Der Standard - 21.03.2020

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DERSTANDARD LeadershipStandard MÄRZ/MARCH2020| 9


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Privatsphäreinder Arbeit? Leider nein.Unternehmenwollen nun auch die Gefühlslagen ihrer Mitarbeiter
überwachen. Bitte also immer lächeln. SonstgibtesKonsequenzen.

den die emotionalen Zustände
von Kindern bereits im Klassen-
zimmer überwacht. Wenn das KI-
System feststellt, dass ein Schüler
abgelenkt oder gelangweilt ist, er-
hält der Lehrer einen Hinweis.
Angestellte in staatlichen Betrie-
ben und Militäreinrichtungen
müssen zudem spezielle Uniform-
hüte tragen, die ihre Hirnaktivitä-
ten und emotionalen Zustände
messen.

D


iemoderneEmotionserken-
nung beruht im Wesent-
lichen auf Erkenntnissen
des US-Psychologen Paul Ekman,
der in den 1970er-Jahren sechs
Grundemotionen identifizierte. Er
ging davon aus, dass Gesichtsaus-
drücke universell, das heißt, un-
abhängig vom kulturellen Hinter-
grund, seien. Diese Behauptung
gilt in der Forschung heute als wi-
derlegt. Ein Lächeln in China oder
Japankannetwasganzanderesbe-
deuten als in Europa. Und das hat
wiederum Konsequenzen für den
Alltag.
Die Berater Mark Purdy, John
Zealley und Omaro Maseli warn-
ten in einem Aufsatz für dieHar-
vard Business Reviewvorden Ri-
siken einer KI-basierten Emo-
tionserkennung: „Stellen Sie sich
einen japanischen Touristen vor,
der ein Geschäft in Berlin besucht
und Hilfe benötigt. Wenn das Ge-
schäft Emotionserkennung ein-
setzt,umKundenbeiderBeratung
zu priorisieren, könnte der Laden-
angestellte dessen Lächeln–ein
ZeichenderHöflichkeitinFernost
–als einen Hinweis interpretie-
ren, dass dieser keine Hilfe
braucht.“
Missverständnisse sind bei der
Emotionserkennungalso vorpro-
grammiert.Ältere Kunden oder
Mitarbeiter könntenzudem dis-
kriminiert werden,weil Gesichts-
züge ab einem bestimmtenAlter
steifer werden und sich schwerer
entschlüsseln lassen.Nicht jede
versteinerte Miene ist Ausdruck
von Langeweile und Ratlosigkeit.
Und genauso, wie ein vermeint-
lich freundliches Lächeln ein ver-
giftetes seinkann, kann ein fins-

W


er glaubt, dass es noch
so etwas wie Privatsphä-
re oder Anonymität am
Arbeitsplatz gibt, ist entweder
naiv oder mit Blindheit geschla-
gen. Unternehmen überwachen
Toilettengänge, Webseitenbesu-
che, E-Mails, Tastatureingaben
und sogar den Herzschlag. Kurio-
sestes Beispiel der Überwachung
ist die Fastfood-Kette Domino’s,
die mit intelligenten Kameras
kontrolliert, ob die Mitarbeiter die
Pizza richtig belegen. Die Unter-
nehmen wollen aber noch einen
Schritt weitergehen. Das Ziel: die
Emotionen ihrer Angestellten
messen.
Die Emotionen eines Mitarbei-
ters sagen viel über die Motivation
und Leistungsfähigkeit aus. Ist er
gut gelaunt und strotzt er vor
Selbstvertrauen? Oder hängen die
Mundwinkel nach unten, weil es
Montagvormittag ist? Amazon hat
ein Patent für ein Voice-basiertes
Armband entwickelt, das mithilfe
einer Stimmerkennungstechnolo-
gieemotionaleZuständewieFreu-
de, Wut, Trauer, Angst, Stress und
Langeweile detektieren kann. Ob
der Onlinehändler das Wearable
bei seinen Kunden oder eigenen
Angestellten einsetzen will, ist
unklar. Doch wenn ein Unterneh-
mer weiß, dass MitarbeiterXge-
langweilt ist, könnte er ihn mit
einer Gehaltserhöhung oder Be-
förderung motivieren –oder
gleich entlassen.


