Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

Regierung ein. Vielleicht, sagt er, wäre es
gar nicht so schlimm, wenn in Belgien die
künstliche Intelligenz die Herrschaft über-
nehmen würde. Dann gäbe es wenigstens
eine neue Regierung.
Ein ziemlich guter Witz, wäre De Wever
selbst nicht der große Disruptor, dessen
Ziel es ist, Flandern unabhängig zu ma-
chen. Auf Instagram postet er ein Foto von
sich und Harari. Er sei, schreibt De Wever,
im Vergleich zu Harari ein Neandertaler.
In der Antwerpener Lotto-Arena treten
sonst Bands wie die Jonas Brothers oder
Underworld auf. Auch Harari wurde vorab
als intellektueller Rockstar angekündigt,
was ein Missverständnis sein muss. »Hello
everyone«, sagt er leise, während er seinen
Laptop aufklappt.


Yuval Noah Harari ist 44 Jahre alt, von
zarter und kleiner Statur. Er spricht mit
hoher Stimme, trägt einen flatternden
Anzug, bunte Socken. Harari ist kein Ver -
führer, der sein Publikum mitreißt. Er
tritt auf wie jemand, der sich erst daran
gewöhnen musste, vor Tausenden Men-
schen zu sprechen.
Das Interessante ist, dass seine von
Sorgen und Zweifeln und Ängsten geplag-
ten Leser und Zuhörer ausgerechnet bei
ihm gelandet sind. Wer Angst empfindet,
hofft auf Beruhigung. Auf so etwas wie:
Es war schlimm, es ist schlimm, aber die
Dinge werden besser. Tatsächlich ist Ha-
rari eher jemand, der die Angst bestätigt:
Es war ganz okay, aber jetzt könnte es
wirklich schlimm werden.

Harari beginnt seinen Vortrag mit der
Nachricht, dass der Homo sapiens vor
dem Ende stehe. Alles sei vorstellbar: dass
wir mithilfe von Biotechnologie nicht nur
unsere DNA verändern, unser Hormon-
system und unser Gehirn, sondern bald
schon verschmelzen mit unorganischer
Software. Und dass wir eines vielleicht
gar nicht so fernen Tages künstliches Le-
ben entwickeln. Es wäre die Geburt einer
neuen Gattung: des Homo Deus. Der
Mensch mit göttlicher Allmacht.
Harari sagt, das Smartphone werde bald
schon, in 20, 30 Jahren, so etwas wie unser
zweites Gehirn sein. Es wird wissen, was
wir fühlen, was wir wollen und denken. Es
wird Entscheidungen für uns fällen, wel-
chen Job wir haben, welchen Kredit wir

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MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL

Autor Harari in Antwerpen: Unser Gehirn mit Software verschmelzen

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