Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
Paris –Frankreich stellt sich auf eine Ver-
längerung der Ausgangssperre ein. Seit
Dienstagmittag dürfen Bürger nur mit ei-
nem Passierschein und nur für wichtige
Einkäufe, nicht verzichtbare Arbeiten und
um Kranken zu helfen ihre Wohnung ver-
lassen. Der Professor für Infektiologie, Gil-
les Pialoux, vom Pariser Tenon Kranken-
haus sagte, dass die Beschränkungen der
Zivilgesellschaft „selbstverständlich“ län-
ger als 14 Tage gelten müssten. Die Frist
von zwei Wochen stelle nur eine erste Pha-
se dar, innerhalb derer „der undisziplinier-
te Teil der Franzosen die Pille schlucken“
müsse, einen wirklichen Effekt hätten die
Maßnahmen aber erst, wenn sie länger an-
gewendet würden.
Präsident Emmanuel Macron hatte zu-
nächst nur eine Ausgangssperre bis Ende
März angeordnet. Nach einem Besuch des
Forschungszentrums Institut Pasteur am
Donnerstag sagte Macron Journalisten,
dass noch „zu viele“ Franzosen die Verhal-
tensmaßregeln „auf die leichte Schulter“
nehmen würden. „Wenn ich sehe, dass die
Menschen weiterhin in die Parks, an den
Strand oder auf den Markt gehen, dann
heißt das, dass sie die Botschaft nicht ver-
standen haben,“ so Macron. Am Donners-
tag wurden alle französischen Strände ent-
lang der Mittelmeerküste gesperrt.
Neben einer Verlängerung der Aus-
gangssperre gehört auch eine Verhängung
des „Notstands für die Gesundheit“ zu
den Maßnahmen, die Regierung und Präsi-
dent ergreifen können. In der Nacht von

Donnerstag auf Freitag wurde im Senat
ein entsprechendes neues Gesetz durch
den Senat gebracht.
Der Gesundheitsnotstand kann für das
gesamte Land oder für einzelne Regionen
ausgerufen werden. Ist er in Kraft getre-
ten, kann der Premierminister per Dekret
zunächst für zwölf Tage die Freizügigkeit
und die Gewerbefreiheit einschränken

und Versammlungsverbote anordnen. Zu-
dem wird dem Staat das Recht einge-
räumt, Güter und Produktionsmittel zu be-
schlagnahmen. Eine Verlängerung muss
vom Parlament beschlossen werden.
Das Gesetz wurde am Freitag in der Na-
tionalversammlung diskutiert. Sie tagt
nur noch in stark reduzierter Form. Dut-
zende Abgeordnete sind mit Corona infi-

ziert, darunter auch der Vorsitzende der
konservativen Republikaner, Christian Ja-
cob. Zu der Sitzung am Freitag schickten
die Fraktionen jeweils nur einen Vertreter.
Die großen Reformprojekte der Regie-
rung sind vertagt. Eigentlich hatten Ma-
cron und sein Premierminister Édouard
Philippe noch vor der Sommerpause eine
Umstellung des Rentensystems durchset-
zen wollen. Die Reform hatte zu einem
knapp zweimonatigen Streik geführt und
stieß bei der Opposition auf massiven Wi-
derstand, sie soll vorerst nicht mehr umge-
setzt oder diskutiert werden.
Zu den vom Coronavirus am stärksten
betroffenen Gebieten gehören die Region
Grand Est, die an der Grenze zu Deutsch-
land, Luxemburg und Belgien liegt, und
die Metropolregion um Paris, dort leben
zwölf Millionen Franzosen. Allein am Don-
nerstag waren in Frankreich 108 Men-
schen gestorben, die sich mit dem Corona-
virus infiziert hatten.
Um die überfüllten Krankenhäuser in
Ostfrankreich zu entlasten, wurde am Frei-
tag mit dem Aufbau eines Feldlazaretts be-
gonnen. In der Nähe von Mulhouse baut
das Militär die Infrastruktur auf, um 30
Betten zur Verfügung zu stellen. Dort kön-
nen Wiederbelebungsmaßnahmen durch-
geführt werden. Bereits am Mittwoch hat-
te die Armee Krankentransporte übernom-
men. Sechs Patienten waren mit Hilfe von
Militärflugzeugen nach Südfrankreich
verlegt worden. Dort sind die Krankenhäu-
ser weniger ausgelastet. nadia pantel

