2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

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»Die Getriebenen«: Timo Dierkes als Sigmar Gabriel (l.), Imogen Kogge
als Angela Merkel und Walter Sittler als Frank-Walter Steinmeier

Foto: Volker Roloff/carte blanche/rbb

Die Krisen-Manager


Was taten Kanzlerin und Politik im Flüchtlingssommer 2015? Der staunenswerte ARD-Film »Die Getriebenen«


rekonstruiert das Geschehen. Wer ihn sieht, blickt danach anders auf die Gegenwart VON THOMAS E. SCHMIDT


A


m Schluss dieses Films steigt
die Kanzlerin in ihre Limousi-
ne und sagt das schlimme
Wort, das mit »Sch...« anfängt.
Es ist der 20. November 2015,
und der bayerische Minister-
präsident Seehofer hat ihr auf
dem CSU-Parteitag gerade bedeutet, sie dürfe sich
mal wieder sehen lassen, wenn sie ihre Flüchtlings-
politik in Ordnung gebracht, das heißt endlich für
Aufnahme-Obergrenzen gesorgt habe.
Der Sommer war sehr groß und düster gewesen.
Hunderttausende von Flüchtenden hatten sich nach
Nordwest auf den Weg gemacht, waren zuerst in
Budapest gestrandet, dann nach wochenlangem
Nervenspiel vom ungarischen Regierungschef Orbán
in Richtung Deutschland weitergeschickt worden,
erschöpft, fast verdurstend. Merkel hatte alle auf-
genommen. Anders als ihre Berater voraussagten,
gab es keinen Aufstand, sondern eine »Willkom-
menskultur«. Merkel hatte gewonnen, danach durfte
sie jeder demütigen. Als die Autotür sich schließt,
weiß sie, dass die Krise nicht mit einer Lösung endet.
Ans Ende des Stücks glauben ohnehin nur Leute,
die ins Theater gehen.
Mittwoch nach Ostern strahlt die ARD einen
äußerst sehenswerten Film über diese 63 Tage aus,
die das Land für alle Deutschen veränderten. Keine
politische Entscheidung polarisierte in den vergan-
genen fünf Jahren in vergleichbarer Weise, anders
als die Politik der Pandemie heute. Der Regisseur
Stephan Wagner und sein Drehbuchautor Florian
Oeller stützten sich für Die Getriebenen auf Motive
des gleichnamigen Buches von Robin Alexander,
einer glänzenden journalistischen Recherche dieser
Extremperformance demokratischer Politik, deren
endgültige Bewertung immer noch aussteht.

Die Filmer kombinierten TV-Material mit
Spielszenen, das Tempo ist hoch. Was die Akteure
in Berlin, Brüssel, Budapest oder München sagen,
war vielleicht nicht im Wortlaut so, klingt aber
wahrscheinlich, und zwar so sehr, dass die Echtheit
ihrer Tonfälle beinahe frappiert. Freunde und
Feinde der Merkelschen Politik können gleicher-
maßen staunen, und sie werden beide in ihren
Vorurteilen enttäuscht. Es war alles doch noch ein
bisschen anders. Die Getriebenen ist ein veristisches
Dokudrama, gerade kein Lehrstück und insofern
großes Spiel.
Wenn sich eines Tages eine – wie auch immer
verschobene – Normalität einstellt, wird die Coro-
na-Krise ebenso Spuren im Land hinterlassen. Zeit-
geschichtler werden die beiden letzten großen
Störfälle ineinander spiegeln. Genau wie damals
beschleunigt sich heute die Zeit, will sagen, der Ent-
scheidungsdruck steigt. Wieder spitzt das Bewusst-
sein des Krisenmodus die Konflikte zu – und wieder
hat Viktor Orbán dies als Erster verstanden: Wann,
wenn nicht jetzt soll durchgegriffen und festgelegt
werden? Dabei bleiben viele Instanzen beteiligt. Aufs
Ganze gesehen, regiert niemand durch. Ein jeder
kann jetzt seine immer schon erhobenen Forde-
rungen mit dem Krisengeschehen verknüpfen und
in der Öffentlichkeit deren neuerliche Dringlichkeit
anmahnen. Jede Krise treibt einen überschüssigen,
parasitären Saum aus Deutung und Nutzbar-
machung hervor.
Die Unterschiede liegen auch auf der Hand: Die
Flüchtlingskrise spielte noch ganz in der regierungs-
politischen Eigenwelt, erst im letzten Moment
wurde sie in ihrer gesellschaftlichen und euro-
päischen Dimension erkannt. Bis dahin versuchte
jeder Beteiligte noch rasch, Terrain im eigenen
Scharmützel gutzumachen, Seehofer den Söder zu

