2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
de sei eine jüngere Nachbarin zu Besuch. Am
Schluss sagt Frau Tonner: »Nur die Harten
kommen in den Garten.«

Der Kiosk

Schräg gegenüber der Kirche ist ein Kiosk,
offiziell heißt er »Schillers Back- und Paket-
shop«, aber über der Tür steht in großen ro-
ten Buchstaben nur: »Kiosk«. Er ist Dreh-
und Angelpunkt im Viertel, hier gibt es mor-
gens Brötchen, abends Bierchen, es gibt Kaf-
fee, Zigaretten und seit Neuestem auch Toi-
lettenpapier, gut sichtbar aufgebaut. Auf dem
selbst gemalten Preisschild steht: »3,99 Euro«.
Man kann hier auch Pakete abholen, die
vom Postboten im Kiosk abgegeben wurden.
»The workout you need« steht auf einem, man
sieht das Bild einer Klimmzugstange darauf.
Klickt man auf Google die Bewertungen
für den Kiosk an, sieht man, dass dort von
»sehr freundlichem Personal« die Rede ist.
Das Personal besteht aus dem Ladenbesitzer
und zwei Mitarbeitern. Einer davon ist Sel-
çuk Gün, 35 Jahre, kurze schwarze Haare,
müdes Gesicht.
Jeden Tag fährt er mit der S-Bahn von
Hamburg-Harburg, wo er mit seiner Frau
und seinen vier Töchtern lebt, 37 Minuten
bis hierher nach Altona. Aktuell ist es ein ein-
samer Arbeitsweg. »Die S-Bahnen sind leer,
da sind höchstens mal zehn Leute drin, im
ganzen Zug«, sagt er und zuckt mit den
Schultern. Ist halt so. Selçuk Gün kennt nur
ein Tempo: ganz ruhig.
Die Abläufe sind bei ihm fast immer
gleich: Jemand betritt den Laden, Gün
kommt aus dem Hinterzimmer und schlurft
zur Kasse, während der Kunde noch vor einem
der Regale steht und sich umschaut. Dann:
zahlen. Kein Mundschutz. Keine Handschuhe.
Keine Angst vor Bargeld. Dann ein kurzer
Dialog.
»Alles gut?«
»Ja, alles gut. Und selbst?«
»Alles gut.«
Dann rumstehen, wieder im Hinterzim-
mer verschwinden. Und dann alles wieder
von vorn.
Manchmal steht Gün auch am Eingang,
in der Ladentür, schaut die Straße rauf und
runter, winkt den Leuten zu, die vorbeilaufen
und die er natürlich alle kennt.
»Da hinten«, sagt Gün und deutet die
Straße hoch, »da wohnt Scholz.«
Olaf Scholz, Finanzminister und Vize-
kanzler, hat die Wohnung in der Schillerstra-
ße noch aus seiner Studentenzeit, damals
lebte er in einer WG. Auch als Hamburger
Bürgermeister blieb er in Altona. Heute lebt
er die meiste Zeit mit seiner Frau in Pots-
dam. Aber wenn er doch mal wieder in
Hamburg ist, wohnt er noch immer hier.
Deshalb steht in der Schillerstraße auch ein
kleines Polizeihäuschen, lagern an zwei Stel-
len rot-weiße Absperrgitter. »Hin und wieder
kommt er am Wochenende«, sagt Selçuk
Gün, »dann sperren sie immer die Straße
ab.« Ganz normal.
Durch Corona aber sei nun alles ein biss-
chen anders geworden, ein bisschen komisch,
sagt Gün. Klar, es kommen immer noch
Kunden vorbei, kaufen was, holen was ab,
nehmen sich kurz Zeit für einen Schnack.
Aber es sind weniger geworden. Und sie sam-
meln sich nicht mehr im Kiosk, wegen der
Kontaktsperre.
Menschenansammlungen sollen ja aufs
absolut Nötigste reduziert werden. Güns
Chef, der Inhaber des Kiosks, achtet darauf,
dass die Regel genau eingehalten wird. Sie
haben im Laden Markierungen auf den Bo-
den geklebt, um den Mindestabstand zwi-
schen den Kunden zu verdeutlichen.
Yannis, ein Busfahrer der Hamburger
Hochbahn, holt sich im Kiosk einen Becher
Kaffee und tritt wieder hinaus auf die Straße.
Da sieht Yannis, schwarze Haare, schwarzer
Pulli, schwarze Jacke, statt Maske eine Kippe
im Gesicht, seinen Zahnarzt, der wohnt auch
hier in der Ecke. Man grüßt sich, bleibt ste-
hen, redet mit dem nötigen Abstand. Der
Zahnarzt fragt, wie es läuft, und Yannis sagt,

