Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

quasi der Erfinder des Streamingmarkts
und dominiert ihn bis heute. Sein Kunden-
stamm ist mit 167 Millionen derzeit fünf-
bis sechsmal so groß wie der von Disney+
(29 Millionen), HBO Now (24 Millionen)
und Apple TV+ (34 Millionen). Nur Ama-
zon Prime Video (150 Millionen) bewegt
sich in ähnlicher Höhe. Netflix wächst seit
einigen Jahren fast nur noch im internatio-
nalen Markt, während die Abonnentenzahl
im US-Heimmarkt bei rund 60 Millionen
ihr Limit erreicht zu haben scheint.
Der Tech-Gigant Apple mag in der
Streamingwelt noch ein Zwerg sein, aber
er hat – wie auch Amazon – gegenüber
Netflix den gewichtigen Vorteil des Direkt -
zugriffs auf eine loyale Stammkundschaft.
Bei Apple und Amazon sitzen die Zu-
schauer quasi schon im Kino, der Film
muss nur noch gestartet werden, während
sowohl Netflix wie Disney+ die Leute erst
auf ihre Plattformen hereinbitten müssen.
Apple hat aktuell 1,4 Milliarden aktive
Geräte im Umlauf, davon rund 900 Mil-
lionen iPhones. Das ist das hauseigene
Ökosystem, in das es seine Streaming -
sparte pflanzt. Und Amazon erreicht mit
Prime schon mehr als 80 Prozent der US-
Haushalte, in Deutschland sind immerhin
schon 17 von insgesamt 41 Millionen Haus-
halten treue Prime-Kunden.
Disney+, umgekehrt, ist gezwungen,
mit Partnern zusammenzuarbeiten, um
sein Publikum zu erreichen – ironischer-
weise mit Amazon. Mit dem Konzern von
Jeff Bezos hat Disney einen Deal abge-
schlossen, um sein Streamingangebot über
Amazons Fire-TV-Stick ausspielen zu kön-
nen. Was Netflix betrifft, so prophezeit
Galloway, dass die »Firma entweder einen
Distributionsanbieter dazukauft, oder sie
wird innerhalb der nächsten drei Jahre
selbst aufgekauft«.
Die teuersten und besten Serien der
Welt anzubieten war einmal das Allein-
stellungsmerkmal von Netflix. Das ist vor-
bei. Amazon etwa will angeblich eine Mil-
liarde Dollar in eine mehrere Staffeln um-
fassende Fernsehadaption von Tolkiens
»Herr der Ringe« pumpen.



  1. Die Macher


Christian Schwochow ist ein Star der neu-
en Welt. Der Regisseur wird stets gerufen,
wenn ein Projekt kompliziert wird – in-
haltlich oder produktionstechnisch. Er
steht für ein Kino, das sich an die schweren
Stoffe traut, die schwierigen Themen. 2017
drehte er die erste Staffel der ZDF-Serie
»Bad Banks«.
Die war ein Fremdkörper im »Traum-
schiff«-und-»Ein Fall für zwei«-Kosmos
und ein enormer Erfolg, auch internatio-
nal. Inhaltlich und ästhetisch die erste
überzeugende öffentlich-rechtliche Pro-
duktion für ein Publikum, das sich sonst


nur noch bei Netflix verstanden fühlt.
»Bad Banks« war der Durchbruch. Seit-
dem kann sich Schwochow seine Projekte
aussuchen. Netflix engagierte ihn für zwei
Folgen der Highend-Produktion »The
Crown«. Wer Serie kann, ist gerade ange-
sagt. Schwochow ist seit zwei Jahren nur
noch unterwegs, arbeitet an mehreren Pro-
jekten parallel.
»Wie diese Leute an dich herantreten,
das ist ganz anders, als dich Leute vom
ZDF oder von der ARD ansprechen«, sagt
er. Einerseits gebe es eine sehr klare Vor-
stellung davon, was sie sich wünschten.
»Andererseits gibt es eine extreme Offen-
heit und Neugier, es ist eine andere Lei-
denschaft fürs Erzählen da.« Kein
Vergleich sei das zu den »oft wenig inspi-
rierenden und auch negativ beladenen
Diskussionen, die man hier mit Redakteu-
ren und auch Produzenten hat.«
Zurzeit hängt Schwochow ein bisschen
in den Seilen, er hatte einen Nachtdreh in
Köln, wo er unter Geheimhaltung einen
Film über den Aufstieg der neuen Faschis-
ten in Europa macht. Er hat kein Auge zu-
gemacht, aber wenn er von den neuen
Möglichkeiten der Streamingwelt spricht,
wirkt er hellwach.
Es ist eine Goldgräberstimmung, aber
es herrscht auch Chaos. Es ist schlicht zu
viel Geld im Markt, es wird zu viel ge-
macht, zu schnell gearbeitet. Alle gieren
nach dem Erfolg. Der Druck ist enorm.
»Die Art und Weise, wie hier von Net-
flix bestimmte Projekte umgesetzt werden,
ist schwierig«, sagt Schwochow. »Da wer-
den Produktionen viel zu schnell mit zu
wenig Geld durchgeprügelt. Geschwindig-
keit und Druck können manchmal gut sein
für ein Projekt, in der Regel braucht Qua-
lität aber Zeit. Ganz ehrlich, mich hat bis-
lang keine deutsche Netflix-Produktion
hundertprozentig überzeugt, irgendwann

