Der Standard - 21.03.2020

(Ron) #1

32 |SA./SO.,21./22.MÄRZ 2020 Kultur DERSTANDARDWOCHENENDE


„Wir schießenuns ins eigene Knie“


Der britischeKünstler undFilmemacherSteveMcQueenim Gespräch über BorisJohnsons
Krisenmanagement, Solidarität in Zeiten der Corona-Pandemie und dieWahrheit, die ausKunstentsteht.

G


rößere Zusammenhänge
nimmt Steve McQueen mit-
unter auch in kompromiss-
losen Nahaufnahmen ins Visier:
Er hält die Kamera auf einen kahl-
rasierten Hinterkopf, umkreist die
Freiheitsstatue auf der Suche nach
Werten, filmt den Alltag von Gru-
benarbeitern. Identität, Gewalt,
Rassismus, Schönheit, Tod sind
wiederkehrende Themen in den
Filmen und Videoinstallationen
des britischen Künstlers. 1999 er-
hielt McQueen den Turner Prize,
seither hat er auch eine höchst
erfolgreiche Zweitkarriere als Fil-
memacher(12 YearsASlave)hin-
gelegt.
McQueen wurde1969 als Sohn
karibischer Einwanderer in Lon-
dongeboren,dorteröffnetedieTate
Modernvor wenigenWochen eine
Schaumit Werken aus den letzten
zwanzig Jahren. Sie ist inzwischen
für das Publikum geschlossen.
Auch die Kunstbiennale Innsbruck
International, die McQueens epi-
sche Auseinandersetzung mit der
politischen Verfolgung des Bürger-
rechtlersPaulRobeson präsentiert
hatte, wurde angesichts der Lage
vorzeitig beendet. Das Virus istdas
Thema dieser Tage, es führe uns
den Zustandder Welt vor Augen,
sagt McQueen im Interview.


Standard: Die britische Regie-
rung reagiert zögerlich und mit
sprunghaften Kurswechseln auf die
Corona-Krise. Haben Sie den Ein-
druck, Boris Johnson ist Herr der
Lage?
McQueen:In Zeiten, in denen wir
Führungskraft bräuchten, haben
wir Boris Johnson. Er tut so, als sei
er Winston Churchill. Aber er ist
weit davon entfernt. Ich kann nur
hoffen, dass er an der Aufgabe
wächst.


Standard:Angesichts von Coro-
na wird derzeit so eindringlich
wie schon lange nicht mehr der ge-
sellschaftliche Zusammenhalt be-
schworen. Braucht die Welt eine
Pandemie, um zur Solidarität zu-
rückzufinden?
McQueen:Das kann ich nicht be-
urteilen, aber Fakt ist, dass uns
Misstrauen an den jetzigen Punkt
geführthat. Das Ganze hat in Chi-
na begonnen, vielleicht hätte die


Ausbreitung verhindert werden
können, wir wissen nicht, welche
Informationen China mit dem Rest
der Welt teilt. Und das zeigt umso
mehr, wie wichtig eine offene Ge-
sellschaftistundwienotwendiges
ist, dass wir uns ür sie einsetzen.
Wenn wir das nicht begreifen,
schießen wir uns ins eigene Knie.

Standard:Ihre Arbeit „End Cre-
dits“ ist dem afroamerikanischen
Sänger, Schauspieler und Bür-
gerrechtsaktivisten Paul Robeson
gewidmet. Es geht darin um staat-
liche Überwachung und politische
Verfolgung während der McCar-
thy-Ära in den USA.

INTERVIEW:Ivona Jelčić

„In Zeiten, in denen wir Führungskraft bräuchten, haben wir Boris Johnson.“ Der britische Künstler
Steve McQueen scannt die Veränderungen in der Gesellschaft.

Foto: Tate Photography Oli Cowling

BücheraufdemGepäckträger


ErstHaushaltswaren, dann dieLektüre: Amazon liefert Bücher derzeit nachrangig aus–das nützt den heimischen Buchhändlern