es sei erniedrigend, im leeren Bus durch die
Gegend zu fahren. Praktisch keine Fahrgäste.
»Und am schlimmsten: keine Frauen.«
»Mist, wegen der Frauen bist du doch
Busfahrer geworden«, sagt der Zahnarzt.
Lachen.
»Nee, ohne Witz«, sagt Yannis. Es gebe
kaum noch normale Fahrgäste. Kürzlich
habe es sich ein Mann bei ihm im Bus ge-
mütlich gemacht, er habe die Schuhe ausge-
zogen und sei eingepennt. Im ganzen Bus
habe es gestunken. Die wenigen übrigen
Fahrgäste seien geflohen. Irgendwann habe
er die Polizei gerufen. »13 Minuten haben
die gebraucht, um den zu wecken.«
Bevor beide ihrer Wege gehen, fragt Yan-
nis: »Steht mein Termin noch, nächste Wo-
che? Habt ihr überhaupt auf?«
»Steht noch«, sagt der Zahnarzt, »wir ha-
ben auf.«
Es ist inzwischen längst deutlich gewor-
den, dass diese Krise die Menschen sehr un-
terschiedlich trifft. Manche, wie Kranken-
pfleger, Lastwagenfahrer und Supermarktver-
käufer, arbeiten so viel wie selten zuvor. An-
dere, wie Eventmanager, Friseure und Fabrik-
arbeiter, haben nichts mehr zu tun. Die Be-
gegnungen in der Schillerstraße zeigen, dass
es auch sehr unterschiedliche Arten gibt, auf
die Krise zu reagieren. Manche haben ständig
Angst um ihre Familie und um sich selbst,
andere sorgen sich nicht groß und leben ein-
fach weiter.
Selçuk Gün steht jetzt wieder allein im
Laden. Auf die Frage, was für ihn gerade das
Schwerste ist, erzählt er von den vier Töch-
tern, die daheim herumsitzen, und von den

vielen Hausaufgaben, die sie von den Lehrern
bekommen. Die seien nicht so leicht zu ver-
stehen. Immer müssten er oder seine Frau die
Lehrer anrufen und es sich erklären lassen.
Und das Virus? Die Angst? Die Unsicher-
heit?
»Ach, als Kurde ist man anderes ge-
wohnt«, sagt Selçuk Gün und erzählt, wie
sein Vater Anfang der Neunzigerjahre aus der
Osttürkei nach Deutschland floh. Zwei Jahre
blieb Selçuk mit dem Rest der Familie noch
in der Türkei, bevor sie nachkamen. »Nachts
habe ich immer Schüsse gehört, daran er-
innere ich mich.«
Selçuk Gün greift zur Fernbedienung. »Ma-
chen wir mal ein bisschen Nachrichten an.« Auf
dem Bildschirm, der von der Kioskdecke hängt,
läuft jetzt ntv. Die Sprecherin erklärt, in einer
Auffangstation auf Borneo dürften wegen
Corona die Pflegerinnen vielleicht bald nicht
mehr mit den Orang-Utan-Waisen kuscheln.
Anscheinend sind auch Menschenaffen vor dem
Virus nicht sicher.