Warschau– Ärzte und Krankenschwes-
tern des Krankenhauses im westpolni-
schen Zielona Góra bekamen in dieser Wo-
che vorzeitigen Frühlingsbesuch: Der örtli-
che Blumengroßhändler brachte 3500 fri-
sche Tulpen vorbei, um Personal und Pati-
enten im Kampf gegen das Coronavirus
moralisch zu unterstützen. Polens Gesund-
heitsdiener könne derlei Aufmunterung
schon ohne Coronakrise gut gebrauchen:
Tausende Ärzte und Krankenschwestern
sind angesichts schlechter Bezahlung und
jahrelanger Unterfinanzierung des Ge-
sundheitswesens nach Deutschland oder
England gegangen. Manche Krankenhäu-
ser mussten schließen, viele Häuser sind
unterbesetzt, überaltert, schlecht ausge-
rüstet.
Der Arzt Wojciech Szendzikowski sagte
der ZeitungGazeta Wyborcza, selbst im
Barlicki-Universitätskrankenhaus von
Łodz gebe es gerade je ein paar Dutzend
Schutzmasken und –kleidung. Vielerorts
fehle Personal, in einem Nachbarhaus sei-
en die jüngsten Ärzte 65 Jahre alt: „Die Epi-
demie trift in Polen auf ein Gesundheits-
system, das in Ruinen liegt.“
Und wie andere Länder reagiert Polen
spät auf die Gefahr. Noch am 4. März sagte
Gesundheitsminister Łukasz Szumowski,
selbst Professor für Herzmedizin: „Ich
würde nicht sagen, dass es (das Coronavi-
rus) so gefährlich ist.“ Sechs Tage später
tagte der Nationale Sicherheitsrat, wur-
den die Schulen geschlossen, dann die
Grenzen und viele Geschäfte. Szumowski


ließ quer durch Polen eilends 19 Kranken-
häuser nur für Corona-Patienten herrich-
ten. Die Realität war dort offenbar teils be-
scheiden.
Bernadeta Krynicka, Abteilungsleite-
rin im Wojewodschafts-Krankenhaus von
Łomza im Nordosten Polens, berichtete
am 16. März: „Das Personal ist ungeschult.
Es gibt keine Schutzkleidung, keine Beat-
mungsgeräte, Pumpen, Sterilisationsgerä-
te in solchen Mengen, wie sie nötig wä-
ren.“ Ihr Fazit: „Wir sind so unvorbereitet,

dass der Kopf schmerzt.“ Krynicka ist
nicht nur Krankenschwester, sondern saß
für die Regierungspartei PiS bis 2019 auch
vier Jahre im polnischen Parlament. Als
Reaktion auf diese ungeschminkte Schil-
derung befahl Parteichef Jarosław
Kaczyński, ihre Parteimitgliedschaft zu
suspendieren.
Minister Szumowski zufolge hat Polen
mittlerweile 10000 Notfallbetten herge-
richtet, mit 1000 Beatmungsmaschinen.
Jedes Krankenhaus soll je 1000 Schutz-
masken und Schutzanzüge erhalten ha-
ben. Offiziell gab es am Freitagnachmittag
erst 378 Infizierte und sechs Tote. Doch
die Zahlen sind widersprüchlich: Tags zu-
vor meldete das Gesundheitsministerium
wegen des Coronavirus bereits 871 Kran-

kenhauspatienten. Rund 28 500Polen
sind wegen nachgewiesenen Kontaktes
mit Infizierten in Quarantäne. Weitere
48000 aus dem Ausland heimgekehrte Po-
len sind in zweiwöchiger Wohnungsqua-
rantäne. Hilfe und Informationen suchen
sie oft vergeblich: Infolinien sind überlas-
tet.
Mediziner fürchten, dass offizielle Zah-
len nur die Spitze des Eisberges zeigen:
Von seinen 38 Millionen Bürgern hat Po-
len bisher nur 13 000 auf das Virus getes-
tet. Universitätsarzt Szendzikowski fürch-
tet, dass getroffene strenge Maßnahmen
„zwei bis drei Wochen“ zu spät kommen.
Hunderte, möglicherweise Tausende aus
dem Ausland heimkehrende Polen dürf-
ten das Virus weitergegeben haben, bevor
Quarantänemaßnahmen in Kraft traten.
So kämpft im westpolnischen Posen
ein gut 60 Jahre alter Gynäkologe um sein
Leben, der am 7. März aus Österreich zu-
rückkam. Bis der Arzt am 12. März krank
wurde, hatte er mit mindestens 141 Men-
schen Kontakt: mit seiner Familie, Be-
kannten, und Dutzenden Kollegen und Pa-
tienten des Gesundheitszentrums, in dem
der Arzt arbeitete. Und in der Kleinstadt
Nowe Miasto nad Pilicą südlich von War-
schau weiß das Krankenhaus kaum noch
weiter, nachdem sich in nur vier Tagen
zwölf Mitarbeiter infizierten und 34 weite-
re Mitarbeiter auf ihre Testergebnisse war-
ten. Warschau schickte fünf Ärzte zur Not-
versorgung, darunter Ex-Senatspräsident
Stanisław Karczewski. florian hassel

