Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 WIRTSCHAFT 25


Virus verunsichert die Schweizer Industrie


Unternehmen wie Sulzer, Straumann und Schindler rechnen wegen des Krankheitsausbruchs in China mit Ertragsausfällen


DOMINIK FELDGES


Vor zweiWochen liessen sich die Chefs
von Schweizer Unternehmen im Zusam-
menhang mitdemAusbruch des neuarti-
gen Coronavirus noch kaum beunruhi-
gen. «DiesesVirus ist eine leichte Grippe.
Wir habenKundenbestellungen und ge-
nügend Mitarbeiter. Emswird ausliefern»,
sagte dieKonzernleiterin und Gross-
aktionärin der Chemiefirma aus Domat/
Ems, Magdalena Martullo-Blocher, an
der Bilanzmedienkonferenz.Auch beim
Urner IndustriekonzernDätwyler domi-
nierte Zuversicht.Das Management äus-
serte sich hoffnungsvoll, dass sichdieLage
noch imFebruar normalisieren werde.


Nur zu 40Prozent ausgelastet


Ems hält an der damaligen Einschät-
zung fest. Die Gruppe sei zu 100% lie-
ferfähig, ist aus der Zentrale zu verneh-
men. Doch schon vergangeneWoche
hatte mit Schindler einer der bedeu-
tendsten Schweizer Industriekonzerne
unmissverständlich seiner Besorgnis
Ausdruck verliehen. DerFirma drohten
Umsatzeinbussen im Umfang von meh-
reren hundert MillionenFranken, sagte
das Management des weltweit zweit-
grössten Lift- undRolltreppenherstel-
lers. DieseWoche haben mit Sulzerund
Straumann zwei bekannte Schweizer
Industrieunternehmen nachgedoppelt.
Der Pumpenhersteller Sulzer erklärte,
man arbeite zurzeit nur mit einer durch-
schnittlichenAuslastung von 40% in den
fünf chinesischenFabriken. Erst gut 60%
der für die Produktion kritischen Beleg-
schaft seien an ihre Arbeitsplätze zurück-
gekehrt. Zudem kämpfe man mit Proble-
men in der Beschaffung vonKomponen-
ten, weil dieTr ansportwege imReich der
Mitte noch immer vielerorts unterbro-
chen seien. Die Unterauslastung wird
nach Erwartung des Managements die
Erfolgsrechnung belasten, da die Löhne
an die Mitarbeiter in China weiter aus-
bezahlt würden. Zur Höhe der Ertrags-
minderung will sich dieKonzernführung
indes erst später äussern.
Bei Straumann, dem weltgrössten
Hersteller von Zahnimplantaten,ist das
Geschäft in China so gut wie zum Erlie-
gen gekommen. Private Zahnarztpraxen
sind laut dem Unternehmen landesweit
geschlossen. In den staatlichen Spitälern
würden nurNotfälle behandelt. Man
gehe davon aus, dassbisEnde Märzso
gut wiekeine Umsätze in China verbucht
würden. Dies wird Einnahmeausfälle von


30 Mio. Fr. oder mehr im ersten Quartal
des laufendenJahres verursachen,rech-
net derFinanzchefPeter Hackel vor.

GeschlossenePraxen


Gemessen aneinemUmsatz von rund
370 Mio. Fr., den dieBaslerFirma im ers-
tenJahresviertel 20 19 erreichte, sollte
diese Einbusse mehr als verkraftbar sein.
Allerdings hat man bei Straumannkeine
Ahnung, wann die Zahnarztpraxen in
Chinaihren Betrieb wieder aufnehmen
werden.LängereAusfälle wären auch
für das wachstumsstarke Unternehmen
eine Belastung; vor allem wenn sich die
Coronavirus-Epidemie, wie von Ärzten
befürchtet, stärker auf andere asiatische
Länder ausbreiten würde. Asien-Pazifik
war mit einem Plus von 22% im vergan-
genenJahr erneut dieVerkaufsregion der
Firma mit der höchsten Umsatzzunahme.
Die weitere Entwicklung abzuschät-
zen, fällt auch dem Chef der Klote-
ner Industriegruppe Phoenix Mecano,
RochusKobler, schwer. Es sei unmöglich,