Die Kirche

Noch ein Versuch bei Frau Laufer. Endlich,
nicht mehr besetzt. Aber sie nimmt nicht ab.
»Na Mensch, wo ist die denn jetzt wieder«,
murmelt Pastor Steffens. Dann geht Frau Lau-
fer doch noch ran, etwas außer Atem.
»Ich bin grad an der Tür mit der Nachba-
rin. Mit zwei Meter Abstand!«
»Frau Laufer, erst mal ...« Pastor Steffens
nimmt ein kleines Tütchen und raschelt da-
mit am Hörer. »Ich bedank mich für die Blu-
mensaat! Das find ich ganz toll, das pflanze
ich vorne im Garten! Ich soll schön grüßen
von meiner Frau.«

Die Beratungsstelle

Es ist in diesen Tagen manchmal die Rede
davon, was die Kontaktsperre und die damit
verbundene Enge für Familien bedeutet, in
denen es mehr Probleme gibt als die Verein-
barkeit von Kindern und Homeoffice. Fami-
lien, in denen es zu Gewalt und Übergriffen
kommt. Der Blick der Medien richtet sich
dann meistens auf die Frauen, die es zu
schützen gilt, auf die Arbeit von Konflikt-
beratungsstellen, Frauenhäusern, Telefon-Hot-
lines. Auf die Opfer. Um sie kümmert sich

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terreichurlauber das Virus mitbrachten, noch
bevor die Schulen schlossen, die Restaurants,
der Einzelhandel, noch bevor die Kontakt-
sperre verhängt wurde.
In den vergangenen Tagen hat sich der
Alltag in Deutschland in einer Geschwindig-
keit verändert, die wohl kaum jemand für
möglich gehalten hätte. Nach Ansicht man-
cher Experten aber kamen die Maßnahmen
viel zu langsam und vor allem zu spät. Sie
finden, man hätte das Problem früher erken-
nen können, in all den Wochen, die das Virus
brauchte, um von China nach Deutschland
zu gelangen.
Bei zehn Patienten von Beatrice Roßbach
wurde bislang Covid-19 diagnosti-
ziert. »Wir hatten einen der ersten
Fälle. Ein junger Mann, kein Kon-
takt zu Corona-Erkrankten, kein
Aufenthalt im Risikogebiet«, sagt
sie.
Das Robert Koch-Institut emp-
fiehlt, solche Fälle nicht zu testen.
»Aber die Symptome waren so seltsam
für sein Alter, da hab ich einen Ab-
strich gemacht«, sagt Roßbach. Damit
hat sie, ganz nebenbei, eine Schwäche
der offiziellen Statistik offengelegt:
Wenn nicht alle Menschen, die mög-
licherweise das Coronavirus in sich
tragen, getestet werden, kann niemand
wirklich sagen, wie viele Menschen
infiziert sind. In Deutschland wird,
verglichen mit anderen Ländern, sehr
viel getestet, aber auch hier gibt es
nicht genug Testsets und nicht genug
Labore, um alle potenziellen Virus-
träger zu überprüfen.
Auch dies ein Problem, das sich
vielleicht hätte verkleinern lassen,
hätte man die Gefahr früher erkannt.
Ein Corona-Test bei Beatrice Roß-
bach läuft so ab: Der Patient begibt
sich auf den Parkplatz hinter der Pra-
xis. Drinnen zieht sich Roßbach ihre
Schutzkleidung an, einen Kittel, lange
Handschuhe und einen Plexiglasschild
für das Gesicht, sie öffnet das Fenster
und steigt auf einen Stuhl, um besser
nach draußen greifen zu können.
Dann steckt sie den Arm raus und
macht den Abstrich.