München –Die Österreicher waren die ers-
ten: Am 11. März ordnete Wien die Schlie-
ßung der Grenze nach Italien an. Danach
häuften sich die Meldungen über weitere
Grenzschließungen oder verschärfte Kon-
trollen: Ob Ungarn, Tschechen, Spanier –
beinahe im Stundentakt meldeten sich EU-
Mitgliedsländer, aber auch Nichtmitglie-
der und Schengen-Länder wie Norwegen
oder die Schweiz bei der EU-Kommission,
um anzumelden, dass an ihren Grenze wie-
der kontrolliert wird. Auf Druck einiger
Bundesländer führte Deutschland am


  1. März Kontrollen an einem Teil seiner
    Grenzen ein.
    Nun aber ist der Scheitelpunkt dieser
    Meldungen überschritten, glaubt EU-In-
    nenkommissarin Ylva Johansson. Am An-


fang hätten viele Mitgliedstaaten sehr
schnell sehr drastische Maßnahmen ergrif-
fen. „Jetzt, nach ein paar Tagen sehen sie,
dass Grenzschließungen keine Lösung
sind, und dass sie zusammenarbeiten müs-
sen“, sagte Johansson am Freitag bei einer
Telefonkonferenz mit der SZ und anderen
europäischen Zeitungen. Sonst werde der
Güterverkehr zu sehr beeinträchtigt, was
letztlich keinem Mitgliedstaat diene. Jo-
hansson erwartet, dass der grenzüber-
schreitende Verkehr in den kommenden
Tagen „nach und nach wieder flüssiger“
laufen werde.
An der Grenze zwischen Deutschland
und Polen zumindest hat sich die Lage tat-
sächlich etwas verbessert. Die langen
Staus haben sich nach Angaben des polni-

schen Grenzschutzes weitgehend aufge-
löst. An den meisten Übergängen fließe
der Verkehr am Freitagmorgen ohne War-
tezeiten, teilte die Behörde mit. In den ver-
gangenen Tagen hatten sich an den Gren-
zen zeitweise bis zu 50 Kilometer lange
Staus gebildet.

An der deutsch-dänischen Grenze leitet
die dänische Polizei den Verkehr inzwi-
schen zu bestimmten Zeiten um. So soll
morgens und nachmittags der Autover-
kehr von der Autobahn weg und über eine
Bundesstraße Richtung Grenze geleitet
werden, teilte die Polizei Südjütland mit.

Auf der Autobahn würde zu Stoßzeiten
dann nur noch der Lastwagenverkehr
über die Grenze rollen.
An anderen Stellen haben EU-Bürger
aber nach wie vor Schwierigkeiten mit
dem Grenzübertritt. „Es ist absolut not-
wendig, dass EU-Bürger andere Länder
passieren können, um nach Hause zu ge-
langen“, sagte Johansson. Am Freitagnach-
mittag wollte sie das Thema bei einer Vi-
deokonferenz mit den EU-Innenministern
besprechen.
Eigentlich erlaubt der Schengener
Grenzkodex die Wiedereinführung von
Grenzkontrollen nur im Ausnahmefall,
und selbst dann nur für kurze Zeit. Theore-
tisch wäre es also denkbar, dass die EU-
Kommission juristisch gegen überzogene

