Berliner Zeitung·Nummer 68·Freitag, 20. März 2020–Seite 17
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F e uilleton
„KeinEiapopeiavomHimmel,sondernBlutundTränen.“
RalfSchenküberdasEndedesmehrfachpreisgekröntenpolnischenFilms„CorpusChristi“ Seite 18
DieVerzauberungder Welt
Heutevor250JahrenwurdederDichterderDeutschen,wurdeFriedrichHölderlingeboren
VonArnoWidmann
A
m14. Juni voreinhundert
JahrenstarbMaxWeberan
der SpanischenGrippe.Er
hatte 1917 in seinemVor-
trag„WissenschaftalsBeruf“erklärt:
„Die zunehmendeIntellektualisie-
rung und Rationalisierung bedeutet
also nicht eine zunehmende allge-
meine Kenntnis der Lebensbedin-
gungen, unter denen man steht.
Sondernsiebedeutetetwasanderes:
dasWissendavonoderdenGlauben
daran: dass man,wenn man nur
wollte,esjederzeit erfahren könnte,
dass es also prinzipiell keine ge-
heimnisvollen unberechenbaren
Mächte gebe,die da hineinspielen,
dass man vielmehr alleDinge –im
Prinzip –durch Berechnen beherr-
schenkönne.Dasaberbedeutet:die
EntzauberungderWelt.“
Um 1800hatteesdieseDiagnose
schon einmal zum Status einer
Mode gebracht.DieRomantikver-
stand sich als eineRebellion gegen
die vonder Aufklärung betriebene
Entzauberung.Hölderlinbetriebmit
ihr die „Verzauberung derWelt“.
ManlesenurdieseZeilen:„Sieh!Und
das Schattenbild unsererErde,der
Mond,/ Kommet geheim nun auch;
die Schwärmerische,die Nacht
kommt,/Voll mit Sternen und wohl
wenig bekümmertumu ns,/ Glänzt
dieErstaunendedort,dieFremdlin-
ginunterdenMenschen,/ÜberGe-
birgshöhn traurig und mächtig her-
auf.“ DieVerzauberung gelingt
durch Sprache.Eine wichtigeRolle
spielt dabei auch diePersonalisie-
rung. EinGutteil des Lebenswerks
des Soziologen MaxWeber bestand
darin,loszukommenvonderPerso-
nalisierung.DieTaten nicht zu be-
greifen als die derEinzelnen, son-
dernalsgesellschaftlichesHandeln.
Hölderlin wurde zu einer immer
noch wirkmächtigenStimme,nicht
nurwennesumdieTrauerüberden
UntergangderGötterweltging,son-
dernauchdurchseinVertrauendar-
auf, dass es einen „kommenden
Gott“ geben wird, der wie einBlitz
„aus demGewölke“ kommen wird
überdieWelt.Hölderlinhieltstetsin
der Schwebe,obd er kommende
Gott nur ein andererName war für
dichterischeInspiration oder nicht
vielleichtdocheinwirklicherErlöser
ausder Ur-Teilung. DasOder ist
falsch.BeiHölderlinwarjederSatz
beides: Gedankeund Tat. Erbe-
schwor nicht nur himmlische
Mächte,sondernerwurde,während
erestat,zueiner.UndderLeser
gleichmit.
DasErhabene,dasmanfühlt,hat
mansicheinverleibt.Manistein Teil
vonihm geworden und da man in
derBegeisterungaucheinswirdmit
dem Autor,ist ma nnicht nurGe-
schöpf,sondernauchSchöpferdes-
sen, das doch so ganzweit über ei-
nemstehensoll.Dasistei nSiegund
einbesondersschöner,weilmanihn
nicht hat erkämpfen müssen.Man
sitz tundliest. Gleichzeitigaberkann
mannichtsitzenbleiben,wennman
HölderlinsVerse liest.Manspringt
auf und möchte sie hinausschreien
indie Natur.Sojedenfallsgingesvie-
len Zeitgenossen Hölderlins und so
ergingesAnfangder60er-Jahreauch
mir, alsichdengeduldigenBäumen
des Odenwalds seine inFrankfurt
am Main entstandeneOde„An die
Parzen“vorsang.Sieendetmit„Ein-
mal lebt ich, wie Götter,und mehr
bedarfsnicht“.