S


chon seit Jahren geben Ma-
nagement-Gurus Angestell-
ten Tippsandie Hand,
wie man Emotionen „managen“,
sprich unterdrücken, könne.Ein
Projektleiter mit Tränen in den
Augen gilt in einernoch immer
von Virilitätdurchdrungenen
Chefetage als schwach und eher
wenig durchsetzungsfähig. Auf
der anderen Seitesind auch Füh-
rungskräfte nur Menschen. Für
die Vorgesetzten ist das ein Vor-
teil, denn selbst das größte Poker-
face sendet biologische Signale
aus, die sich mit immer ausgefeil-
teren Technologien auch messen
lassen.


S


ohat der Elektronikkonzern
Philips bereits 2009 gemein-
sam mit der Bank ABN Amro
ein Armband entwickelt, das die
elektrodermale Aktivität von Bör-
senhändlern messen und so die
Risiken bei Finanztransaktionen
reduzieren soll. Verändern sich
die bioelektrischen Eigenschaften
der Haut, also die Hautleitfähig-
keit oder der Hautwiderstand, in-
diziert dies eine emotionale Reak-
tion –der Trader bekommt dann
eine Warnung.
Börsenhändler, die gierig oder
gestresst sind, sind risikoaffiner –
und treffen eher irrationale Ent-
scheidungen. Ein Investment-
Banker, der wie im Rausch eine
riskante Transaktion nach der an-
deren vollzieht, kann dem Unter-
nehmen viel Geld kosten. Daher
besteht ein Anreiz, die Emotionen
der Mitarbeiter genau zu überprü-
fen –und Exzesse im Keim zu er-
sticken.

D


ie Softwarefirma Affectiva
hat derweil eine Emotions-
erkennung entwickelt, die
anhand biometrischer Gesichts-
daten den Gemütszustand eines
Autofahrers wie zum Beispiel
Wut, Überraschung oder Freude
erkennt. Ist der Fahrer wütend,
kann der Fahrassistent eine Pause
vorschlagen oder Beruhigungs-
musik auflegen. Wütende Auto-
fahrersindrisikofreudigerundda-
mit gefährlicher für den Straßen-
verkehr. Affectiva hat nach eige-
nen Angaben 6,5 Millionen Ge-
sichter in 87 Ländern analysiert.
Lieferdienste könnten mit einer
Emotionserkennung die Unfallge-
fahr reduzieren und besonders ge-
stresste Fahrer aus dem Verkehr
ziehen.AuchdieLeistungvonAn-
gestellten im Dienstleistungsge-
werbe, etwa Rezeptionisten oder
Flugbegleiter, die dauerlächeln
müssen–die US-Soziologin Arlie
Hochschild hat dies einmal als
„Emotionsarbeit“ bezeichnet –,
ließe sich mit solchen Werkzeu-
gen messen.

I


nChina, wo Berührungsängs-
te mit digitalen Kontrolltech-
nologien geringer sind, wer-

terer Blick ein durchaus fokus-
sierter und produktiver sein.
Doch diese Feinheiten im Ge-
sichtsausdruck erkennen Maschi-
nen nicht.
Jenseits dieser methodischen
Probleme stellt sich die Frage, wie
privat Emotionen angesichts
omnipräsenter Screeningtechni-
ken noch sind und ob es nicht
auch ein Recht auf schlechte Lau-
ne am Arbeitsplatz gibt. DieNew
York Timeshat schon vor ein paar
Jahren die „Tyrannei des erzwun-

genen Lächelns“ gegeißelt. Es
scheint, als würde mit den digita-
len Kontrolltechnologien eine
neue Disziplin Einzug in die
Arbeitswelt halten, seine Lach-
muskeln in überwachten Situatio-
nen noch ein wenig mehr anzu-
strengen–man könnte ja schnell
als unzufrieden gelten. Dass die
Gute-Laune-Diktatur die Mit-
arbeiter am Ende des Tages wo-
möglich noch mehr reizt, scheint
in den Modellen aber nicht einge-
preist zu sein.

Jetztwerden die Emotionenüberwacht


Adrian Lobe

MÄRZ/MARCH2 02 0|L3

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