14 |SA./SO.,21./22.MÄRZ2020DInternational ERSTANDARDWOCHENENDE
Wieschon in derFinanzkrise 2008 wirddie EU-Kommission in Brüssel zur zentralen Schaltstelle im politischen
Krisenmanagement mit den Hauptstädten. IhrePräsidentin isttatsächlich rund um die Uhr anwesend.
F
ür Ursula von der Leyen ist der Weg
von ihrer Miniwohnung in Brüssel in
ihr Büro im „Berlaymont“, wie das
Zentralgebäude der EU-Kommission heißt,
nureinpaarSchritte.Undzwarwörtlichge-
nommen. Die Präsidentin hatte sich vor
ihrem Amtsantritt im Dezember im obers-
ten Stock des EU-Zentralgebäudes eine
kleine Garçonnière einrichten lassen.
Sie wollte ihre Arbeit so einfach und
praktisch wie möglich einrichten. Wegen
höchster Sicherheitsvorkehrungen für eine
der mächtigsten Politikerinnen in Europa
hat das einiges gekostet. Vor allem franzö-
sische Medien höhnten über „die Deutsche,
die sich isoliert“. Das sagt niemand mehr.
In Zeiten der wachsenden Megakrise von
Coronavirus und Wirtschaftseinbruch habe
das „einen sehr großen Vorteil“, sagt ein
Mitarbeiter ihres Teams demStandard.
Von der Leyen ist im europäischen Krisen-
management im Moment gleich im doppel-
ten Sinndiezentrale Figur. Die Präsidenten
der beiden anderen wichtigen EU-Institu-
tionen sind zu Hause in Isolation: David
Sassoli vom EU-Parlament, weil er aus dem
Risikogebiet Italien stammt. Aus Sicher-
heitsgründen hat sich auch der Ständige
Ratspräsident Charles Michel selbst iso-
liert, nachdem Brexit-Verhandler Michel
Barnier aus Frankreich positiv auf den Co-
ronavirus getestet worden war und die bei-
den davor physischen Kontakt hatten.
Alle drei Präsidenten, wichtigste Schalt-
stellen im EU-Räderwerk, und viele Tau-
send EU-Beamte zu Hause im Homeoffice
sind aber per Telefon und Videoschaltung
ständig verbunden.Die Kommissionspräsi-
dentin hat nur die im Moment unverzicht-
baren führenden Leute und Mitarbeiter im
Berlaymont unmittelbarzur Verfügung:
„Das Coronateam ist da, Experten für Wirt-
schafts- und Grenzfragen, bei Transport-
und Rechtsdiensten sind da“, sagt ein Spre-
cher. Die Hauptaufgabeder Kommission ist
es im Moment, dafür zu sorgen, dass der
Binnenmarkt in der Union und die Wirt-
schaft in den EU-Staaten nicht zusammen-
brechen, und die nationalen Maßnahmen im
Gesundheitsbereich zu koordinieren.
ManliefertInformationenundVerordnun-
gen, beschließt Milliardenhilfen. Anders als
in der Finanzkrise 2008 gibt es bei den Regie-
rungschefs„keine Grundsatzdebatten“, ob
riesige Rettungsfonds gebraucht werden,
sondern es gehtnur darum,wie schnell und
wo. Beispiele: Freitag gab von der Leyenbe-
kannt, dass strenge EU-Haushaltsregeln zu
Staatsbeihilfen gelockert werden,umdie
Notmaßnahmen in den Hauptstädten „unbe-
grenzt“ zu ermöglichen. Das solle„maxima-
le Beinfreiheit“ zur Rettung von Arbeitsplät-
zen und Unternehmen bringen.
Da viele Kommissare in ihren Herkunfts-
ländern festsitzen, wird das meiste über Vi-
deokonferenzen abgewickelt. Nächste Wo-
che tagt das EU-Parlament, um die beim
EU-Gipfel beschlossenen Maßnahmen in
Gesetze zu bringen, etwa 25 Milliarden
Euro aus bestehenden Töpfen zur Struktur-
förderung. Abgestimmt wird per E-Mail.
Von der Leyen hat von den Regierungs-
chefs den Auftrag, die Schließung der EU-
Außengrenzen umzusetzen. Im Gegenzug
arbeite man daran, wie man in ein paar Wo-
chen die Sperrung der nationalen Binnen-
grenzen wieder öffne, heißt es im Berlay-
mont. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Vonder LeyenwohntimKrisenbüro
ThomasMayerausBrüssel
S
ie hat das Heft des Handelns in der
Hand, sie ist (wieder einmal)
DeutschlandsKrisenkanzlerin.Die-
sen Eindruck will Angela Merkel vermit-
teln. Doch es gelingt ihr nicht mehr so
ganz. Am Freitag wurde sie vom bayeri-
schen Ministerpräsidenten und CSU-
Chef Markus Söder schlicht und einfach
überrollt. Dieser kündigte im Alleingang
Ausgangsbeschränkungen für den Frei-
staat an: nämlich „eins zu eins“ wie in
Österreich. Er habe dies nach einem
Telefonat mit Kanzler Sebastian Kurz
entschieden, erklärte Söder. Eigentlich
wollen die Ministerpräsidenten der 16
Länder erst am Sonntagabend über eine
solche bundesweite Maßnahme beraten.
