Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

18 ZÜRICH UNDREGION Samstag, 22. Februar 2020


OBERGERICHT


Sogar der Staatsanwalt will Freispruch


Zur Verurteilung einer Automobilistin lässt das Bundesgericht Dashcam-Aufnahmen nicht als Beweismittel zu


TOM FELBER


AlsdasBundesgerichtimSeptember20 19
entschied,dassVideoaufnahmeneinerpri-
vaten Dashcam als Beweismittel in einem
Fall aus Zürich nicht zugelassen werden,
sorgte das schweizweit fürAufsehen. So-
wohl das Bezirksgericht Bülach als auch
das Zürcher Obergericht hatten es anders
gesehen und eine heute 48-jä hrigePerso-
nenwagenlenkerin wegen mehrfacher,
teilweisegroberVerletzung derVerkehrs-
regeln verurteilt.Weil das Bundesgericht
den Entscheid an dieVorinstanz zurück-
wies,musstesichdasObergerichtamFrei-
tag erneut mit demFall befassen.


«Halsbrecherisches Manöver»


Der Frau wurde vorgeworfen, im März
2017 auf der A 51 beiBachenbülach im
Bereich einerBaustellemit einemJeep
gedrängelt und einenPersonenwagen
rechts überholt zu haben.Danach sei sie
sofort nach links geschwenkt, so dassder
rechts überholteAutomobilist abbrem-
sen musste. Auf demDashcam-Video,
das schon mehrfach im SchweizerFern-
sehen ausgestrahlt wurde, sieht man, wie
der Jeep danach einenLastwagen links
überholt und kurz vor diesem vom Über-
holstreifen direkt auf denVerzögerungs-
streifender AusfahrtBülach-Süd wech-


selt; alles ohne genügenden Abstand.Die
Aufnahmenwurdenvom26-jährigenLen-
ker des überholtenPersonenwagens er-
stellt.DasBezirksgerichtBülachhattedas
Manöver desJeeps als «halsbrecherisch»
bewertet.DasObergerichthatteimOkto-
ber2018 einebedingteGeldstrafevon
Tagessätzenà150Frankenund4000Fran-
ken Busse bestätigt.
Das Bundesgericht entschied jedoch,
die Videoaufnahmen seien in Missach-
tung desDatenschutzgesetzes und damit
rechtswidrig erlangt worden. Solche Be-
weise dürften von den Strafverfolgungs-
behörden nur dann verwertet werden,
wennsie für dieAufklärung einer schwe-
ren Straftat unerlässlich seien. Bei den
vorgeworfenen Delikten handlees sich
aber nur um Übertretungen undVerge-
hen.Deshalb seien dieDashcam-Aufnah-
men nicht als Beweismittel zuzulassen.
Der zuständige Staatsanwalt Andreas
Wicky unternahm nun am Obergericht
den Versuch, die Identität derAutomo-
bilistinauch mit anderen Beweismitteln
ohneDashcam zu belegen. Er stellte die
Beweisanträge, der 26-jährige Lenker sei
vor Gerichterneutals Zeuge einzuver-
nehmen, nur dieTonspur derDashcam,
auf welcher der Lenker das Geschehen
wütendkommentierte, sei als Beweis-
mittel zuzulassen und es seien in Nidwal-
den,vonwodasNummernschilddesJeeps

stammt,Abklärungen über die zugelasse-
nen Autos zu treffen.Verteidiger Mario
Bortoluzzi kritisierte, nachder Rückwei-
sungdurchdasBundesgerichtbestehegar
kein Raum für neue Beweisergänzungen.
Das Obergericht unter demVorsitz von
MartinBurgerwaraberandererMeinung
undliessdieerneuteZeugenbefragungzu.
Die Richter erachteten auch dieTonspur
der Dashcam als verwertbar, da sie allein
datenrechtlich nicht problematisch sei.

Kennzeichen imVideo erkannt


Der Zeuge erklärte imGerichtssaal, er
habe die Marke und die Kantonsbezeich-
nung auf dem Nummernschild während
der Fahrt erkannt, nicht aber dasKenn-
zeichen.Dieses habe er erst notiert,als er
bei der Anzeigeerstattung dasVideo auf
dem Parkplatz vor derPolizei in Bülach
erstmals angeschaut habe. – Die Beschul-
digte machte vor Obergericht von ihrem
Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.
Ihr Verteidiger Mario Bortoluzzi
monierte erneut, die Zeugenbefragung
sei in Missachtung der Bindungswirkung
des Bundesgerichtsurteils erfolgt. Im
Nachhinein sei er nun aber froh darum.
Denn der Zeuge habe klipp und klar
ausgesagt, dass er dasKennzeichen nur
anhand derVideoaufnahmen und nicht
schon während derFahrt identifiziert

