Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

30 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


J


eden Morgen um neun Uhr versam-
melt sich im 13. Stock des Berlay-
mont im Brüsseler Europaviertel
eine kleine Runde, um die letzten
Neuigkeiten im Kampf gegen das Corona-
virus zu besprechen. An der Stirnseite
des Tisches nimmt Ursula von der Leyen
Platz, die Kommissionspräsidentin. Links
neben ihr sitzt, mit deutlichem Abstand,
ihr Kabinettschef, zu ihrer Rechten sind
die Presse leute. Von der Leyen blickt auf
einen großen Bildschirm, darauf sind die-
jenigen ihrer Kommissare zu sehen, die
mit der Krise befasst sind. Auch wenn ihre
Büros nur ein oder zwei Stockwerke unter
von der Leyens Chefetage liegen, werden
sie per Video zugeschaltet, auch das ist
eine Vorsichtsmaßnahme gegen das Virus.
Etwa eine Stunde lang geht es an diesem
Morgen um die Lage an Europas Binnen-
grenzen, um die Frage, wie man europäi-
sche Urlauber aus dem Ausland zurück-
holt, um den Auftragsstand der Industrie.


Europa handelt – das sollen die Bilder
von dieser Morgenlage zeigen, die kurz
darauf über die sozialen Medien verschickt
werden. Eine andere Wahrheit indes wird
nicht verbreitet: Brüssel hat in der Corona -
krise nur wenig zu sagen. Und dort, wo
die EU-Institutionen Kompetenzen haben,
kommen sie nur schwer in die Gänge.
Ausgerechnet jetzt, da Europa eine Pan-
demie bekämpfen muss, könnte das jahr-
zehntelang gewachsene Einigungswerk
zerbröseln. Was Brexit und Eurokrise
nicht erreicht haben, schafft womöglich
Covid-19: Europa zerfällt.
Statt gemeinsame Lösungen zu suchen,
fällt der Kontinent zurück in nationale
Egoismen und Kleinstaaterei. Statt sich ge-
genseitig zu helfen, hamstern EU-Länder
Atemschutzmasken wie aufgeschreckte
Bürger Klopapier. Die anfängliche Ent-
scheidung einiger EU-Mitglieder, medizi-
nisches Gerät nicht nach Italien zu expor-
tieren, in das Mitgliedsland, das besonders

früh und hart von der Pandemie betroffen
war, stellt sogar die fehlende Solidarität
von Regierungschefs wie Viktor Orbán in
der Flüchtlingskrise in den Schatten.
Selbst in der Frage, wie sie das Virus
bekämpfen sollen, sind sich die Europäer
nicht einig. Während Deutschland errei-
chen will, dass sich die Bürger möglichst
nicht begegnen, setzen die Niederlande
zunächst darauf, dass möglichst viele ge-
sunde Menschen sich mit dem Virus anste-
cken sollen und so schnell immun werden.
Das Signal ist klar: Wenn es ernst wird, ist
sich auch gut 60 Jahre nach Gründung der
Gemeinschaft noch immer jeder Mitglied-
staat selbst der Nächste. Die Frage ist, ob
die EU-Kommissionspräsidentin dagegen
überhaupt etwas unternehmen kann.
Ursula von der Leyen hat selbst Medi-
zin studiert. Deshalb verlässt sie sich, wie
sie sagt, stark auf den Rat von Experten.
Alle zwei bis drei Tage schaltet sie sich
vom 13. Stock ihres Hauptquartiers aus

Machtlos in Brüssel


EuropaEU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen versucht, einen Zerfall der Gemeinschaft


zu verhindern. Doch der Egoismus der Mitgliedstaaten überwiegt.


Europapolitikerin von der Leyen: Nie um Zuständigkeiten geschert

KENZO TRIBOUILLARD / AFP
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