Dasspricht zu jederJugend. Die
weiß ja nicht sorecht, wa sinihr
steckt,abersiefelsenfestdavonüber-
zeugtist, dass da irgendetwas sein
muss.Warumsonstrumortessol aut?
Ichsagte den Bäumen damals
auch: „Inseiner Fülle ruhet der
Herbsttag nun,/Geläutertist die
Traub und derHain ist rot/ Vom
Obst, wenn schon der holdenBlü-
ten/ Manche derErde zumDanke
fielen.“ Daswaren Verse,die ich ge-
wissermaßen offenen Mundes
sprach. Sieschienenn acheinemge-
waltig verg rößertenResonanzraum
zu verlangen.Demgab ich nur zu
gerne nach.Aber zugleich:Ichwar
durch Obstwiesen hindurch in den
Waldgegangen.Ichsahnurzudeut-
lich auch dieKomik, die in demPa-
thoslag,wennHölderlinvom„Hain“
und den „holdenBlüten “sprach.
MeineBegeisterunghattevieldamit
zutun,dassichHölderlinsEmphase
liebenundzugleichübersiespotten
konnte.
Zu Hölderlins großemErfolg vor
und während desErsten Weltkriegs
trugnichtunerheblichbei,dasssein
Facelifting auch dasVaterland und
dieDeutschenverschönte:„Oheilig
HerzderVölker,oVaterland“beginnt
sein„GesangdesDeutsc hen“.Inihm
werden die Deutsc hen als wirkliche
Erben des antiken Griechenlands
wenigergeschildertalsvielmehran-
gestoßen, sich endlich so zu sehen
undentsprechendzuhandeln.
Die„Tat“ ist eines der Lieblings-
wörterHölderlins.BerühmtseinGe-
dicht„AndieDeutsc hen“:„Spottetja
nichtdesKinds,wennesmitPeitsch’
undSporn/ AufdemRossevonHolz
muthigundgroßsichdünkt,/Denn,
ihr Deutsc hen, auch ihr seyd/ Tha-
tenarmund gedankenvoll./ Oder
kömt,/ wie derStralaus dem Ge-
wölke kömt,/ AusGedanken die
That?LebendieBücherbald?/Oihr
Lieben, so nimmt mich,/Daßich
büßedieLästerung.“Ineinerspäte-
ren,verlängertenFassungdesGe-
dichtsführterimEinzelnenaus,was
die Deutsc henmöglicherweise in
pettohaben,daseraber,solangees
dortbleibe,nichtsehenkönne.
DieErfahrung,dassetwasinei-
nemsteckt,vondemmankeineAh-
nunghat,machtjeder,deretwastut.
DieBücherzumLebenzubringen,
ist ein Autorentraum. Für die
Menschheitwurdeesimmerwieder
zumAlbtraum.MitdiesemVerdacht
lebteauchHölderlin,derdochso
sehraufdenGedankenunddenGe-
sangsetzte.
HölderlinistohnedieFranzösi-
scheRevolutionnichtzuverstehen.
DerBlitzso wenigwiedieTat,wiedas
PathosunddieRedevom„kommen-
den Gott“. Seine Generation hatte
erlebt,wiescheinbarfürdieEwigkeit
Festgefügtes zusammenbrach, wie
ein Niemand ganzEuropa si ch un-
terwarf. Hölderlins Jugendfreund
HegelerblicktefüreinenkurzenMo-
mentinNapoleonden„Weltgeistzu
Pferde“.Napoleon mag zu keinem
Zeitpunkt Hölderlins „kommender
Gott“ gewesen sein, aber dass er in
Zeitenlebte,indeneninjederKrippe
der neue Gott geboren werden
konnte,daswarzweiJahrzehntelang
seineW elt.Alssiedabeiwarsichzu-
rückzudrehen, brach Hölderlin zu-
sammen und fast jedenKontaktzu
ihrab .Der„verborgeneGott“waren
eineZeitlangdasIchundda sVater-
land, der dichterischeGenius und
derGang derWeltgeschichte gewe-
sen.Nunaberwaralleszurückgefal-
len ins Ancien Régime.Hoffnungen
wurden begraben. Dasschmerzte
noch mehr ,weil man ja wusste,sie
würden weiterleben und irgend-
wann „aus dem Gewölke“ wieder
hervorbrechen.
