Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Coronakrise

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Die Ärzterepublik


ExpertenVirologen und Epidemiologen haben plötzlich viel Einfluss auf politische
Entscheidungen – obwohl sie selbst noch zu wenig über den Gegner wissen.

G


ut möglich, dass die ersten Kinder
bereits davon träumen, eines Tages
Virologe zu werden – jedenfalls
irgendwas mit Seuchen. Kaum ein anderer
Berufsstand wird gerade so hochgeschätzt,
ja bewundert. Denn wer sollte noch einen
Ausweg aus der Corona-Pandemie weisen,
wenn nicht diese Leute in den Labor -
kitteln, die sich mit dem gefährlichen Virus
auskennen?
Zu den bekanntesten Experten zählt
Christian Drosten, 47, Chef der Virologie
an der Berliner Charité. Der Forscher leitet
nicht nur ein Institut von Weltruf, er er-
scheint neuerdings auf vielen Kanälen. Bei
»Maybrit Illner« steht er ebenso Rede und
Antwort wie in der »Tagesschau«. Und er
berät seit Wochen die Bundesregierung.
Nebenher nimmt sich Drosten jeden
Werktag eine halbe Stunde Zeit für einen
Podcast im Internet. Dort gibt er Auskunft
zum Stand der Forschung, und er geht ge-
duldig auf die Fragen ein, die das breite
Publikum umtreiben: Wann ist ein Test
auf Viren sinnvoll? Ist man nach überstan-
dener Infektion immun? Und können wir
überhaupt noch einkaufen gehen?
Drosten bietet eine Art Audioguide
durch die beängstigende Welt des medizi-
nischen Notstands – die sich obendrein be-
ständig ändert. Er ordnet ein und erklärt,
stets ruhig im Ton, und er zerstreut un -
nötige Befürchtungen. Er sagt aber auch:
»Wir haben hier eine Naturkatastrophe,
die in Zeitlupe abläuft.« In den deutschen
Podcast-Charts von Apple steht Drostens
Briefing inzwischen auf dem ersten Platz.
Binnen Wochen wurde der Berliner
Virologe zu einer Zentralfigur der deut-
schen Gesundheitspolitik. Oft sprintet der
Mann auf seinem Fahrrad kreuz und quer
durch die Stadt – hier ein Termin beim
Senat, dort ein Beratungsgespräch im Mi-
nisterium. Als Gesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) vor der Bundespressekon-
ferenz zum Stand der Epidemie vortrug,
saß Drosten neben ihm auf dem Podium.
Zusammen mit seinen Kollegen vom
Fach versucht der Gelehrte, die Entwick-
lung der Epidemie zu verstehen. Die Lage
überschlägt sich dabei so oft, dass der Rat
der Experten mitunter schon binnen Ta-
gen oder Stunden zur offiziellen Politik
wird. So war es, als Spahn erstmals von
Veranstaltungen mit mehr als tausend Teil-
nehmern abriet, so ist es auch jetzt, da vie-
lerorts selbst Kindertagesstätten geschlos-
sen werden. Das öffentliche Leben, oder


