Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

10 MEINUNG &DEBATTE Samsta g, 22. Februar 2020


Das gefährliche Auseinanderdriftender Gesellschaft


Es braucht eine Rückkehr radikal erneuerter Parteien


Gastkommentar
von DANIEL DETTLING


«Zerstörung» ist das politischeWort der Gegen-
wart.Der erfolgreichste politischeKommunika-
tor in Deutschland war im letztenJahr einYou-
tuber. Innerhalb wenigerTage erreichte dasVi-
deo «Die Zerstörung der CDU» des Influencers
Rezo mehr als 11 Millionen Klicks. Seitdem rüs-
ten dieParteien in Deutschland ihreKommuni-
kation auf, suchen verzweifelt nach eigenen Influ-
encern und gebensich so digital wie möglich. Die
Entfremdung zwischenPolitik und Bürgern hat
in denletztenJahrenRekordwerte erreicht.Von
einer Zerstörung desVertrauensin die Stabilität
des Staates spricht sogardas Institut für Demosko-
pie in einer Studie vom November letztenJahres.
Derart drastischeWorte ist man aus Allensbach
nicht gewohnt.WirddieParteienverdrossenheit
zur Demokratieverdrossenheit? Bisher bezeich-
nete«Disruption» dasradikale Infragestellen von
unternehmerischen Geschäftsmodellen.Das poli-
tischeSystem blieb vom digitalenWandel bis jetzt
verschont. Dies ändert sich jetzt fundamental und
radikal.


Die sozialen Netzwerke als fünfte Gewalt


Unter denJüngeren haben achtzig Prozent dasVer-
trauen in die Problemlösungskompetenz derPar-
teien verloren. Sie vermissen überzeugende Zu-
kunftsvisionen und praktische Antworten auf
MegatrendswieKlimawandel, Migration, Diver-
sität und Digitalisierung.Für die GenerationenY
und Z sind dieParteien weder medial noch gesell-
schaftlich auf der Höhe der Zeit.Das Mediennut-
zungsverhalten derJüngeren hat sich in den letz-
tenJahrenradikal verändert. 99 Prozent besitzen
ein Smartphone oder Handy. Nur jeder Zehntein-
formiert sich politisch über die klassischen Medien
wie Zeitung undRadio.
Die sozialen Netzwerke werden zur fünften Ge-
walt. Über ihre Plattformen bekommen jene Men-
schen eine Stimme, die vorherkeine hatten.Sieer-
möglichen allen Zugang zu Informationen, und das
gleichzeitig und global. Auf den Übergang von der
Massenkommunikation zur Massenindividualkom-
munikation haben dieParteien bisherkeine eige-
nen Antworten gefunden. Politische Profiteure
desWandelssindPopulisten und Demagogen.
Die neue Medienökonomie befördert das Ideal
derPopulisten einer antipolitischen und postfak-
tischen «Demokratie der Nichtwissenwollengesell-
schaft» (Eduard Kaeser). Politik wandelt sich hier
zur Herrschaft der Stimmungen bis hin zum blan-
ken Hass. Auf Plattformen wieFacebook agitieren
geschlossene Gruppen gegen Minderheiten,Poli-
tiker undVerfassungsorgane. Aus sozialen werden
asoziale Netzwerke.


Mit der digitalen Medienrevolution wandelt sich
auch die gesellschaftliche Mitte. Die Zweidrittel-
gesellschaft des Industriekapitalismus wird im digi-
talen Kapitalismus durch die «Drei-Drittel-Gesell-
schaft» (AndreasReckwitz)ersetzt. Diese setzt sich
aus der prekären Klasse, der traditionellen Mittel-
klasse und einer neuen akademisch gebildeten und
überwiegend urban lebenden Mittelschicht zusam-
men. In der politisch und kulturell bestimmenden
neuen Mittelklasse spielen postmaterielleWerte
wie Selbstentfaltung und die Attraktivität des Be-
rufs eine zentraleRolle. Während diese neue Mit-
telklasse mit ihrenWerten wie Flexibilität, Eman-
zipation, Nachhaltigkeit und Diversität von Globa-
lisierung und Digitalisierung profitiert, ist die alte
in kleinstädtischenRegionen zu Hause und vertritt
Werte wie Sesshaftigkeit, Ordnung undVerwurze-

lung. Dem neuenFortschritt gegenüber istsieeher
skeptisch eingestellt; kulturell sieht sie sich durch
Liberalisierung und Modernisierung in die Defen-
sive gedrängt. Die Unsicherheitreicht bis in die
neue Mittelschicht: Vier von fünf Deutschen gehen
davonaus, dass das Risiko, sozial abzusteigen, heute
grösser ist als bei früheren Generationen.

