2 * 21./22. MÄRZ 2020
Was?Krass!DasistjetztNähe!
MancheskommtDeborahFeldmanimmernochfremdvor,zehnJahre,nachdemsieausihrerultraorthodoxenjüdischen
Gemeindefloh.RegisseurinMariaSchraderhatausFeldmansLebeneineFernsehseriegemacht.EinGespräch
„Hi, sieh mal an,werhier ist!“ DeborahFeldman und Maria Schrader beim InterviewimBerliner Kino Babylon. BENJAMIN PRITZKULEIT (3)
D
eborah Feldman wartet alleine
amKinoBabylon,wowirverab-
redetsind.MariaSchradersteckt
imZugfestundwillspäterdazu-
kommen.FeldmanistSchriftstellerin.Siehat
inihrenBüchernihren Ausstiegausihrerjü-
disch-ultraorthodoxenGemeinde inWilli-
amsburgund ihr eFlucht nachBerlin be-
schrieben. Schrader hat Feldmans Ge-
schichte jetzt fürNetflix als Serieverfilmt.
WährendwiraufdieRegisseurinwarten,be-
ginnenwirdasGesprächschonmalalleine.
WiegehtesIhnenindiesenunsicherenZeiten,
Deborah?
Es geht so.Ich habe eine Angststörung,
denn ich komme aus einerGemeinde,die
sich unentwegt mit demEnde der Welt be-
schäftigt, inZeiten wie diesenwerden dort
dieTagegezählt.
BisderMessiaskommt?
Oder bis dieWelt untergeht.Haben wir
uns richtig verhalten, kommt derMessias,
wenn nicht, gehen wir unter.Mit diesem
Apokalypse-Denken bin ich aufgewachsen.
Undjetztholtesmichwiederein.Ichbinaus
dieserWelt geflohen,ich willnicht, dassdie
Welt endet undversuche,immer daran zu
denken,wasichhabe,meinenSohn,meine
Arbeit,meineFreundehierinBerlin.
Haben Siemit IhremAusstieg auch Ihren
Glaubenhintersichgelassen?
Ja,normaler weise bin ich nicht mehr
gläubig,aberindiesenZeiten,werweiß.Ge-
rade jetzt kann man gutverstehen, warum
MenschensoanfälligfürdieseDingesind.
Wieistesfür Sie,IhrLebenjetztaufNetflixzu
sehen,alsFernsehserie?
Es ist nicht leicht, die Schmerzenkom-
men manchmal wieder.Esg ibt eine Szene,
woYael,eine Israelin,dieinBerlinlebt,mei-
nem AlterEgovermittelt:„Ichweiß, werdu
bist, woher du kommt, du wirst nie so wie
wir.Duh ast zu vielverpasst in deinem Le-
ben.“ Dasist etwas ,was nur einJude zu ei-
nemanderenJudensagenkann,indieserOf-
fenheit. Dashabe ich zig mal erlebt, als ich
ausgestiegenbin.
Auchin Berlin?
Eher in NewYork. Siehaben mir klarge-
macht,dassichnurinmeineGemeindege-
höreundniewoanderseinenPlatzinderGe-
sellschaftfindenwerde, dassmanimmerer-
kennen wird, woher ich komme.InI srael
sagtmanmirdasbisheute.Vorkur zembin
ich mit einemFreund in eineTelAviver Bar
gegangen, soforthat mich einMann ange-
sprochen,weil er erkannt hat, woher ich
komme.
Woranhaterdaserkannt?
Ander Aussprache,derKörperhaltung.
DerKörperhaltung?
Ichhabe nie einen geraden Rücken ge-
habt.ReligiöseFrauengenerellbewegensich
so,alsmüsstensiesichfürihreAnwesenheit
entschuldigen.Dasgehtnichtweg.Inderjü-
dischenWelt wissen sie genau,werich bin.
Sieriechen das.Das Gute an Berlin ist, hier
falleichnichtauf,weilniemandmeinenHa-
bituserkennt.
Weil die Juden im Nationalsozialismusver-
trieben und ermordet wurden und bis heute
nurwenigehierleben,könnenSiealsAusstei-
gerinjetzthierfreierleben?
Ja,soi stesingewisserWeise.JosephRoth,
derSchriftsteller,derauseinemSchtetlkam,
hatdendeutschenJudendamalsihreVorein-
genommenheit gegenüber den Schtetl-Ju-
denvorg eworfen.Ichglaube,ichwär eheute
auch davon betroffen gewesen, dieBerliner
Juden hätten über mich dieNase gerümpft.
Jetzt gibt es hier inBerlin wieder eine jüdi-
sche Gemeinde,die haben aber keine Ah-
nungvonderWelt,ausderichkomme.
WasistmitdenIsraelis,dieinBerlinleben?
Dassind oft ganz besondereMenschen,
dieeinebesondereSensibilitäthaben,meine
Aussteigerfreundegehörendazu.
WiewarIhr eAnkunfthierinBerlin?
