienbaut ein Konferenzzentrum
in Madrid zu einem Militärlazarett um,
das Tausende Patienten aufnehmen soll.
Das Lazarett soll 5500 Betten umfassen,
darunter auch Intensivbetten. Spanien
ist in Europa nach Italien am stärksten
von der Pandemie betroffen. 235 Men-
schen starben dort binnen 24 Stunden an
der Lungenkrankheit COVID-19, so viele
wie noch nie an einem Tag bisher.
Für Diskussionen sorgte inItaliendie
Nachricht, dass die Privatfirma Copan
Diagnostics aus Brescia, einer Stadt im
lombardischen Krisenzentrum, eine hal-
be Million Testkits für die Erkennung des
Coronavirus nach Amerika verkauft hat,
obschon es im eigenen Land an den nöti-
gen Stäbchen mangelt. Die Lieferung wur-
de mit einer Maschine des TypsC-17 Glo-
bemasterder US-Air-Force nach Mem-
phis gebracht, wie das Pentagon bestätig-
te. Gestartet war die Flugzeug auf dem
US-Luftwaffenstützpunkt in Aviano. Die
Firma aus Brescia ließ ausrichten, an der
Operation sei nichts obskur: Die Kits sei-
en für private Kunden bestimmt gewe-
sen, nicht für die amerikanische Regie-
rung. Für den Transport sei nur deshalb
ein Militärflugzeug eingesetzt worden,
weil derzeit keine zivilen Maschinen in
die USA flögen. Außerdem stehe der Kauf
ihrer Ware allen offen. Das Problem in Ita-
lien seien nicht die Stäbchen, sondern die
mangelhafte Ausrüstung der Labore.
In vielen Ländern in Afrika rücken die
Menschen zusammen, zeigen Solidarität.
Manche aber suchen auch Schuldige. In
Äthiopien,so berichtet die dortige US-
Botschaft, seien Ausländer mit Steinen
beworfen, angespuckt und bedroht wor-
den. Einigen sei die Mitfahrt in öffentli-
chen Verkehrsmitteln untersagt worden.
Die Äthiopier haben Gästen aus dem Aus-
land schon immer „Ferengi“ hintergeru-
fen. Es war eine freundliche Begrüßung.
Jetzt ist es ein Schimpfwort. Premier
Abiy Ahmed rief seine Landsleute dazu
auf, sich friedlich und solidarisch zu ver-
halten. „Die Angst vor dem Virus darf uns
nicht unserer Humanität berauben.“ Der
Virus habe keine Nationalität, er bedrohe
alle Menschen gleichermaßen.

Die Zahl der Fälle in derSchweizund
Liechtenstein ist binnen eines Tages
deutlich gestiegen. Angaben des Bundes-
amtes für Gesundheit vom Freitag zufol-
ge wurden 4840 Personen positiv getes-
tet. Dies entspricht einem Anstieg von
952 Fällen im Vergleich zum Vortag. 43
Menschen seien gestorben.
InSri Lankasollte von Freitagabend
Abend bis Montagmorgen eine landeswei-
te Ausgangssperre verhängt werden. Zu-
dem wurden die Moscheen angewiesen,
zu schließen. Etwa zehn Prozent der 22
Millionen Einwohner sind Muslime. Sri
Lanka zählte bis Freitag 65 bestätigte In-
fektionen.
Am Donnerstag (Ortszeit) wurden
auch Fälle ausEl Salvador,Nicaragua
undHaitigemeldet. Damit ist nun ganz
Lateinamerika ebenso wie der allergröß-
te Teil der Karibik von der Coronakrise be-
troffen. Die Länder reagieren sehr unter-
schiedlich. In Mexiko ist die Zahl der be-
stätigten Fälle in nur 24 Stunden von 46
auf mehr als 150 gestiegen. Das Land
plant seine Nordgrenze zu den USA zu
schließen, ansonsten betonte Staatschef
Andrés Manuel López Obrador am Don-
nerstag, auch weiter keine Ausgangssper-
re verhängen zu wollen. Ganz anders ist
die Lage inArgentinien: Seit Freitag gilt
eine generelle Ausgangssperre, Flugver-
bindungen sind weitestgehend einge-
stellt und die Grenzen zu den Nachbarlän-
dern geschlossen. Ähnliche Regelungen
sind inPeruundEcuadorin Kraft und
auchBrasilienschließt weitestgehend
seine Grenzen und verbietet Europäern
und Bürger aus China, Japan, Südkorea
und Australien die Einreise. Mindestens
sechs Menschen sind in Brasilien an einer
Erkrankung mit dem Virus gestorben, es
gibt mehr als 600 bestätigte Infektionen.
Gemessen an der Einwohnerzahl ist
aberChiledas Land in Lateinamerika,
das die Pandemie am schwersten trifft.
Offiziell haben sich 342 Menschen infi-
ziert, die Regierung von Staatschef Sebas-
tián Piñera reagierte nur zögerlich. Zu-
gleich sagen Kritiker, die Regierung nut-
ze das Virus, die Errungenschaften der
monatelangen sozialen Proteste zunichte
zu machen. Kaum war am Donnerstag
ein Ausnahmezustand in Kraft, began-
nen Putzkolonnen Plätze in der Haupt-
stadt Santiago von regierungskritischen
Graffiti zu säubern. Ein für Ende April ge-
plante Verfassungsreferendum soll auf
Oktober verschoben werden.
bed, cgur, om, sz

Freunde meiner Mutter,
mit denen sie
gerade noch gelacht
und Zeit verbracht hat,
sind nicht mehr da.“

Sun Ying, Bewohnerin Wuhans,
seit zwei Monaten in Quarantäne

Sicherheit,


die krank macht


Erste Untersuchungen in China zeigen,
wie dramatisch die psychosozialen Folgen
einer massenhaften Quarantäne sind

Protest gegen den Premier: Ein Demonstrant fordert vor dem israelischen Parla-
ment, dass demokratische Regeln eingehalten werden müssen.FOTO: EYAL WARSHAVSKY/AP

Mailand muss durchhalten


Italiens Metropolregion ist vom Virus noch halbwegs verschont


Höhere Zahlen,


größere Sorgen


Die Welt im Zeichen von Corona –
von Österreich bis Argentinien

Seit dem Erlass
von Notstandsverordnungen
haben die Gerichte geschlossen

DEFGH Nr. 68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 HF2 POLITIK 9


Gemeinsam einsam: Ein Haus in Wuhan, das als Ausgangspunkt des Corona-Ausbruchs gilt.
Die Behörden haben rigorose Ausgangssperren verhängt, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.FOTO: REUTERS

Bleibt die Disziplin der Bürger
auch, wenn die Maßnahmen
noch strenger werden?

Italienische Soldaten bei der Errichtung
eines Feldlazaretts in Cremona.FOTO: AFP

Geheimdienst soll Infizierte aufspüren


Israels Premier Netanjahu empört mit Vorgehen in der Corona-Krise die Opposition

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