verhindern, Gabriel die Kanzlerin zu beschädigen,
Merkel die CSU im Zaum zu halten. Corona betrifft
alle unmittelbar. Die Bevölkerung beobachtet miss-
trauisch ihre Mächtigen, und jeder Politiker, der
heute noch eine verborgene Agenda verfolgt, muss
sich in Acht nehmen. Was dazu führt, dass die
Kandidaten derzeit nur ganz vorsichtig CDU-
Vorsitzender werden wollen.
Die Reaktion der deutschen Gesellschaft aufs
Flüchtlingsdrama erfolgte zeitversetzt – fiel dann
aber heftig und unkontrolliert aus; rechts der
Union gibt es seither eine Partei und eine Bewe-
gung. Die Bekämpfung des Virus hingegen wird
bisher unter einem Schutzschirm aus Konsens
betrieben. Die Politik hütet sich, ihn zu zerreißen.
Maßnahmen werden jetzt durch Wissenschaft
legitimiert, das ist künstlich und funktioniert nur
eine Zeit lang. Sollte sich die Pandemie verschär-
fen oder zurückkommen, bricht Streit aus, und
den will niemand, weil er – Erfahrung aus 2015 –
die politischen Ränder stärkt. Doch bildet ein so-
zialdarwinistischer Unterton in der Krisenbewälti-
gungsrhetorik, noch leise, zuweilen anschwellend,
schon einen Treibsatz. Wer Bevölkerungsgruppen
aufzugeben bereit ist, würde bei der nächsten Wahl
vermutlich bestraft werden. Mit Geflüchteten ließ
sich damals leichter taktieren. Und die nächsten
machen sich schon auf dem Weg.
Die Getriebenen gewährt Einblick in die enorme
Belastung der Verantwortlichen in solch ungewissen
Lagen. Auch die nervenstarke Kanzlerin konnte nicht
alles überblicken und auffangen, das wäre unmensch-
lich, und auch sie machte 2015 Fehler. Imogen
Kogge stellt die Selbstbeherrschung und den mini-
malistischen Humanismus Merkels fabelhaft dar,
Sepp Bierbichler einen Seehofer, der ins vorletzte
Überlebensgefecht zieht, verbunkert im verschatteten

Eigenheim oder in seiner Staatskanzlei, der post-
monarchischen. Söder (Matthias Kupfer) schreitet
finster und unaufhaltsam zur Macht, Maaßen
(Michael Benthin) ist ein eifernder, intriganter Prälat.
Den Würstel nagenden Altmaier (Tristan Seith) reißt
es jäh aus seinem Phlegma, in welches er, nach An-
sicht vieler, etwas später als Wirtschaftsminister
glücklich zurückkehrte. Der Ressentimentpolitiker
Orbán (Radu Banzaru) will dem deutschen Europa-
Hegemon ans Schienbein treten, begreiflich und
doch schurkisch, während Lothar de Maizière (Wolf-
gang Pregler) das eigene Endspiel zergrübelt und
grippekrank kaum miterlebt.
Die Motivlagen der »Krisenmanager« wirken
kleinmütig und begrenzt. Das registriert natürlich
nur ein überlegener, ordnender Blick aus der
Rückschau, und darin besteht der kleine Trost,
den Geschichtsschreibung manchmal gewährt.
Auch in einer transparenten, geradezu kommuni-
kationsversessenen Demokratie handeln die Ver-
antwortlichen unter beschränkten Horizonten –
und schweigen im falschen Augenblick. Der Zu-
fall, die Überraschung schleichen sich ins Spiel.
Bei Shakespeare ist am Schluss König, wer
nicht damit rechnete, und der Krieg endet immer
mit einem Triumph des Unbeabsichtigten. Das
Ende der Krise ist nie eine Lösung, es ist immer
nur der Anfang einer neuen Geisterbahnfahrt. Die
ungelösten Fragen springen wieder auf, anders
kostümiert. Nach dem Sommer 2015 drehte sich
das politische Kaleidoskop: Für die meisten gab es
neue Ämter. Die EU ist heute nicht stärker als
damals, und Ungarn oder Polen auszuschließen
gelänge nur um den Preis ihrer Selbstzerstörung.
Vielleicht wird Corona einst einen ähnlich fesseln-
den Film übers Politische inspirieren. Von heute
aus wäre das schon Anlass zur Zuversicht.