Der Umzug

350 Meter von der Arztpraxis ent-
fernt steht ein Mietshaus des kom-
munalen Hamburger Wohnungs-
unternehmens Saga. Hier parken
weniger Autos als vorne bei den Neubauten,
dafür hört man den Lärm der nahe gelegenen
Hauptstraße.
Jan Kratt, 30 Jahre, Chino-Hose, Pullo-
ver, verstrubbelte Haare, läuft die Treppe in
den ersten Stock, in der Hand zwei Club
Mate, für ihn und seine Frau Britta, die er
Britti nennt und die in einer leeren Wohnung
die ersten Kisten auspackt. Jan arbeitet in der
IT-Abteilung der Asklepios-Kliniken, was gut
von zu Hause klappt, Britta studiert BWL an
der Uni Hamburg. Das heißt, sie würde gern
studieren, aber gerade ist nicht klar, wann
und ob überhaupt das nächste Semester be-
ginnt. »Alle Prüfungen wurden abgesagt.
Keiner weiß, wie es weitergeht«, sagt sie.
Die beiden wollten eigentlich in einem
Rutsch umziehen, von Hamburg-Borgfelde
im Osten einmal quer durch die Stadt nach
Altona im Westen, mit einer Gruppe von
Freunden hatten sie alles geplant. Dann ver-
hängte die Stadt das Kontaktverbot, das un-
tersagt, sich in Gruppen von mehr als zwei
Menschen aufzuhalten. Jan Kratt machte sich
Sorgen, ob man ihn überhaupt umziehen
lassen würde. Er rief bei der Polizei an, aber
dort konnte man ihm nicht helfen. Der Be-
amte meinte nur: »Sagen wir mal so, Sie wä-
ren nicht unsere größte Priorität.« Dann ver-
wies er ihn an das Gesundheitsamt.
Also schrieb Jan eine E-Mail mit seinem
neuen Plan an [email protected] und er-
klärte, dass sie nun ihre Möbel und Kisten
peu à peu in die neue Wohnung bringen
würden, und jeweils nur zu zweit. Umzug in
Etappen über mehrere Tage. Nach zwei Stun-
den kam die Antwort: »Moin moin, das nen-
ne ich eine überlegte Planung. Aus Sicht des
Gesundheitsamtes ist gegen Ihren Plan
NICHTS einzuwenden. Viel Erfolg beim
Umzug und bleiben Sie gesund.«


Die Kirche

Am Abend, es ist Viertel vor sechs, betritt
Pastor Steffens sein Amtszimmer im Pastorat,
hinter ihm eine Bücherwand, vor ihm ein
Schreibtisch voller Papiere, er nimmt das
schwarze Festnetztelefon und wählt.
Dann sagt er: »Moin, Hilke!«
Hilke Schulz, 78 Jahre, erzählt, wie sehr
sie die Gottesdienste vermisst.
Sie sagt: »Wir sind doch gar nicht so viele,
die da kommen.« Sie sagt, dass ihre Tochter sich
sehr sorge, »Mama, wasch dir die Hände,
Mama, mach dies, und so weiter«, und dass es
den Deutschen einfach zu lange zu gut gegangen
sei. »Wir haben 70 Jahre keinen Krieg gehabt!
Irgendwann musste mal die Bremse kommen.«
Pastor Steffens dankt für den Fisch, den
Frau Schulz ihm vorbeigebracht hat. »Der
Aal hat wunderbar geschmeckt, Hilke! Die
Rollmöpse haben wir auch schon aufgeges-


sen.« Er erzählt, dass er die Seniorenreise ab-
gesagt hat. »Das können wir machen, wenn
Corona vorbei ist.«
Sie reden eine Viertelstunde lang. Zum
Schluss liest er Frau Schulz aus der Bibel vor:
»Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt,
den werde ich nicht hinausstoßen.«