habe. «Jetzt haben wir ein zuverlässiges
Beweisergebnis», das nur zu einem blan-
ken Freispruch führen könne.
Es folgte ein sehr kurzes Plädoyer
von StaatsanwaltWicky, der nun eben-
falls einenFreispruch beantragte. Die
wesentlicheFrage sei, ob dieAutomobi-
listin auch ohne dasVideo hätte identifi-
ziert werdenkönnen. Nach der Zeugen-
aussage sei er nun zum Schluss gelangt,
dass eine hypothetische Identifizierung
nie ohne dasVideo gelungen wäre. Wei-
tere Abklärungen in Nidwalden seien
nun auch nicht mehr zielführend.
Die Oberrichter sorgten fürkeine
Überraschungen mehr und sprachen die
Automobilistinfrei.DerVorsitzendeMar-
tin Burger hielt aber nochmals fest, dass
Aufnahmen vonDashcams bei schweren
Straftatenrelevant seinkönnten. Er fand
zudemsehrlobendeWortefürdenStaats-
anwalt.Dieser habe seineRolle, sowohl
die belastenden als auch die entlastenden
Umstände zu würdigen,wahrgenommen.
Mit dem seltenen Antrag aufFreispruch
habe er Grösse bewiesen.Die Kosten des
Verfahrens gehen auf die Staatskasse. Die
Freigesprochene erhält für ihre Anwalts-
kosten eine Prozessentschädigung von
29 700Franken zugesprochen.

Urteil SB1904 87 vom 21. 2. 2020, nochnicht
rechtskräftig.

OBERGERICHT


Strassenrowdytum kennt keine Altersgrenze


Rentner drän gt überholtes Auto vo n der Strasse ab und wird zu hoher Geldstrafe verurteilt


ALOIS FEUSI


Ein «sportlicher» Heisssporn in einem
starkmotorisiertenWagenbedrängteinen
korrekt fahrendenAutomobilisten, fährt
viel zu nah auf, betätigt wiederholt die
Lichthupe und wagt ein riskantes Über-
holmanöver:SolcheSzenensindalltäglich
auf Schweizer Strassen. In derRegel sind
die Drängler junge Männer in PS-mächti-
genLeasing-Boliden,währenddiejugend-
licheSturm-und-Drang-ZeitderBedräng-
ten meist schon länger zurückliegt.
Nicht so in jenemFall von mehrfacher
vorsätzlicher groberVerletzung derVer-
kehrsregeln,der amFreitag vor dem Zür-
cher Obergericht verhandelt worden ist.
Der Beschuldigte ist ein mittlerweile
73-jähriger Gewerbler, der an einemFrei-
tagabend im November 2013 zwischen
Gisenhard und Ossingen mit seinem be-
häbigen Geländewagen einem 24-jähri-
gen LenkereinesVW Corrado über eine


längereStreckeaufsass.InOssingenmuss-
ten die Autos vor derBarriere anhalten.
Der Lenker des rund 200 PS starken Cor-
radowarteteab,bissichdieSchrankenge-
hoben hatten und das Blinklicht aus war.
Darauf rollte er langsam über die Gleise.
Er hatte das tiefer gelegte Liebhaberfahr-
zeug mitJahrgang1991 erst kurzvorher
erstanden und wollte dessen Unterboden
nicht beschädigen.

Zweifelhafter Leumund


Damit verärgerte er den Beschuldigten,
der sich auf der Heimfahrt von derJagd
ins Zürcher Unterland befand, noch zu-
sätzlich. Mit Hupe und Lichthupe ver-
suchte dieser denVordermann zu hetzen.
Danach hängte er sich– immer lautAn-
klage und untermauert durch dieAussa-
gen eines hinter den beidenAutos herfah-
renden Zeugen– wieder dicht ans Heck
des mit 50 km/h durch Ossingenrollen-

den Wagens und überholte diesen. Dabei
drängte er das kleinereAuto gegen eine
Gartenhecke und ein Mäuerchen.
Diesbeschertedemdamals67-jährigen
Mann nach langem Hin und Her bei der
UntersuchungsowieWechselnderVertei-
digung im Dezember 2016 eine Anklage
wegen mehrfacher vorsätzlicher gro-
ber Verletzung vonVerkehrsregeln. Die
Staatsanwältin forderte eine unbedingte
Geldstrafe von 300Tagessätzen zu 80
Franken sowie eine Bussevon 600Fran-
ken als Zusatzstrafe zu einem Urteil des
Obergerichts vomJanuar2015. In jenem
ProzesswarderGewerblerverurteiltwor-
den, weil er beimParkieren einAuto be-
schädigt und weder diePersonalien hin-
terlassen noch das Eintreffen derPolizei
abgewartet hatte.Ausserdem verhinderte
er eine Atem-Alkohol-Probe. Überhaupt
hat der Mann eine ganzeReihe vonVer-
stössen gegen das Strassenverkehrsgesetz
auf demKerbholz. Zwischen 2006 und