In dieser Woche fallen wieder das christliche
Ostern und das jüdische Pessach/Passah
zusammen. Nur Bibelfeste kennen die
enge Verwandtschaft. Beim Abendmahl
feierten Jesus und seine zwölf Jünger die
Erlösung von der pharaonischen Knecht-
schaft. Die Matze, das ungesäuerte Brot, ist
der »Leib Christi«, der »für euch gegeben
wird«. Der Wein ist das Blut, »das für viele
vergossen wird«.
Die Symbole sind gleich, die Funktio-
nen verschieden, denn jede Religion
pfropft die eigenen Mythen auf. Auf dem
zeremoniellen Pessach-Teller erinnert ein
Stück Röstfleisch an das Lamm, das die Is-
raeliten beim Auszug geopfert haben. Jo-
hannes blickt auf Jesus: »Sehet das Lamm
Gottes!«, das die Sünden der Menschheit
auf sich nimmt.
Die gemeinsamen Wurzeln reichen in die
heidnische Urzeit zurück. Bei Pessach/Ostern
sind das neugeborene Lamm sowie Ei und
bündelweise Grünzeug klassische Fruchtbar-
keitssymbole. Sie markieren Frühlingsfeste,
und die Sonne diktiert das gemeinsame Da-
tum. Lange vor Moses und Jesus feierten
Menschen das Ende der Winternacht und die
Wiedergeburt der Natur, das Licht und das
Heranreifen der ersten Saat.
Hier entfaltet sich der mächtigste
Menschheitsmythos überhaupt: Erlösung
und Auferstehung. Bei Juden geht es, wie-
wohl unter göttlicher Führung, recht säku-
lar zu. Sie fliehen in die Freiheit und werden
am Berg Sinai als Volk wiedergeboren, mit-
samt der Verfassung der Zehn Gebote. Das
christliche Pendant ist die Wiederauferste-
hung Jesu am dritten Tag.
Beide Religionen überwölbt die Heils-
erwartung. Bei den Juden ist es die »kom-
mende Welt« des Friedens und der Ge-
rechtigkeit; die Frommen zählen auf die
Auferstehung der Toten. Bei den Christen
ist es die Wiederkunft Jesu (Parusie), wel-
che die Heilsgeschichte im Reich Gottes
vollendet.
Heil und Heilung. In diesem Jahr
werden sich Juden per Videoschalte zum
Seder (»Abendmahl«) versammeln; die vor-
geschriebenen vier Gläser Wein am Bild-
schirm trinken, um schließlich mit »Nächs-
tes Jahr in Jerusalem!« die Hoffnung zu be-
kräftigen. Christen werden die Messe mei-
den und die Matthäus-Passion streamen.
Deutschland entchristianisiert sich, wie
die Kirchenaustritte und Umfragen melden.
Aber die Heilsgeschichte von Ostern (viel-
leicht aus dem Germanischen für »Morgen-
röte«) wird selbst Atheisten berühren. Denn
»Überwindung« und »Neubeginn« klingen
gut auch in weltlichen Ohren.
Die Israeliten mussten vierzig Jahre lang
wandern, Jesus verbrachte vierzig Tage in
der Wüste. »Vierzig« als magische Zahl mit
Blick auf die Tage nach Ostern? Wer nicht
an die Bibel glaubt, darf sich auf Masken
und Medizin verlassen. Die sind heute wirk-
samer als das göttliche Manna während des
Exodus, ca. 1300 v. Chr. JOSEF JOFFE

A http://www.zeit.de/audio

Perfekt für die


Pandemie


Die Heilsgeschichte
von Ostern und Pessach

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  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


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