Wervonde rBegeisterungfürHöl-
derlinspricht,dersolltedieHürden
nicht verschweigen, die man neh-
men muss,umv on se inem Pathos
getragenzuwerden.Auf„Andi ePar-
zen“ läss tsich surfen.JedesWort
kommt dem Leser entgegen, ihn in
immerhöhereHöhenzutragen.Am
Ende schw ingt dasGedichtaus wie
eine Welle,dieabflachtohnezubre-
chen. Aber es gibt andere, in denen
der Gedanke unentwegt unterbro-
chen wird.Siesind vertrackt, man
muss sie entziffern.Zwischen Sub-
jekt undPrädikat tummeln sich so
viele Nebengedanken, Einschübe,
die einen abhaltenvomEnde des
Satzes ,gleichzeitig aber steigernsie
dieLustau fes.
Hölderlin verbirgt denGott,von
dem er erzählt, indiesen Erzählun-
gen, damit dermit derPlötzlichkeit
einer Offenbarungden Leser an-
springe .Das klappt nicht immer.
Manchmal landet derGott wie der
berühmte Tiger als Bettvorleger.
Aber das zu riskieren, dasmacht
auch dieGrößeHö lderlinsaus.
InderElegie„B rotundWein“gibt
es dieberühmteZeile „Sokomm!
Dasswir dasOffeneschauen...“.Es
macht HölderlinsGröße aus ,dass
demein Komma folgt, nach dem es
so weitergeht:„dass einEigenes wir
suchen,soweitesauchist“. Hinaus
zumEigenen. Wirmögenesinuns
tragen. Aber wirerkennen es erst,
wennwirihmdraußenbegegnen,als
etwas Fremdem. Werdas nicht
kennt,derkenntseinEigenesnicht.
LEBEN UND WERK VON FRIEDRICH HÖLDERLIN
Geboren am 20. März 1770
in Lauffen am Neckar.
Er studierte an der Universi-
tät Tübingen und schloss
Freundschaft mit den späte-
ren Philosophen Hegel und
Schelling.
1794 studierteer in Jena,
lernteFichte, Goethe, Schil-
ler und Novalis kennen.
1796 wurde er in Frankfurt
am Main Hauslehrer bei den
Gontards. Susette Gontard
wurde seine Geliebte.
In denJahren1790 bis
1806 entstehen Hymnen,
Oden und Elegien. Daneben
der Roman „Hyperion“.
Am 7. Juni 1843 stirbt der
seit 1806 psychisch er-
krankte Dichter in Tübingen.
Der Dichterkopf in Gips. OKAPIA/KLAUS DITTÉ
NACHRICHTEN
GalleryWeekend im Mai ist
abgesagt und verschoben
DieGründesindzwingend:Ange-
sichtsderaktuellenEntwicklungim
ZusammenhangmitCovid-19hat
dasGalleryWeekendBerlinin Ab-
sprachemitallenteilnehmenden
GaleriendiekompletteVerschie-
bungaufdenangekündigtenArt
Week-Terminvom11.bis13.Sep-
temberbeschlossen.EinigeGalerien
planennun,ihreAusstellungenim
Maisolodurchzuführen,abernur,
sofernesd ieSituationerlaubt.Infor-
mationen unter: gallery-weekend-
berlin.de (BLZ)