den Geschäftsgang über das erste Quar-
tal hinaus zu prognostizieren.Für die ers-
ten drei Monate kalkuliert das Unterneh-
men, das unter anderem mechanische
Teile für Spitalbetten sowie Gehäuse
für verschiedene Industriekunden pro-
duziert, mitsinkenden Einnahmen in
China. DerFirma stehen in ihren drei chi-
nesischen Hauptwerken zurzeit nur 30%
der Kapazität zurVerfügung. Dies habe
vor allem damit zu tun,dassviele Ange-
stellte wegenReisebeschränkungenso-
wie wegen gesetzlich angeordneter Qua-
rantäne-Aufenthalte noch immer nicht in
derLage gewesen seien, ihre Arbeit wie-
der aufzunehmen, sagtKobler.

Noch keine Entlassungen


Phoenix Mecano hat im Zusammen-
hangmit dem amerikanisch-chinesi-
schen Handelsstreit sowie gestiege-
nenArbeitskosten schon im vergan-
genenJahr begonnen, die Produktion
imReich der Mitte auf wenigerWerke
zu fokussieren sowie stärker auf einen

alternativen Standort inVietnam zu
setzen. Gleichwohl will dieFirma dem
Landkeinesfalls denRücken zukehren


  • im Gegenteil: «China ist und bleibt für
    uns ein zentraler Produktionsstandort
    undAbsatzmarkt», betontKobler. Das
    Unternehmen plant denn auchkeine
    Personalabbaumassnahmen wegen der
    Auswirkungen des Coronavirus.
    Dasselbe gilt für Sulzer und Strau-
    mann sowie die Ostschweizer Industrie-
    gruppe SFS, die aus ihren dreiFabriken
    in China schwergewichtigKunden aus
    der Elektronikindustrie wie Apple be-
    liefert.Das Unternehmen beziffert die
    derzeitigeAuslastung in denWerken auf
    60 bis 90%.Jenach Standort sind 50 bis
    70% oder 70 bis 90% der Beschäftigten
    an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt.
    Die Produktion lässt sich laut der
    Firma zurzeit nur behutsam hoch-
    fahren.Das hat nicht nur mit den vie-
    len Abwesenheiten innerhalb der Be-
    legschaft zu tun, sondern auch mit Pro-
    duktionsausfällen bei denKunden. Wie
    die meisten Zulieferer ist der Herstel-


ler von hochpräzisen Metallteileneng in
die Planung seiner Abnehmer eingebun-
den. Aus demselbenGrund kann SFS
laut eigenen Angaben auch nichtein-
fach aufFertigungsstandorte in ande-
ren Ländern ausweichen.«Aufgrund der
Freigabeprozesse unsererKunden wäre
dies kurzfristig nicht möglich», sagt ein
Unternehmenssprecher. Auch bei SFS
ist man sich nicht im Klaren darüber,
wann sich die Situation in China zu nor-
malisieren verspricht: Dies hänge von
vielenFaktoren ab, deren Entwicklung
man zurzeit nicht einschätzenkönne.

Stresstest fürUhrenbranche


Die Unsicherheit darüber, wie lange das
neuartige Coronavirus noch die welt-
weit zweitgrössteVolkswirtschaft läh-
men wird, beschäftigt zunehmend auch
Investoren. Unter Anlegern scheint sich
die Überzeugung durchzusetzen, dass
vor allem Industriefirmen unter Um-
satzeinbussen und Ertragsausfällen
mangels Nachfrage sowie wegen Proble-
men in der Lieferkette leiden dürften.
Besonders kritisch wird die Situation
der Schweizer Uhrenbranche bewertet,
die in den vergangenenJahren massgeb-
lichvon der anhaltenden Zunahme des
Wohlstands chinesischer Konsumen-
ten profitiert hat. Analytiker der ZKB
gehen davon aus, dass «zumindest im
Februar praktischkeine Uhren» mehr
nach China und Hongkong exportiert
werden dürften. Die Aktien der beiden
BranchenschwergewichteSwatchGroup
und Richemont zählen mitKursverlus-
ten von rund 8 bzw. 5% denn auch zu
den Hauptverlierern an der Schweizer
Börse seit AnfangJa hr.
Eine schwere Hypothek ist der ab-
rupte Abschwung der chinesischenWirt-
schaft auch für die Schweizer Maschi-
nenindustrie. Die Coronavirus-Epide-
miekomme zu einem «schlechten Zeit-
punkt», weil der Geschäftsgang bei
vielen Mitgliedsfirmen schon vorher
durch eine globale Nachfrageschwäche
sowie die erneute Erstarkung desFran-
kens beeinträchtigt wordensei, konsta-
tiert der BranchenverbandSwissmem.
Zugleich hält sein Geschäftsführer Ste-
fan Brupbacher den Zeitpunkt für ver-
früht, um beurteilen zu können, ob
Industriefirmen ihre Lieferketten neu
ausrichten werden.Jelänger die Epi-
demie daure,desto eherkönnten sich
Unternehmen aber zu Anpassungen
veranlasst sehen,gibt er zu bedenken.
«Reflexe», Seite 34