spürt man immer, dass die Macher unter
Zeit- und Geldnot arbeiten mussten.«
Fernsehen im Burn-out-Modus.
»Es tobt ein gigantischer Verdrängungs-
wettbewerb«, bestätigt Nico Hofmann,
einer der großen Produzenten, der mit der
Ufa eines der größten Studios in Europa
leitet. Die Konkurrenz habe auch Netflix
verändert. Der ehemalige Angreifer sei
selbst zum Ziel geworden – und verfolge
eine neue Strategie. Statt Klasse, mehr
Masse. »Nachdem sie erst das Arthouse-
Kino eingemeindet und dann die junge
Zielgruppe umgarnt haben, konzentrieren
sie sich nun auf eine Art gesellschaftliche
Mitte«, sagt Hofmann. »Es geht nicht
mehr um die spitze State-of-the-Art-Serie,
sondern um Konsensstoffe für Leute zwi-
schen 25 und 49.«
Moritz von Kruedener, Geschäftsführer
der Firma Beta Film, die maßgeblich an
der Finanzierung der 40 Millionen Euro
teuren Serie »Babylon Berlin« beteiligt
war, bringt das Dilemma auf den Punkt:
Wenn man ein so großes Publikum wie
Netflix erreichen müsse, könne man nicht
mehr nur Highend-Serien für die Nische
drehen, man müsse einen extrem breiten
Mainstream bedienen. »Die einfachste Lö-
sung in so einem Fall: Man gibt den Leu-
ten, was sie kennen.«
Netflix hat im vorigen Jahr drei Milliar-
den Dollar verbrannt. Spencer Wang, Vice
President, zuständig für die Finanzen und
Investoren, ist deshalb ein wichtiger
Mensch dort. Er muss Investoren überzeu-
gen durchzuhalten, sie müssen ihm glau-
ben, dass immer noch alles cool ist, trotz
Disney, trotz HBO, trotz Apple – und ob-
wohl keiner weiß, ob auf Dauer genug
Platz ist für all die Tausenden von Stunden
an Film und Fernsehen, die in die Welt ge-
streamt werden.
Wangs Büro ist knapp zehn Quadratme-
ter groß, die Einrichtung ausnehmend häss-
lich. Und wie erklärt er nun den Investoren,
dass sie nicht nervös werden müssen, nur
weil Disney zehn Millionen Abonnenten
gleich am ersten Tag akquiriert hat?
»Wir glauben, dass der Markt groß ge-
nug ist, um für mehrere verschiedene Play-
er ähnlich erfolgreich zu sein. Ich sage den
Investoren: Seht, wir sind in den USA in
zwölf Jahren von null Abonnenten auf
60 Millionen gestiegen. Im gleichen Zeit-
raum ist HBO von 30 auf 40 Millionen ge-
wachsen. Wäre es ein Nullsummenspiel,
hätte HBO angesichts unseres Wachstums
von 30 Millionen auf null gehen müssen.«
Für neue Streamingdienste sei also noch
genug Platz da, glaubt Wang. Für klassi-
sche, lineare Fernsehsender allerdings im-
mer weniger.
Lars-Olav Beier, Markus Brauck,
Christian Buss, Oliver Kaever,
Guido Mingels, Philipp Oehmke

78 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020

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Regisseur Schwochow
Fernsehen im Burn-out-Modus

Wirtschaft
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