2019 musste er fünfmal wegen zu schnel-
len Fahrens, Verweigerung einer Blut-
probe oderFahrens inangetrunkenem
Zustand denFahrausweis abgeben.
Das Bezirksgericht Andelfingen ver-
urteilte den Mann imJuni 2018 wegen
einfacher vorsätzlicher groberVerlet-
zung derVerkehrsregeln zu einer Geld-
strafe von 100Tagessätzen zu 110Fran-
ken. Der Richter fasste die Drängeleien
vor und nach derBarriere zu einerTat zu-
sammen;das Betätigen der Hupe und der
Lichthupe interpretierte er als zulässig.

DieVorinstanz korrigiert


Dagegen erhoben der Beschuldigte und
die Staatsanwältin Einspruch.DerVertei-
digerversuchte,dasOpferalsdenSchuldi-
gen darzustellen.Es handle sich um einen
typischenFall eines jungen Mannes mit
einem starkenAuto, der den Hintermann
durch langsamesFahren provoziere und

Gas gebe, wenn jener zu überholen ver-
suche. Deshalb sei er auch gegen die Gar-
tenhecke und ein Mäuerchen geprallt.Es
sei nämlich nie zu der vom forensischen
Institut festgestelltenStreifkollisionge-
kommen, sondern der junge Lenker sei
übermüdet gewesen und erschrocken, als
derandereWagenvorihmaufgetauchtsei.
Dies e Interpretation schien den Ober-
richtern nicht plausibel. Sie glaubten der
Staatsanwaltschaft und bestätigten die
mehrfache grobe und die mehrfache ein-
facheVerletzung der Verkehrsregeln.
Dem Antrag, den Mann zu15 Monaten
unbedingterFreiheitsstrafe zuverurtei-
len,folgtedasGerichtjedochnicht.Esbe-
gnügte sich mit einer Geldstrafe von 220
Tagessätzen zu 110Franken.Die Hälfte
davon wird bei einer Probezeit von 3Jah-
ren bedingt erlassen.

Urteil SB1904 87 vom 21. 2. 2020; noch nicht
rechtskräftig.

Erstmals mehr


als 40Prozent


Frauenanteil im Kantonsparla ment
mitSchweizerRekordmarke

jow.· Auf eidgenössischer Ebeneist
der Frauenrutsch nach dem Frauen-
streik vom Sommer und denWahlen
vom Herbst bereits Geschichte. Sowohl
im Stände- wie im Nationalrat sitzen
so vieleParlamentarierinnen wie nie
zuvor. Allein in der grossen Kammer
haben dieFrauen 20 Sitze dazugewon-
nen, ihr Anteil beträgt dort rund 42 Pro-
zent. Insgesamt sind von den246 Parla-
mentsmitgliedern 95 weiblich.Auch die
Zürcher Delegation in Bern ist weib-
licher geworden, 16 von 35 Sitzen be-
legenFrauen (Steigerung von unter 33
auf rund 46 Prozent).
Der Kanton Zürich übernimmt
nun am nächsten Montag eine Vor-
reiterrolle. Mit dem Amtsantritt von
drei neuen Kantonsrätinnen steigt
der Frauenanteil ineinem Schweizer
Kantonsparlament erstmals auf über
40 Prozent, wie dieParlamentsdienste
in einer Medienmitteilung vomFrei-
tag schreiben. Die 44-jährige Schul-
leiterin Nora Bussmann Bolaños (gp.,
Zürich), die 55-jährige Historikerin
Corinne Hoss-Blatter (fdp., Zollikon)
und die59-jä hrigeBerufsschullehre-
rin Wilma Willi (gp.,Windlach) rücken
nach für die zurückgetretenen Kathy
Steiner (gp., Zürich),Robert Brunner
(gp., Steinmaur) undPeter Vollenwei-
der (fdp., Stäfa). Neu politisieren nach
den Sportferien 73 Kantonsrätinnen
und 107 Kantonsräte imRat.

Schweiz–wasnun?


Mit MonikaBütler ,AndréaMaechler undKurt Schiltknecht


Es scheint,als habe Geld keinenWert mehr:Tiefst-und Negativ-
zinsengehören heutezur Normalität. Kann die Wirtschaft dauer-
haft mit «billigem» Geldangekurbeltwerden, oder bezahlen wir
in einigen Jahren die Rechnung dafür?Vorallem aberstellt sich
die Frage:KannunsereWirtsc haft s- und Gesellschaftsordnung
die Ärades Gratisgeldes unbeschadetüberleben?

Dienstags-Reihe
Landesmuseum Zürich
Dienstag,3.März 2020,18.30 Uhr
Tickets:www.landesmuseum.ch/dienstagsreihe
oder an derKasse des Museums
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