Angestellte in einem Sulzer-Werk in Schanghai. Vi ele Fabriken in China arbeiten mit gedrosselter Kapazität,weil dasPersonal nicht
an die Arbeitsplätze zurückkehren kann. NELSON CHING / BLOOMBERG

Italien befürchtet ein «schwarzes Jahr für den Luxus»


Die Mode- und die Tourismusbranche bekommen di e Folgen des Co ronavirus hart zu spüren


ANDRESWYSLING,ROM


DieFashion-Week in Mailand findet
mit einer starkreduzierten chinesischen
Präsenz statt. Etwa 800 von 10 00 Käu-
fern undVerkäufernaus China hätten
abgesagt,wird berichtet.Undschonvor-
her mussten italienische (und auch an-
dere) Hersteller vieleVerkaufsläden
in China zusperren. Hier müssten sie
ihre Modeartikel an dieKundinnen und
Kunden bringen, denn das Anschauen,
Anfassen und Anprobieren spielen im
oberen Preissegment immer noch eine
wichtigeRolle. Dieser Markt funktio-
niert nur sehr beschränkt im Internet.
Ein schwererRückschlag für die Ge-
schäfteistabsehbar. Bereits ist dieRede
von einem «schwarzenJahr für den
Luxus». Die Mode- undTextilbranche so-
wie die Luxusgüterbranche Italiens haben
im letztenJa hr einen Umsatz von etwa
90 Mrd. € erzielt. Waren für 71 Mrd.€
wurden exportiert, etwa einViertel da-
von nach China; der Exporterlös stieg im
Vergleich zumVorjahr um 6%.
Direkt betroffen von der Epidemie
ist auch derTourismus. Nicht nur sind
derzeit trotz der Modewoche die Hotels
in Mailand nicht ausgebucht, weil die
Geschäftsleute fehlen.Vor allem dürf-


ten für mehrere Monate viele chinesi-
scheReisegruppen ausfallen.Das be-
trifft dann vor allem das Gastgewerbe
in Mailand,Venedig, Florenz undRom.

Keine Flüge mehr ausChina


Italien hat AnfangFebruar als einziges
europäischesLand die völlige Einstel-
lung des Flugverkehrs mit China verfügt.
DerTourismusverband erklärte darauf,
man solle aufPanikmache verzichten. Zu
rechnen sei mit einemAusfall von – min-
destens – 30% der chinesischenTouris-
ten und von über 13 Mio. ausländischen
Gästen insgesamt. Das bedeute Minder-
einnahmen von 1,6 Mrd. € in der Branche,
und eskönne noch schlimmerkommen.
Über 6 Mio. Gäste aus China besuch-
ten Italien laut vorläufigen Angaben im
Jahr 2019, imJahr waren es insgesamt
knapp 430 Mio. Gäste. Die chinesischen
Touristen, vorwiegend Angehörige der
Oberschicht ihresLandes, geben wäh-
rend ihresAufenthalts auch einiges Geld
aus, sie zeigen sich deutlichkonsumfreu-
diger als Besucher aus der Europäischen
Union. Das Ausbleiben von chinesischen
und anderenTouristen dürfte wiederum
besonders in den Kleider-, Schuh- und
Schmuckläden spürbar werden.