was davon gerade noch übrig ist, unterliegt
nun in beträchtlichem Ausmaß dem Urteil
der Epidemiologie.
Experten in der Politik waren es bislang
gewohnt, eine Nebenrolle zu spielen. Oft
genug schrieben sie Gutachten, die dann
in Aktenschränken vergilbten. Die neue
Pandemie aber stellt die alte Ordnung auf
den Kopf. Die Fachleute für Epidemien
erscheinen nun fast wie Mitglieder der
Exekutive. Wer herausfinden will, wie es
weitergeht im Land, hört sich am besten
die regelmäßigen Pressekonferenzen des
Robert Koch-Instituts an.
Bis auf Weiteres gelte nun der »Primat
der Medizin«, verkündete kürzlich der
bayerische Ministerpräsident Markus Sö-
der. Virenabwehr ist jetzt für viele, wie es
scheint, die erste Bürgerpflicht.
Wie soll man es nennen, was da gerade
in der Not entstand? Eine Art Ärzterepu-
blik auf Zeit? Die Idee von der Herrschaft
der Wissenden geistert schon länger durch
die Geschichte: Wäre es nicht besser, wenn
jeweils die Leute entschieden, die am bes-
ten mit der Sache vertraut sind? Aus gutem
Grund blieb die Expertokratie ein bloßes
Gedankenspiel. So simpel ist die Welt
nicht gebaut, dass sich aus tiefer Kenntnis
der Faktenlage automatisch das richtige
Handeln ergäbe.
Im politischen Alltag kommt der Sach-
verstand freilich eher zu kurz – außer in
Notlagen wie dieser. Die bewährten Rou-
tinen funktionieren jetzt nicht mehr: das
langwierige Austarieren widerstreitender
Interessen, das Kleinschroten allzu an-
spruchsvoller Projekte – kommt das in Zei-
ten der Epidemie nicht schon fast einer
fahrlässigen Tötung gleich? Deshalb öffnet
sich gerade ein Zeitfenster für eine andere,
eine wissenschaftsbasierte Politik: Ende
der Machtspiele, es regiert die Evidenz.
Maßgeblich scheinen jetzt die neuesten
Analysen und Modellrechnungen zur Aus-
breitung des Virus zu sein. Und dann wird
getan, was jeweils nötig ist. Glauben die
Experten, es sei an der Zeit, die Schulen
zu schließen, dann sperren eben im ganzen
Land die Schulen zu – noch vor Kurzem
galt es als unhaltbar, dass gelegentlich
Schüler am Freitag schwänzten, um für
mehr Klimaschutz zu demonstrieren.
Das Klima wirft allerdings auch Pro -
bleme ganz anderer Art auf. Nicht zufällig
hatte die Wissenschaft in jener Krise bis-
lang weit weniger zu sagen. Denn was im-
mer die Politik gegen die Erwärmung tut

oder versäumt: Die Folgen verlieren sich
im Ungefähren; Opfer gibt es irgendwann
und irgendwo. Die Coronaviren hingegen
gehen hier und jetzt um; und wer ihnen
die Infektionswege nicht versperrt, darf
sich eine direkte Mitschuld an den Toten
zurechnen lassen.
Weil es um Menschenleben geht, ent-
stand rasch eine Stimmung höchster Dring-
lichkeit. Das ist aber auch gefährlich. Denn
anders als beim Klima, wo die Faktenlage
weitgehend geklärt ist, bleibt beim Kampf
gegen das Virus vieles ungewiss. Hier müs-
sen auch die Experten auf der Grundlage
höchst lückenhafter Kenntnisse urteilen.
Vor einem »Evidenzfiasko« warnt denn
auch der Epidemiologe John Ioannidis von
der amerikanischen Stanford University.
Auf die bislang bekannten Daten zur Aus-
breitung der Epidemie sei kein Verlass,
schrieb er kürzlich. Man wisse viel zu we-
nig über die wahre Zahl der Infizierten –
und damit auch über das Sterberisiko.
Dennoch würden allerorten drastische
Maßnahmen verhängt.
Aber wenn die Gegenwehr nicht gleich
anschlägt? Wie lange könne man eine Ge-
sellschaft stilllegen, fragt sich der Experte,
bis der Schaden größer ist als der Nutzen?
Niemand könne das wissen.
Der Virologe Drosten führt immerhin
beispielhaft vor, wie man durch eine Lage
enormer Ungewissheit navigiert – er zeigt
sich selbstkritisch und stets zu Korrekturen
bereit. Von Schulschließungen etwa hatte
er lange abgeraten. Er befürchtete einen
Notstand in den Kliniken, wenn Teile des
Personals sich gezwungen sähen, zu Hause
bei den Kindern zu bleiben. Inzwischen
sieht Drosten das anders; eine Studie hat
ihn überzeugt, dass diese Maßnahme un-
ter Umständen gut wirken kann.
Ebensolche Kurswechsel werfen Kriti-
ker im Netz ihm gern vor. Sie verweisen
auf den Kollegen Alexander Kekulé von
der Universität Halle-Wittenberg, der
schon früh in der Krise weitaus entschie-
dener auftrat. Der Virologe Kekulé, 61, ist
das Gegenbild zum Pragmatiker Drosten,
der stets Machbarkeit und Nebenfolgen
seiner Ratschläge mitbedenkt. Kekulé
agiert eher wie ein Mann der Opposition,
der einfach mal drastische Forderungen
aufstellt. Schon Anfang März sprach er
sich zum Beispiel für zwei Wochen
»Coronaferien« im ganzen Land aus.
Und jetzt, da die Schulen tatsächlich ge-
schlossen sind, genießt Kekulé sichtlich
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