Viele in Deutschland drängen schon
seit einigen Tagen darauf–aber Merkel
will noch abwarten. Ihr Krisenmanage-
ment folgte bisher diesem Drehbuch: Am
Anfang überließ sie die Bühne Gesund-
heitsminister Jens Spahn (CDU). Als die
Rufe nach ihr lauter wurden, betonte sie
auf einer großen Pressekonferenz–und
dann auch in einer Fernsehansprache –,
wie wichtig das Abstandhalten sei.
Drastische Worte wie Emmanuel Ma-
cron („Krieg“) wählt Merkel nicht, aber
siesprichtsehreindringlichzudenDeut-
schen, sagt etwa: „So retten wir Leben.“
Ob sie sich mit ihrer–imVergleich zu
anderen Ländern–abwartenden Haltung
durchsetzen kann, wird sich aber erst
noch zeigen. (bau)
ANGELA MERKEL
Kanzlerinkämpft um
dieKontrolle
B
oris Johnson wirkt dieser Tage, als
erdrücke ihn die Last des Amtes,
auf das er viele Jahrzehnte lang zäh
hingearbeitet hat. Die Briten haben ihn
für seinen Optimismus und seine Art ge-
wählt, die Dinge auf die leichte Schulter
zu nehmen. Seit der Wahl im Dezember
hielt er sich von den Medien fern und
machte den Eindruck eines Halbtags-
premiers. In der Corona-Krise sind plötz-
lich seriöse Politiker mit Führungsstärke
und Sachkenntnis gefragt. Deshalb um-
gibt sich Johnson demonstrativ mit Wis-
senschaftern und Ärzten–als wollte er
die Verantwortung abschieben oder we-
nigstens mit Berufeneren teilen.
Entscheidungen aber trifft die Regie-
rung. Und eine nach der anderen stellt
sich als falsch heraus. Lang propagierte
der Premier bloß Händewaschen. Men-
schen mit Symptomen wurden zur
Selbstisolierung aufgefordert, aber nicht
getestet, wie es die WHO fordert. Statt
harte Maßnahmen durchzusetzen, spra-
chen Johnsons Berater von ihrer Hoff-
nung auf „Herdenimmunität“. Nach em-
pörten Protesten–eine Studie sagte eine
Viertelmillion Tote voraus–hat Johnson
nun das Ruder herumgeworfen.
Wie anderswo sollen die Briten ihre so-
zialen Kontakte einschränken. Noch im-
mer istvon Verboten oder Ausgangssper-
ren aber keine Rede.Nochimmer wirkt
der Premier,als laufe er der Realität stei-
gender Ansteckungsraten hinterher.(sbo)
BORIS JOHNSON
Der britische Premier
fälltvonHerotoZero
F
ür keinen anderen Regierungschef
Europas kam die Krise überra-
schender als für Giuseppe Conte:
Kaum waren in Italien–vor genau einem
Monat, am 20. Februar–die ersten Infi-
zierten registriert worden, gab es in der
Kleinstadt Vo’ in Venetien auch schon
den ersten Toten Europas. Damals zähl-
te man in Italien gerade einmal 25 Infi-
zierte–heute sind es über 40.000. Die
Zahl der Todesopfer ist von Donnerstag
auf Freitagabend um 627 auf 4032 Per-
sonen angestiegen.
Der Regierungschef reagierte schnell:
Zwei Tage nach dem ersten Todesfall
wurden Vo’ und zehn andere Kleinstäd-
te abgeriegelt; am 8. März erklärte er die
Lombardei und Venetien und zwei Tage
später das gesamte Land zur roten Zone.
Conte musste improvisieren–und er tat
das einzig Richtige: Er verließ sich auf
anerkannte Virologen und schenkte den
Italienern reinen Wein ein. Zu Contes
Taktik gehörte unter anderem, dass Ita-
lien europaweit die meisten Tests durch-
führte–das erlaubte die Anpassung der
Maßnahmen an neue Situationen.
Conte gewann in der Krise eindeutig
an politischer Statur. Der 55-jährige
Rechtsprofessor aus Apulien musste auf
eine Notlage ohnegleichen reagieren.