Der Altbau, Erdgeschoss

»Na, noch im Schlafanzug?« Bettina Reich
guckt auf den Bildschirm ihres Handys. Sie
videotelefoniert per Whats App mit ihrem
Sohn, wie jeden Tag. In Hamburg ist es
Nachmittag, in Panama-Stadt Morgen, dort

lebt ihr Sohn Jasper, er arbeitet bei einem
Forstunternehmen.
Bettina Reich, 56, sitzt im Wohnzimmer
auf dem Sofa und lacht in die Handykamera,
sie lacht generell sehr viel, auch jetzt, wo vie-
les nicht zum Lachen ist. Reich wohnt im
Erdgeschoss eines Altbaus in der Schillerstra-
ße, zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad, sie ist
freie Wissenschaftsjournalistin, vor drei Ta-
gen hat sie die staatliche Soforthilfe für Solo-
selbstständige beantragt, weil die Redaktio-
nen sparen müssen und sie kaum noch Auf-
träge bekommt. Sie sitzt jetzt zu Hause und
hat wenig zu tun. Abends verabredet sie sich
mit Freunden, so wie früher, nur dass sie den
Wein mit ihnen jetzt halt über Video trinkt.
Jasper, ihr 29 Jahre alter Sohn, ist seit An-
fang Februar in Panama, normalerweise ist er
viel draußen unterwegs und hilft mit, Wälder
aufzuforsten. Aber seit das Virus Mittelamerika
erreicht hat, sitzt er in seinem WG-Zimmer
fest. Nur an drei Tagen in der Woche darf er
das Haus verlassen, in welchem Zeitraum, da-
rüber bestimmt die letzte Nummer seines
Reisepasses, er hat die Fünf, das bedeutet: von
16.30 Uhr bis 18.30 Uhr. Auch dann darf er
die Zeit nur zum Einkaufen nutzen, allein.
Und noch eine Regel gilt in Panama:
Männer und Frauen dürfen bloß noch ge-
trennt einkaufen. An drei Tagen die Männer,
an drei Tagen die Frauen.
»Das ist mir erst im Supermarkt richtig
aufgefallen. Ich hab gedacht: Hier sind ja nur
Typen unterwegs«, sagt Jasper.
»Das müsste doch Kim gut gefallen«, sagt
Bettina Reich: »Da kannst du beim Einkau-
fen keine Frau mehr kennenlernen.« Kim ist
Jaspers Freundin, sie lebt in Costa Rica.
In Panama ist das Gesundheitssystem
weit schlechter als in Deutschland, entspre-
chend groß ist die Angst im Land. Die Stim-
mung sei gedrückt, sagt Jasper, und für viele
Menschen, die jetzt ihren Job verlören, wer-
de es schwierig werden. Damit niemand
hungern muss, sollen Lebensmittel verteilt
werden, aber ob das funktioniere, müsse
man abwarten.
Jasper hätte Ende März nach Hause
kommen können, da ging ein Rückholflug
nach Deutschland. Weil aber zuerst Touris-
ten und ältere Angehörige der Botschaft aus-
geflogen werden sollten, ist er geblieben. Es
machte ihm nicht viel aus. Inzwischen aber
werden die Tage im Hausarrest lang. Ein
weiterer Rückholflug nach Deutschland ist
nicht geplant.
»Ich hab mir ein Springseil gekauft«, sagt
Jasper. Seine Mutter lacht. Als sie ihm neu-
lich vorschlug, gemeinsam Yoga zu machen,
war er wenig begeistert.
Abends, wenn die Sonne untergeht, setzt
sich Jasper in Panama auf den Balkon, er
schaut auf die Hochhäuser der Stadt und

sieht in der Ferne den Dschungel. Er würde
dann gerne ein Bier trinken, aber Alkohol
darf in Panama nicht mehr verkauft werden.
Das soll die häusliche Gewalt eindämmen.
»Hab dich lieb«, sagt Bettina Reich am
Ende des Telefonats. Dann legt sie auf.