DeutscherKulturrat nennt
Zahl der Hilfsbedürftigen
InGesprächenmitBundesarbeits-
ministerHubertus Heil,Bundeswirt-
schaftsministerPeterAltmaierund
KulturstaatsministerinMonikaGrüt-
tersüberrascheFinanzhilfefürSolo-
SelbständigeundkleineUnterneh-
menhatderDeutscheKulturratdie
konkretenBedürfnissedesKulturbe-
reichsbeziffert.WiederKulturratin
einerMitteilungvomDonnerstag
zusammenfasst,sinddemBereich
256000 Unternehmenzuzurechnen.
Danebenrund 600000 Selbständige,
einschließlichderKünstlerinnen
undKünstler,darunterrund 340000
Mini-SelbständigemiteinemUm-
satzunter 17500 Euro/Jahr. (BLZ)
Keine Notlage für
Stipendiaten im Ausland
AuchdieKünstlerinnenundKünst-
lermit AuslandsstipendienderBun-
desregierungsollenbeiAusfällenin
ZusammenhangmitdemCoronavi-
rusvorNotlagengeschütztwerden,
sichertStaatsministerinMonika
Grütterszu.DasgeltefürdieDeut-
scheAkademieVillaMassimound
CasaBaldiin Rom,die VillaRomana
inFlorenz,dasDeutscheStudien-
zentruminVenedigunddieVillaAu-
rorainPacificPalisades. (dpa)
Corona:Frankreich will
Kulturmit 22Millionen helfen
ImKampfgegendieCoronavirus-
PandemiewillFrankreichdieKul-
turbranchemit22MillionenEuro
unterstützen.Dabeisollessichum
eineersteNothilfehandeln,wie
dasMinisteriumamDonnerstag
bestätigte.VondemHilfspaketsol-
lenzehnMillionenindieMusik-
branchefließen,fünfMillionenin
denBereichTheater,TanzundGe-
sang,fünfMillionenindenBuch-
sektorundzweiMillionenindie
Kunst.WeitereMaßnahmensollen
folgen.InFrankreichherrschtseit
DienstagnachmittagAusgangs-
sperre.UmdieKrisezuüberleben,
rufenzahlreicheHashta g-In itiati-
venderKulturszenewie#JeGarde-
MaPlaceund#SauveTonSpectacle
zuSpendenauf. (dpa)
Der Louvre mit seiner Glaspyramide, ein
verlassener Ort. AFP
Mal in Gruppe,
mal allein
U
nserBildvomVirus Sars-CoV-
ist geprägtvonGrafikern, die
die Informationen vonWissen-
schaftlernina llgemeinverständli-
che Formen umsetzen.Unddamit
sindsieallesanderealsneutral,son-
dernknüpfen an kulturelle und äs-
thetischeMusteran,diebereitsvor-
handensind.Dasamw eitestenver-
breitete Abbild vonSars-CoV-
wurde Mitte Februar vomamerika-
nischenCDC,demCenterfor Desea-
ses Control andPrevention, publi-
ziert. DerVirus erscheint als kühl
graue ,porige Kernkugel mit schlan-
kenTentakelnunddreieckigdarüber
schwebendenroten Köpfen. Selt-
sam, aber nicht besonders gefähr-
lich. Diegrafische Nüchternheit ist
Programm:DasCDCbetontinWahl-
kampfzeitenseinewissenschaftliche
Neutralität.
Seit dem 12.Februar gibt es eine
Alternativ-Grafik. Damals gab die
Weltgesundheitsorganisation WHO
den neuen Namen der Lungen-
krankheit Covid-19 bekannt und
stelltedenVirusalshellbraunesKü-
gelchen mit langen und beweglich
erscheinendenTentakelndaraufvor,
deren weich gerundete dreiseitige
Enden an Nagelköpfe erinnern.Vor
allem aber ist er auf diesenDarstel-
lungen nicht mehr alleine,sondern
Teileiner Gruppe.
Undseither erscheint dasVirus
zwar auch mal fantasievoll, etwa in
denin FloridaerscheinendenVillage
News als Hippie mit blaugrün pul-
sierendemKernkörper.Doch meis-
tens ist seine Lebensumwelt nun
blutrotundseinKörperschillertwie
eine riesige Himbeeremit prall ge-
fülltenTentakeln.Undstets ist er in
Gruppen,malmilitärischstraff,mal
guerillaartiglockergeordnet.
BeiunsherrschtnebendemBild
des CDCvorallem dievomRobert-
Koch-Institut etablierteGrafik: Das
Virusimt echnischenQuerschnitt
aufhellblauemGrund,wasvorallem
einesaussagt:Bildersindzueinfach
für dieses Thema,verlasst euch auf
genauereInformationen.Eine Gra-
fik, die die cooleReaktion Merkel-
Deutschlandsvorg eprägthat.
Muster
Nikolaus Bernauüber die
Bildpolitik bei der Darstel-
lung desVirus.
MIt weicher Oberfläche, aber erstmals in
Gruppe: Darstellung der WHO. AFP
Seltsam, aber nicht allzu gefährlich:
Virus-Darstellung des CDC. AFP