Und es gelang ihm, trotz explodierender
Fallzahlen den Überblick zu behalten,
die richtigen Worte zu finden und sich
als Krisenmanager zu bewähren. (straub)
GIUSEPPECONTE
EuropasCoronapionier
bewahrtekühlenKopf
F
ür Donald Trump ist das Corona-
virus ein ungewohnter Feind: Be-
schimpfungen schüchtern es nicht
ein, es kleinzureden macht es nicht un-
gefährlicher. Ende Februar bezeichnete
der US-Präsident das Coronavirus als von
den Demokraten in die Welt gesetzte
Falschmeldung, die ihm politisch Scha-
den zufügen solle. Am 9. März noch ver-
glich er die Covid-19-Erkrankung mit der
Grippe. Doch währenddessen mehrte
sich die Zahl der infizierten Amerikaner
ebenso wie die Kritik an der unklaren
Strategie der Regierungzur Bekämpfung
der Pandemie. Trump, der sich im No-
vember der Wiederwahl stellt, sah sich
gezwungen, seine Taktik zu ändern.
Drei Tage später, am 13. März, riefer
den nationalen Notstand aus. Es folgten
Hilfsgelder,Gesetzespakete, die etwa die
Ausweitung des Arbeitslosengeldesso-
wie die Lohnfortzahlung für erkrankte
Angestellte garantieren,und die Auswei-
tung kostenloser Testmöglichkeiten.Die
Corona-Krise bezeichnet Trump nun-
mehrals„Krieg“,sichselbstals„Präsident
in Kriegszeiten“. Als solcher kündigteer
am Donnerstag die Aktivierung des De-
fenseProd uction Act an: Dadurch kann
Trump Unternehmen mit der Produktion
von für die Landesverteidigung wichtigen
Gütern und Dienstleistungen –etwa
Medikamente, Schutzmasken und Be-
atmungsgeräte–beauftragen. (giu)
Fotos: AFP(2),Reuters, AP
DONALDTRUMP
US-Präsidentschaltet
auf Kriegsmodus um
Im Presseraum des Ratsgebäudes in Brüssel: Nach EU-Videogipfeln der Regierungschefs
stehen Ursula von der Leyen und Charles Michel vor leeren Sitzreihen der Journalisten.
Foto: EPA
/Stephanie Lecocq
Ex-EU-Botschafter
ManfredScheichgestorben
Wien–Manfred Scheich, Öster-
reichs erster EU-Botschafter, ist
tot. Wie am Freitag bekannt wur-
de, verstarb er bereits am 6. März
im Alter von 86 Jahren. Scheich
trug als Chefverhandler wesent-
lich zu Österreichs EU-Beitritt
1995 bei. Ex-EU-Kommissar Franz
Fischler bezeichnete ihn als „Heb-
amme“ des EU-Beitritts. (APA)
KURZGEMELDET
Rechtsextremer „Flügel“
in der AfDvordem Ende
Berlin–AfD-Chef Jörg Meuthen
hat die Auflösung des rechtsextre-
men „Flügels“ vorgeschlagen. Die
innerparteiliche Gruppierung, an-
geführt vom Thüringer Parteichef
Björn Höcke und dem Branden-
burger Andreas Kalbitz, steht als
„erwiesen extremistische Bestre-
bung“ unter Beobachtung des Ver-
fassungsschutzes. (red)
Viele Opfer bei Angriff auf
afghanischePolizei
Kabul –Mindestens 24 afghani-
sche Sicherheitskräfte sind bei
einem Anschlag in der südafgha-
nischen Provinz Zabul getötet
worden. Bei dem Angriff auf einen
Stützpunkt der Polizei eröffneten
sechs eingeschleuste Angreifer
dasFeuerauf ihre schlafendenKa-
meraden, meldete der lokale Gou-
verneur am Freitag. (AFP)
LebenslangeHaftfür
AttentätervonUtrecht
Utrecht–Wegen eines islamistisch
motivierten Terroranschlags in
einer Straßenbahn in der nieder-
ländischen Stadt Utrecht ist ein
38-Jähriger am Freitag zu lebens-
langer Haft verurteilt worden. Ein
Gericht befand ihn für schuldig,
im März 2019 aus terroristischen
Motiven vier Menschen „kaltblü-
tig“ ermordet zu haben. (dpa)
Vier Inderwegen
Sexualmords hingerichtet
Delhi–Wegen der Vergewaltigung
und Tötung einer Studentin sind
am Freitag in der indischen
Hauptstadt Delhi vier Männer
hingerichtet worden. Sie hatten
die 23-Jährige 2012 in einem Bus
so brutal missbraucht, dass sie
knapp zwei Wochen danach starb.
Das Verbrechen hatte weltweit für
Entsetzen gesorgt. (dpa)
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