Doch das Coronavirus betrifft nicht
nur das Geschäft mit denAusländern,
sondern auch die innerenVerhältnisse
Italiens.Mailand hateine chinesische
Gemeinschaft von 40 00 0 Personen, in
der ganzen Lombardei sind es 70 000
und 300 000 in ganz Italien. Sie arbeiten
nicht zuletzt gerade in der Modebranche.
Mafiöse Zustände und ausbeuterische
Verhältnisse im «pronto moda» vonPrato,
in derToscana, waren vor einigenJahren
ein grossesThema in den Medien. Man
erfuhr: «Made in Italy» wird zumTeil in
chinesischenSweatshops hergestellt. Chi-
nesischeKunden in China kaufen Klei-
der und Handtaschen, die in Italien mög-
licherweise von Chinesen in chinesischen
Betrieben unter sozusagen chinesischen
Bedingungen hergestellt wurden.
Die chinesischenRestaurants in Mai-
lands Chinatown melden wegen des
Coronavirus einen starkenRückgang an
Kundschaft. Bis zu 70% der Plätze blie-
ben leer, heisst es. Nicht zuletzt in den
Restaurants findet derKontakt zwischen
den italienischen Einheimischen und den
chinesischen Einwanderern statt. Ein
andererKontaktpunkt sind die Schulen.
Italienische Eltern forderten deshalb in
Mailand denAusschluss der chinesischen
Kinder vom Schulunterricht.

Die Meldungen über gelegentliche
Äusserungen von unverhülltemRassis-
musgegenüber Chinesen führten zuMiss-
trauenin derGesellschaft und zueiner
deutlichen diplomatischenVerstimmung
zwischen Italien und China. Unter den in
Italien ansässigen Chinesen mache sich
Panik breit,nicht wegen des Coronavirus,
sondern wegen der Angriffe, verlautete
aus der chinesischen Botschaft inRom.

AuchAngstvirus breitet sichaus


Zeitweise laufen auf den Nachrichten-
portalen«Viren-Ticker», und in den
so zialen Netzwerken brodelt die Ge-
rüchteküche. Das führt zu Ansteckun-
gen mit dem Angstvirus. In den Hoch-
geschwindigkeitszügen der «Freccia
rossa» tragen Leute mit italienischem
Aussehen Gesichtsmasken, einAcces-
soire, das sonst eher in asiatischen Ge-
sellschaften verbreitet ist. Vor Fake-
News wird gewarnt.
Jüngst wurden aus Mailand sechs
Fälle von Ansteckungen mit dem
Coronavirus gemeldet, die innerhalb Ita-
liens erfolgten. Ein Erkrankter musste
in Intensivpflege gebracht werden. Die
Ansteckungskette begann nach ers-
tenVermutungen bei einemRückkeh-

rer aus China, doch das ist nicht sicher.
Es wird befürchtet, dass es noch weitere
Fälle gibt. SiebzigPersonen, die mit den
Tr ägern desVirusKontakt hatten, wur-
den vorsorglich in Quarantäne gesetzt.
Man habe schnell gehandelt, unterstrei-
chen die Behörden.
Zuvor waren in Italien drei ange-
stecktePersonen identifiziert worden,
sie kamen alle aus China. Falschen
Alarm gab es EndeJanuar auf einem
Kreuzfahrtschiff, das in Civitavecchia
beiRom angelegt hatte. Über fünfzig
Personen, die aus China zurückkehrten,
wurden für achtzehnTage auf einem
Militärgelände isoliert und dannentlas-
sen; sie sind nichtTr äger desVirus. Dort
sollen demnächst weitereVerdachtsfälle
einquartiert werden, italienischeTou-
risten von einem Kreuzfahrtschiff mit
Coronavirus-Befall inJapan.
Zwischen vielen besorgniserregen-
den Meldungen gab es auch eine, diein
Italien mit Genugtuung aufgenommen
wurde. Es war eine Gruppe von italie-
nischenForscherinnen an der Spallan-
zani-Klinik inRom, die das Corona-
virus erstmals isoliertenund damit die
Forschung auf der Suche nach Abwehr-
massnahmen um einen entscheidenden
Schritt voranbrachten.
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