Michael Wurmitzer

W


enn Johannes Kößler
derzeit mit dem Rad Bü-
cher ausliefert, tut er das
unter strikten Sicherheitsvorkeh-
rungen. Wenn er das Sackerl nicht
in den Postkasten wirft, sondern
dem Kunden vor die Tür stellt,
tritt er zurück, wenn er geläutet
hat. Und obwohl er Handschuhe
trägt, schaut er, dass er Sackerln
nur seitlich und nicht an den Hen-
keln angreift. Bargeld und Karte
sind tabu, gezahlt wird per Rech-
nung. So beschreibt der Buch-
händler von Seeseiten in der Wie-
ner Seestadt seine täglichen Buch-
lieferungen in Zeiten von Corona.
Genaue Zahlen zur Steige-
rungsrate der Onlinebestellungen
hat Kößler keine parat, wie bei
allen Buchhändlern mit Webshop
im Land haben sie aber auch hier
stark zugenommen. Zur Post brin-
ge man Bücher jedenfalls „kisten-
weise“, mehr als 100 Bestellungen
arbeitete man zuletzt täglich ab.
„Und es stehen oft mehr als zwei
Bücher auf einer Rechnung.“

Manchen mag die tägliche
Lektüre ein Grundnahrungsmittel
sein, das beeindruckt die staatli-
chen Pandemiemaßnahmen aber
wenig. Wie alle nicht lebensnot-
wendigen Geschäfte sind die
Buchhandlungen hierzulande seit
Anfang der Woche geschlossen.
Dass die allermeisten Buchhänd-
lerseitJahrennebenbeiWebshops
betreiben, kommt ihnen nun zu-
gute. Damals musste man sich
damit gegen eine andere Plage
wehren: Internethändler Amazon.
Bei Heyn in Klagenfurt schnü-
ren derzeit fünf Angestellte Buch-
notpakete. Normalerweise erwirt-
schaftet der Webshop 20 Prozent
des Umsatzes, diese Woche haben
sich die Onlinebestellungen fast
verdreifacht. Trotzdem fehlen 40
Prozent auf den früheren Gesamt-
umsatz, und niemand kann
beurteilen, ob das nur anfängliche
Hamsterkäufe sind. „Keiner weiß,
wie lange das so geht. Vielleicht
kommt man aber doch mit zwei
blauen Augen davon“, sagt
Geschäftsführer Helmut Zechner.
In die Hände spielt dem lokalen

Bestellgeschäft zudem, dass Ama-
zon in seinen Lagern und seiner
Lieferkette aktuell Kapazitäten für
„Haushaltswaren, Sanitätsartikel
und andere Produkte mit hoher
Nachfrage“ schafft, wie es Mitte
der Woche mitteilte. Amazon re-
agiert so auf die steigende Nach-
frage angesichts geschlossener
Geschäfte. Bücher hingegen lagert
Amazon vorerst keine neuen ein
und liefert vorrätige nur verzögert

aus. Benedikt Föger vom Haupt-
verband des Österreichischen
Buchhandels führt das auch dar-
auf zurück, dass Amazon an Bü-
chern wenig verdient. Ihr Preis sei
gering, Versandkosten hoch.
Dassdie Onlineabsätze lokaler
Buchhändler steigen und online
Auflistungenmit lokalen Web-
shops kursieren,kann Zeich en
eines Bewusstseinswandelssein
oderauch nureine Notlösung. Fö-
ger jedenfallswarnt, die Lage sei
„existenzbedrohend“ für Handel
undVerlage.DennunverkaufteBü-
chergehenausdenLädenansiezu-
rück. Einige Verlage habendaher
bereits Erscheinungstermine ver-
schoben.Manche fürchten auch,
dassnachSchließungenkleinerer
Läden Ketten Standorte überneh-
menund damitihreMarktmacht
ausbauenkönnten, was wiederum
geforderte Preisnachlässefür den
Handelhochtreiben könnte.
Auch den Großen Thalia und
Morawa setzt die Lage derzeit zu.
Ihr üblicher Onlinenateil ist oft
nicht höher als der kleinerer
Händler. Morawa will Kurzarbeit

in Anspruch nehmen. Auch die
WienerBuchhändlerinPetraHart-
lieb will für ihre Mitarbeiter Kurz-
arbeit anmelden. Ohne Unterstüt-
zungszahlungen sei ihr Geschäft
im Notbetrieb noch einige Wo-
chen zahlungsfähig, alles andere
wäre aber nicht zu stemmen.
Hartlieb hatte sich auf Inventur
und Putzen während der Schlie-
ßungeingestellt,dazukommtman
aber nicht. Ein Mitarbeiter ist fürs
Telefon abgestellt und ruft Kun-
den zurück, die den Webshop
nicht bedienen können. „Die freu-
en sich, wenn jemand mit ihnen
plaudert, das leisten wir uns.“ Per-
sönliche Beziehung pflegen auch
Heyn und Seeseiten mit verstärk-
ten Onlineaktivitäten wie Video-
lesungen und Buchtipps.
Nachschubproblemegibteskei-
ne, da die Lager voll sind und die
Buch- an der Zeitungsausliefe-
rung hängt. Ob deutsche Verlage
weiter über die Grenze zustellen,
ist die Frage. „Es wäre entzü-
ckend, wäre so ein Griss um Bü-
cher, dass Deutschland sagt, wir
brauchen die selber“, so Zechner.