Grenzkontrollen vorgeht. Das sei im Mo-
ment aber nicht geplant, so Johansson.
„Ich sehe bei allen Mitgliedstaaten den gro-
ßen Willen, die Probleme zu lösen. Derzeit
verbessert sich die Lage fast stündlich.“
Sorgen, die Corona-Krise könne den
Schengen-Raum dauerhaft bedrohen, in
dem Bürger ohne Binnengrenzkontrollen
quer durch Europa reisen können, teilt Jo-
hansson nicht. „Jetzt gerade sind wir in ei-
ner furchtbar schwierigen Situation, aber
ich sehe auch die Bemühungen der Mit-
gliedstaaten, mehr zusammenzuarbeiten.
Ich glaube darum nicht, dass wir all unsere
Werte in dieser Krise aufgeben werden“,
sagt Johansson. Wahrscheinlicher sei so-
gar das Gegenteil. „Ich bin optimistisch.“
karoline meta beisel

Will weitreichende Befugnisse:
Präsident Macron.FOTO: AP

von silke bigalke

Moskau– Wladimir Putin geht längst auf
Abstand. Seit Wochen gilt: Wer in einen
Raum mit ihm will, muss vorher Fieber
messen und einen Virus-Test machen. Bei
einem Auftritt auf der Krim am Mittwoch
saßen Putins Zuhörer weiter weg als sonst.
Normalerweise nutzt der Präsident solche
Termine gerne, um sich volksnah zu zei-
gen, dankbare Wähler zu treffen. Das gera-
de jetzt die Distanz zwischen ihm und dem
Volk sichtbarer wird, kommt denkbar un-
gelegen. Putin bereitet die für ihn wichtigs-
te Abstimmung seit Jahren vor.
Die Bilder passen auch sonst nicht
mehr zu seiner Botschaft: alles unter Kon-
trolle. Der Kreml hat sich bisher bemüht,
das Virus als „externe Bedrohung“ darzu-

stellen und darauf hinzuweisen, dass die
Situation anderswo schlimmer sei. Gren-
zen wurden geschlossen, die Einreise ge-
stoppt. Putin betonte, dass die Regierung
früh genug reagiert habe und ein „massi-
ves Eindringen und Ausbreiten der Infekti-
on in Russland“ eindämmen konnte.
Langsam reagieren die Behörden zwar
auch auf die Gefahr im Land, schließen
Schulen, Museen. Im Vergleich zu anderen
Großstädten hat sich das Leben in der
12-Millionen-Metropole Moskau aber we-
nig verändert, dort wird bisher kein Ab-
stand an der Supermarktkasse oder in der
Metro gehalten. Was fehlt, sind klare Ansa-
gen und das Vertrauen in offizielle Infor-
mationen. Stattdessen gibt es ein Raunen
darüber, wie schlimm es werden könnte.
Es gibt Zweifel, an offiziellen Zahlen, die

unerklärlich niedrig sind, am Gesundheits-
wesen, an den Dementi aus dem Kreml.
Ausgerechnet das Vertrauen der Men-
schen ist das, was Putin oft zitiert, wenn er
seine Politik rechtfertigt. Die kommenden
Wochen hatte er sich wohl anders vorge-
stellt. Das Virus trifft Moskau zu einer Zeit,
in der Putin seine Zukunft und sein Erbe
organisiert, und dabei das Recht nach sei-
nem Gusto umschreibt. Verfassungscoup
nennt das die unabhängige Opposition,
die Reformen sind weitreichend. Sie ent-
halten eine Sonderregel, die es Putin er-
möglicht, die alte und die neue Verfassung
zu brechen, und für eine fünfte und sechs-
te Amtszeit zu bleiben. Die Reform gibt
dem Präsidenten zudem mehr Kontrolle
über Verfassungsgericht, Ministerpräsi-
dent, Kabinett und Regionen.

Putins Coup ist aber noch nicht ganz fer-
tig. Die Infektionskrankheit droht nun,
ihm den Abschluss zu vermasseln. Der Prä-
sident weiß, dass die Sonderregel über sei-
ne Amtszeit auch Risiken birgt, weil im-
mer mehr Menschen ihres Langzeitpräsi-
denten müde werden. Er möchte seinen
Regelbruch durch die Wähler legitimieren
lassen, es soll wenigstens so aussehen: Die
Abstimmung am 22. April wird zum Ver-
trauensvotum. Medienberichten zufolge
will der Kreml eine Beteiligung von min-
destens 60 Prozent erreichen. Putin wird
die Abstimmung nur verschieben, wenn es
gar nicht anders geht.
Bisher aber sollen Millionen zu den Ur-
nen kommen, das ist der Plan trotz Pande-
mie. Dabei sind in Moskau Veranstaltun-
gen mit mehr als 50 Teilnehmern bereits