Neues Integrationsparadigma


DieserWandel hatFolgen für dieParteienland-
schaft. Die gegenwärtigen und künftigen Grosskon-
flikte bestehen nicht mehr vorwiegend ausVertei-
lungsfragen, sondern zunehmend aus unterschied-
lichen gesellschaftlichenWerten,Weltbildern und
Lebensgefühlen.Parteien wie SPD und FDP, die
auf materielle Sozial- und Steuerpolitik setzen,
sind dieVerlierer, Grüne und AfD profitieren da-
gegen vom gesellschaftlichen Klimawandel.Wo
die Grünen den Zeitgeist der aufstrebenden urba-
nen Milieusrepräsentieren, ist die AfD für viele
dieWiderstandspartei aus der traditionellen Mit-
telklasse und den alten und neuen Prekären. Ihr
Widerstand gilt dem empfundenenKontrollver-
lust. Ihre Utopie ist die Nostalgie der vermeintlich
«guten alten Zeit».
Auf den medialen und gesellschaftlichenWan-
del müssen dieParteien zu Beginn der zwanziger
Jahre neue Antworten geben.Von ihrer Integra-
tionsleistung und Innovationsfähigkeit hängt die
Zukunft der liberalen Demokratie ab. Dazu ge-
hört zum einen ein neues Integrationsparadigma,
das Brücken zwischen den drei Klassen herstellt
und dabei Bündnisse eingeht, die bisher unmög-
lich schienen. DieKoalitionen derVergangenheit
aus CDU/CSU und FDP sowie aus SPD und Grü-
nen werden zurAusnahme und vonKonstellatio-
nen wie «Kenya», «Jamaika» und Minderheitsregie-
rungen abgelöst. Heutekoalieren allein die Grünen
mit allenParteien des demokratischenFarbenspek-
trums. Wodie Grünen an Bündnisfähigkeit gewin-
nen, haben CDU/CSU und FDP sie verloren. Ein
grüner Ministerpräsident inBaden-Württemberg
und ein linker inThüringen sind heutekonserva-
tiver und integrierender als die alten bürgerlichen
Parteien.Für die Zukunft braucht es integrierende
Formen jenseits ideologischer Kategorien wie
rechts und links.

Demokratie erlebbarmachen


Zur Integration der Drei-Drittel-Gesellschaft
braucht es im «Zeitalter der permanenten Inter-
aktivität» (DavidVan Reybrouck) zum anderen
politische Innovationen. Die hyperschnelle, dezen-
tralisierteKommunikation hat für eine neue Mün-
digkeit der Bürger gesorgt. «Aber welche Demo-
kratie passt dazu?» ist die entscheidendeFrage,
die der belgische HistorikerReybrouck in seinem

vor fünfJahren erschienenenBand «GegenWah-
len» stellt. Seine Antwort ist eineKombination aus
repräsentativer und deliberativer Demokratie.
DerKerngedanke: Die Bürger sollen mitreden
und sich nicht nurregieren lassen. Demokratie
muss wieder erlebbar werden!Wahlen sind nie
Selbstzweck, sonderneineMethode zur Gestaltung
von Demokratie. Sie sindAusdruck einer sich mög-
lichst selbst organisierenden und freien Zivilgesell-
schaft. DieParteien sollen sich dieser Zivilgesell-
schaft nicht bemächtigen, sondern dazu beitragen,
ihreTr äger, Bürger, Vereine und Stiftungen zu er-
mächtigen, öffentlicheAufgaben möglichst ohne
Zwang zuregeln. Ihre Prinzipien heissen: dezen-
tral vor zentral und horizontal statt vertikal. Politi-
scheFührung bedeutet nicht, im Namen der Bürger
Entscheidungen zu treffen, sondern gemeinsam mit
ihnen Prozesse in Gang zu setzen, deren Entschei-
dungen am Ende von möglichst vielen akzeptiert
werden.Voraussetzung ist einKommunikationsstil,
der den Dialog aufAugenhöhe sucht.
Es geht um ergänzende, nicht ersetzendeFor-
men derPartizipation, welche die Demokratie be-
leben. Europaweitgibtes inzwischen – vor allem
auf lokaler Ebene – eine neue Bewegung der «Bür-
gerversammlungen». Ihre Grundidee:Woalle aus-
reichend Zeit und Informationen haben, überkom-
plexeFragen zu diskutieren,entstehen gute und
akzeptierte Lösungen. Emotional aufgeladene
Fragen werden versachlicht, gesellschaftlicheKon-
flikte entschärft. Irland hat mit Unterstützung einer
BürgerversammlungReferenden zur «Ehe für alle»
und zum Abtreibungsrecht vorbereitet, der franzö-
sische Präsident Emmanuel Macron will in diesem
Jahr mit einem Bürgerkonvent einen nationalen
Konsens in der Klimapolitik erreichen und hat dazu
vor wenigenTagen einReferendum vorgeschlagen.
DenParteien verlangt diesradikaleVerände-
rungsbereitschaft und leidenschaftlicheVernunft
ab. Mit Christian Lindner, Markus Söderund
dem grünenDuo AnnalenaBaerbock undRobert
Habeck haben sich jetzt vierVorsitzende aufge-
macht, ihreParteienradikal neu aufzustellen. Die
FDP kämpft plötzlich um fleissige, gut ausgebil-
deteFacharbeiter, die CSU sieht auf einmal im
Klimaschutz die wichtigsteAufgabe, und den Grü-
nen geht es um dieVersöhnung von Ökologie und
Ökonomie. Das Parteienspektrum wird breiter und
reicht von sozialliberal biskonservativ-ökologisch.
Die Bürgerinnen und Bürger haben mehrWahl-
möglichkeiten und zwingen dieParteien zu bunte-
ren Bündnissen.

Daniel Dettlingist Politikwissenschafter und Zukunfts-
forscher. Er leit et das von ihmgegründete Insti tut für
Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin. Im März erscheint sein
ne ues Buch «Zuk unftsintelligenz statt Zukunftsangst: die
menschliche Antwort auf die digit ale Revolution» bei
LangenMüller.

KARIKATUR DER WOCHE


Vier von fünf Deutschen


gehen davon aus, dass das


Risiko, sozial abzusteigen,


heute grösser ist als bei


früheren Generationen.

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