DieBuchläden sind zu, hinter den
Kulissen werden Pakete gepackt.
Foto: Imago

McQueen: Es geht um Überwa-
chung, aber nicht nur aus histori-
scher Sicht. Für mich hat diese
Arbeit sehr viel mit der Gegenwart
zu tun, in der unter dem Vorwand
der Sicherheit unsere Grundrech-
te beschnitten, unsere Handys
und Computer ausspioniert wer-
den. Paul Robeson ist nur ein Bei-
spieldafür,wiepolitischmotivier-
te Diskriminierung funktioniert,
wie ein Staat an einem Menschen
ein Exempel statuiert. Ich war un-
gefähr 13 Jahre alt, als unser Nach-
barmireineBroschüregezeigthat,
in der es um Robesons Verbin-
dung mit den walisischen Minen-
arbeitern ging. Er hat in den 1930-

ern einige Jahre in England gelebt
und sich hier mit den Minenarbei-
tern und ihrem Kampf für bessere
Arbeits- und Lohnbedingungen
solidarisiert. Diese Geschichte
hat mich offensichtlich nicht
mehr losgelassen.

Standard:Es gehe in der Kunst
um Wahrheit, sagen Sie. Das ist in
Zeiten von alternativen Fakten ein
umkämpfter Begriff. Welche Art
von Wahrheit kann denn Kunst
bieten?
McQueen:Kunst kann Menschen
helfen, sich Gedanken darüber zu
machen, was für sie selbst die ad-
äquate Wahrheit ist. Es geht also

darum, offen für Möglichkeiten zu
sein, und eben nicht um Ein-
schränkungen. Oder lassen Sie es
mich mit Bruce Nauman sagen:
„Der wahre Künstler hilft der
Welt, indem er mystische Wahr-
heiten enthüllt.“

Standard:Haben Sie selbst ge-
sellschaftlichen Schranken erlebt?
McQueen: Absolut, ja. In einem
Schulsystem, das auf Vorurteilen,
Rassismusund Privilegienden-
ken aufgebaut ist und in dem wir
nach diesen Kriterien separiert
wurden.

Standard:Die Brexit-Kampagne
surfte auf der Nationalismus-Wel-
le. Hat sie Rassismus in der briti-
schen Gesellschaft befeuert?
McQueen:Der Nationalismus rich-
tete sich vor allem gegen Zuwan-
derer. Aber das ist keine Speziali-
tät Großbritanniens, schauen Sie
sich Ihr Land an. Jene, die diesen
Nationalismus schüren, wollen
Sündenböcke, und dazu werden
dann Menschen gemacht, die von
außen hereinkommen oder zu
einer schwächeren Community
gehören.

Standard:Zurück zu Boris John-
son, der auch durch Attacken
gegen die BBC aufgefallen ist, für
die Sie eine Serie über die westin-
dische Community im London der
1960er- bis 1980er-Jahre produ-
ziert haben. Ist die Pressefreiheit in
Großbritannien in Gefahr?
McQueen: Die Pressefreiheit ist
überall in Gefahr, und ich verste-
he nicht, warum die Leute das
nicht sehr viel ernster nehmen.
Denn hier schließt sich ja auch der
Kreis zur Wahrheit, Offenheit und
Transparenz, die wir so dringend
brauchen. Es ist auch wichtig, die-
se Fragen aus globaler, nicht
lokaler Perspektive zu betrachten.
Diesbezüglich hat Okwui Enwe-
zor unglaublich Wertvolles für die
Kunstwelt und für die Art geleis-
tet, wie wir auf die Welt schauen.
Er ist 2019 gestorben, ein riesiger
Verlust.

STEVE MCQUEEN,1969geboren,istein
britischer Künstler, Fotograf und Film-
regisseur. 1999 erhielt er den Turner
Prize, 2014 einen Oscar.

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