verboten. Ob eine elektronische Abstim-
mung notfalls möglich wäre, ist fraglich.
In Frankreich, sagte Putin auf der Krim,
wurde schließlich auch noch gewählt. Dort
habe man die Wahlkabinen weiter vonein-
ander weggestellt. „Im Vergleich zu Frank-
reich haben wir nichts!“ Also keine Krise.
Was natürlich nicht ganz stimmt.
Das sehr wohl was los ist, wissen die Rus-
sen längst. Die Kommunistische Partei et-
wa hat die Feier zu Lenins 150. Geburtstag
in den November verschoben. Eigentlich
ist der auch am 22. April, wie die Abstim-
mung. Es gibt Gerüchte, dass die Behör-
den Moskau bei 800 Krankheitsfällen ab-
riegeln, Lockdown, Ausgangssperre. „Lü-
gen“ hat die Pressestelle der Stadt das ge-
nannt. Am Rande Moskaus wird nun eilig
ein neues Infektionskrankenhaus hochge-
zogen, mit 500 Betten. In manchen Bezir-
ken sind die Supermarktregale bereits

leer. Am Donnerstag haben Ärzte und be-
kannte Personen des öffentlichen Lebens
einen Brief ins Internet gestellt. Sie rufen
dazu auf, mehr zu tun, ausländische Tests
zuzulassen, Kranke auch in privaten Kran-
kenhäusern behandeln zu lassen, Mitarbei-
ter ins Homeoffice zu schicken, die Abstim-
mung zur Verfassung zu verschieben.
„Tausende, sogar Zehntausende unserer
Mitbürger können ums Leben kommen“,
steht darin. So deutlich hat das in Russ-
land noch niemand gesagt.
Derweil lässt der Kreml durchblicken,
was womöglich noch auf die Menschen zu-
kommen könnte. Am Dienstag hat Putin
ein Corona-Lagezentrum in Moskau be-
sucht. Von dort wird etwa überwacht, wie
die Menschen in Sozialen Medien über das
Virus diskutieren. Von dort steuern die Be-
hörden auch das neue Gesichtserken-
nungssystem, mit dem sie Personen auf-
greifen, die sich nicht an die Quarantäne
halten: Das Virus als Grund, umstrittene
Überwachungsmethoden zu testen.
Auf einem Moskauer Militärflughafen
hat diese Woche die Armee für den Corona-
Ernstfall geübt, Evakuierung, Desinfizie-
rung, „die Organisation der Quarantäne“.
Gerüchte darüber, dass die Streitkräfte ei-
ne mögliche Ausgangssperre durchsetzen
werden, dementierte das Verteidigungsmi-
nisterium. Gleichzeitig übten in Moskau
weiterhin etwa 10000 Soldaten für den 75.
Siegestag am 9. Mai, berichtet die Zeitung
Nesawissimaja Gaseta. Auch für sie gilt
das Verbot, sich in Moskau unter freiem
Himmel zu versammeln, offenbar nicht.
Ein wenig musste sich Putin dem Virus
schon beugen. Die Nachrichtenagentur
Tass hat die letzten Teile ihrer Interview-
reihe „20 Fragen an Putin“ gestrichen. In
den letzten Interview-Teilen sollte der Prä-
sident über seine Errungenschaften der
vergangen 20 Jahre sprechen, solange ist
er an der Macht. Er wollte wohl nicht, dass
das Interview im „Informationssturm“
über das Virus untergeht.

Es wird wohl länger dauern


Frankreich richtet sich auf den „Gesundheitsnotstand“ ein


Genf– Die Hohe Kommissarin für Men-
schenrechte der Vereinten Nationen,
Michelle Bachelet, hat eine Eskalation
der Gewalt im Südsudan(FOTO: AFP)be-
klagt. Seit Mitte Februar seien Hunderte
Menschen getötet, Frauen und Kinder
sexuell misshandelt und viele Häuser
zerstört worden, sagte Bachelet am Frei-
tag in Genf. Dies habe Tausende in provi-
sorische Flüchtlingscamps getrieben.