Auf der Straße

Helene Dauber läuft mit ihrer 19-jährigen
Tochter die Schillerstraße hinunter zum Vor-
platz der Kirche. Nur dort will sie sprechen,
draußen. Sie und die Tochter tragen Masken,
und Dauber entspannt sich sichtlich, als man
versichert, man werde einen großzügigen
Sicherheitsabstand einhalten. So
steht man drei Meter von ein an der
entfernt auf dem Vorplatz der
Kirche und unterhält sich. Die
Leute, die vorbeikommen, gu-
cken ein bisschen irritiert.
Dauber macht sich Sorgen um
ihren Mann. Der sitzt mit gleich
mehreren Vorerkrankungen zu
Hause – er hat eine künstliche
Herzklappe, mehrere Bypässe,
und vor allem hat er noch COPD,
eine chronische Lungenerkran-
kung. Die Kollegen und der Ar-
beitgeber sollen das nicht erfah-
ren, deshalb soll Helene Daubers
echter Name nicht in der Zeitung
stehen. Sie denkt viel an die Zu-
kunft in diesen Tagen und daran,
was alles passieren kann. Sie sagt:
»Ich bin sehr unentspannt.«
Dauber arbeitet bei einem
Theater, in der Verwaltung, ihre
Tochter lebt noch zu Hause.
»Darf ich die Maske jetzt abneh-
men?«, fragt die Tochter.
»Das ist deine Entscheidung«,
antwortet die Mutter und klingt
dabei so, als hätte sie lieber »Nein«
gesagt.
Dauber erzählt, sie sei schon
seit Wochen nervös, seit sie be-
griff, wie gefährlich Covid-19 sein
kann. Ihrem Mann verbot sie, vor
die Tür zu gehen. Die Tochter
durfte nicht mehr mit öffentli-
chen Verkehrsmitteln fahren. Das
Einkaufen wurde immer unange-
nehmer, weil man da den Leuten
so nahe kommt.
Auch wenn es nicht schön sei,
sagt Helene Dauber, »ich empfin-
de andere Menschen als Bedro-
hung«.
Für sie ist die Situation vergleichbar mit
der Zeit nach den Anschlägen vom 11. Sep-
tember 2001, vom Gefühl der Gefahr her. Da
könne die Wirtschaft auch mal etwas zurück-
stehen. »Die Christian Lindners dieser Welt
nerven mich total, wenn sie sagen, wir müs-
sen wieder anfangen zu arbeiten.« Dauber
sagt, sie könnte noch ewig so weitermachen.
Die Tochter sagt: »Ich glaube, nach zwei
Monaten drehe ich durch.«

Die Kirche

Pastor Steffens ruft jetzt Frau Laufer an, aber
bei Frau Laufer ist besetzt. Also Herrn Hinz-
mann, aber Herr Hinzmann geht nicht dran.
Steffens wählt die nächste Nummer: Frau
Wrobel, 78 Jahre, Witwe.
»Hallo, Frau Wrobel, hier ist Pastor Stef-
fens! Wie kommen Sie denn zurecht?«
»Ich komm gut zurecht, ich kann mich
beschäftigen. Langeweile hab ich nicht. Ich
geh auch mal raus, ich geh einkaufen, mit
nötigem Sicherheitsabstand. Schlimm war es
natürlich an dem Tag, an dem ich Geburtstag
hatte. Weil ich meinen Mann vermisst hab,
und die Kinder konnten ja nicht kommen.«
Bei Frau Laufer ist immer noch besetzt.
Also Frau Tonner, 70 Jahre alt, Mitglied im
Kirchengemeinderat.
»Frau Tonner, wie erleben Sie denn diese
Krise?«
»Ich komm so ganz gut zurecht, wir haben
hier im Haus eine gute Gemeinschaft.« Gera-

Selçuk Gün arbeitet im Kiosk, er
kennt fast jeden in der Straße

Matthias Mehls ist fast so etwas wie ein Krisengewinnler. Denn seit er im Homeoffice
arbeitet, sieht er seinen acht Monate alten Sohn viel öfter als früher

Bettina Reich ruft ihren Sohn täglich über
Videotelefon an – er lebt zurzeit in Panama

Ein halber Kilometer ... Fortsetzung von S. 15



  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16

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