Ichbinfünf JahrenachmeinemAusstieg
hierangekommen,dasistjetztfünfJahreher.
Ichhattenichts,nurein ZimmerzurUnter-
miete,habe aber ziemlich schnell eine
FreundesgruppegefundenineinemCaféin
der Sonnenallee.Alle kamen irgendwo her,
alle hatten eineGeschichte hinter sich.Ty-
pisch Berlin. In Parisoder London ist alles
immerschonfestgelegt.InBerlingibtesviel
Raum, alles ist fließend.Innerhalb vonWo-
chenwarenwireinefesteTruppe.
WiewaresfürIhrenSohn?
Er war acht, als wir hier ankamen und
konntekeinDeutsch.Ichhabeversucht,ihnan
der John-F.-Kennedy-Schule anzumelden,
abersiehabenkeineBewe rbungenmittenim
Schuljahrangenommen.Ichhabemichdann
vordasBür odesDirektorsgesetztundbinje-
denTagwiedergekommen,zweiWochenlang.
Irgendwann kam er aus seinem Büround
sagte:„Fine“.MeinSohnhatsichdannschnel-
lerinderneuenWeltzurechtgefundenalsich.
HabenSiejemalsdarübernachgedacht,nach
Ungarn zu ziehen, dasLand, aus dem Ihre
Großmutterkommt?
Nein. Ungarnist ein sehr schönes Land,
aberichkönntedortnichtleben,weilessich
nichtmitseinerVergangenheitauseinander-
gesetzthat.Dasistdas Tollean Deutschland.
GeradeinmeinerGenerationredenwirsehr
offenüberalles.
(DieTürgehtauf,MariaSchraderkommt,
imMantelundmitRollkoffer.)
DEBORAH FELDMAN:Hi,sieh mal an,wer
hier ist!Ichumarme dich aus derDistanz,
Maria,wegendes Virus.
MARIA SCHRADER:Hallo! Ichbrauche
erst mal einenKaffee.Ich saß gerade vier
StundenimZugfest.
DEBORAHFELDMAN:DuArme.
MARIA SCHRADER:Warumsitzt ihr hier
imKino?
Weil das nächsteIntervie whier nebenan sein
soll.
DEBORAHFELDMAN:DasnächsteInter-
viewfälltaus.WirhätteninmeinerWohnung
sitzenkönnen,Maria.NächstesMalmachen
wiresbeimir.
MARIASCHRADER:Wenneseinnächstes
Malgibt.
DEBORAHFELDMAN:Du weißt,warum
dasnächsteInterviewabgesagtist.
MARIA SCHRADER:Verdacht aufInfek-
tion in derRedaktion. Alles wirdgerade ab-
gesagt. Mein nächstesFilmprojekt imSom-
mer wackelt schon.Keine Vorstellung im
Theater,keinAuftrittbeiderLit.Cologne,für
Freischaffendeistesnichtleichtgerade.
DEBORAH FELDMAN: Wirsind die
Nächsten im Lockdown.Damit müssen wir
alleklarkommen.
MARIA SCHRADER:ShiraHaas,unsere
Hauptdarstellerin, war für ein Screening in
NewYorkundhatteschonAngst,dasssiein
Israelin Quarantänemuss.
DEBORAHFELDMAN:Abersiekannnun
nicht herkommen, keineInterviews geben,
nichts.Sie ist, glaube ich, am meisten ent-
täuscht.
MARIASCHRADER:Sie, ich,wiralle.Wir
wärenjetztzurPremierenachFrankreichge-
fahren, „Unorthodox“ war in denWettbe-
werb von„Series Mania“ eingeladen, dem
größtenSerien-FestivalEuropas,aber so ist
esjetzt,esistvollkommenrichtig,allesabzu-
sagen.
„Unorthodox“istIhreersteNetflix-Serie?
MARIA SCHRADER:Ja,als Regisseurin
auchmeineersteFernseharbeit.
DEBORAH FELDMAN:Wenigstens ist es
kein Kinofilm. DieLeute können zuHause
sitzenunddieSeriegucken.
MARIASCHRADER:Dahastdu recht.Das
Fernsehen, dieStreamer sind dieGewinner
in dieserSituation, um dieKinobranche
mussmansichallerdingsSorgenmachen.Es
wäreschöngewesen,diegemeinsameArbeit
aufeinergroßenLeinwandzusehenundsie
dannindieWeltzuschicken.
DEBORAH FELDMAN:Dasist wie ein
BuchzuschreibenohnePremiere.Alswürde
esnichtexistieren.EsverschwindetimÄther.
Interview:Anja Reich
Zu Anfang hat mein
Mann versucht,
mich zu überzeugen,
zurückzukommen.
Ich sagte: Aber wir
waren nicht glück-
lich. Darauf er:
Wasist schon Glück?
DeborahFeldman
MeineElternwollten,
dass ich mein Glück
in der Arbeit finde
und unabhängig
werde. So gesehen
führe ich ein
linientreues Leben,
im Gegensatz
zu dir ,Deborah.
Maria Schrader