Beweise lassen der Menschenrechtskom-
missarin zufolge darauf schließen, dass
politische und traditionelle Anführer
Kämpfe rivalisierender Gemeinschaften
im Bundesstaat Jonglei im Südsudan
schüren. Sie hätten bewaffnete Jugendli-
che mobilisiert und Konflikte um Res-
sourcen ausgenutzt. Der Gewaltanstieg
gehe auf mehr reichweitenstarke Waffen
durch rivalisierende Clans sowie auf ein
Versagen der Sicherheitskräfte zurück.
Bachelet warnte vor Eskalationen in
anderen Landesteilen. kna


Athen/Brüssel– Die Regierung in
Athen bringt weiter Hunderte Migranten
aufs griechische Festland, die dort in
geschlossenen Lagern untergebracht
werden sollen. Das berichtete der Staats-
rundfunk am Freitag. Diese Menschen
hatten nach dem 1. März aus der Türkei
zu den griechischen Inseln übergesetzt
und wurden dort festgehalten. Athen
spricht ihnen das Recht ab, Asyl zu bean-
tragen und will sie in ihre Herkunftslän-
der ausweisen. Athen hatte damit auf
die Ankündigung der Türkei Ende Febru-
ar reagiert, die Grenzen zur EU für Mi-
granten zu öffnen. Vergangene Woche
waren 436 Migranten, die zehn Tage auf
einem Marineschiff vor Lesbos festgehal-
ten worden waren, aufs Festland ge-
bracht und in einem geschlossenen Auf-
fanglager untergebracht worden. Die
migrationspolitische Sprecherin der
Sozialdemokraten im EU-Parlament,
Birgit Sippel, forderte, die Lager auf den
griechischen Inseln zu evakuieren. „Ein
Ausbruch von Covid-19 in einem der
Hotspots hätte katastrophale Auswirkun-
gen auf die Gesundheit Tausender Men-
schen“, sagte Sippel am Freitag in Brüs-
sel. Die EU-Kommission hatte am Don-
nerstag bekanntgegeben, die Neuansied-
lung von Flüchtlingen aus Nicht-EU-
Staaten werde wegen der Corona-Pande-
mie vorerst ausgesetzt. dpa, kna


Kabul– In Afghanistan sind bei einem
Angriff auf einen Stützpunkt lokaler
Sicherheitskräfte mindestens 22 Solda-
ten getötet worden. Der Überfall in der
Provinz Sabul im Süden, einer Taliban-
Hochburg, habe in der Nacht zum Frei-
tag nur Stunden vor Beginn des persi-
schen Neuen Jahres Norus begonnen,
sagte ein Provinzrat. Mehrere Sicher-
heitskräfte wurden vermisst. Unklar ist,
ob sie sich den Angreifern anschlossen
oder sich vor ihnen verstecken. Den
Stützpunkt führten afghanische Polizis-
ten und Soldaten gemeinsam. Der Über-
fall erfolgte einen Tag nach der Ankündi-
gung von Verteidigungsminister Asadul-
lah Chalid, dass die afghanische Armee
ihre rein defensive Haltung im Konflikt
mit den militant-islamistischen Taliban
aufgeben will. dpa


Ein Dutzend Schutzmasken


Polens unterfinanziertes Gesundheitssystem ist für Corona kaum gewappnet


Das Virus bedroht den Coup


Wladimir Putin will sich vom Volk eine Verfassungsänderung absegnen lassen, die ihm weitere
Amtszeiten bescheren soll. Doch Corona wirbelt diesen Plan durcheinander, obwohl der Präsident beschwichtigt

Die Kommissarin findet, die
Lage bessere sich stündlich

8 POLITIK HF2 Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


Für 10 000 Soldaten
in Moskau gilt das
Versammlungsverbot nicht

„So unvorbereitet, dass der Kopf
schmerzt“, sagte eine Schwester.
Und fliegt quasi aus der Partei

Wieder flüssig werden


Die EU sieht die strengen Grenzkontrollen im Schengenraum kritisch. Man dürfe die europäischen Werte nicht aufgeben, findet die Kommission


Mehr Gewalt im Südsudan


Flüchtlinge aufs Festland


Attacke auf Stützpunkt


AUSLAND


Bei Ankunft Test: An Moskaus Flughafen Scheremetjewo werden die Proben der Gelandeten bearbeitet. Für Ausländer sind die Grenzen zu. FOTO: PAVEL GOLOVKIN/AP
Free download pdf