Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 22. Februar 2020 Samstag, 22. Februar 2020 ITERATUR UNDKUNST


Robert Musil


teilte sich


die Mutter mit


dem Vater und


ihrem Liebhaber


Die Eltern d es Schriftstellers führten üb er lange


Jahre eine Ménage-à-trois. Das Kind geriet


dadurch wieder holt in Konflikte, für die Literatur


war es ein Gewinn.Von Karl Corino


Der SchriftstellerRobert Musil in einer um dasJahr 1930 entstandenenAufnahme. ULLSTEIN

ImJuli 1888 macht dieFamilie Musil
samt Hausfreund einenAusflug zum
Achensee. Davon gibt es eineFotogra-
fie , die wie ein Soziogramm derFami-
lie wirkt: der Hausfreund, der Gewerbe-
lehrer HeinrichReiter, thront in der
Mitte des Bildes, in Tu chfühlung zu sei-
nerRechten Hermine Musil, in deren
Rock er sein Knie bohrt, imHintergrund
stehend Alfred Musil, bis zur Brust ver-
decktvom Galan, undals linker Flügel-
mann der kleineRobert Musil, knapp
achtjährig, in SteyrerTracht, mit einem
langen Stock und ziemlich finsterer
Miene, sichtlich verdrossen in der Nähe
dieses Mannes, an den er sich zu lehnen
und den er Onkel Heinrich zu nennen
hat, obwohl eskeine Blutsbande gab.
«Er war nicht wirklich einVerwand-
ter , sondern einFreund beider Eltern,
einer jener Onkel, welche die Kin-
der vorfinden, wenn sie dieAugen auf-
schlagen», heisst es in«Tonka» sibylli-
nisch von Hyazinth, einem Spiegelbild
HeinrichReiters. DieFreundschaft der
Eltern Musil zu dem Besagten rührte
aus denJahren1881/82, als Alfred Musil
Leiter der Mechanischen Lehrwerk-
stätte inKomotau undReitersVorge-
setzter war, und sie überdauerte dessen
Versetzungen nach Steyr und Brünn.
Es scheint so, als habe Hermine
«g egen ihrenTy p» geheiratet. «Mein
Va ter: ein etwas ängstlicher Mensch,
derkeineTodesfurcht kannte. Er ist
nicht feig gewesen, sondern, was eben
dieWortesagen: ängstlich oder furcht-
sam.Was heisst das übrigens? Eine wei-
che, einschüchterbare Anlage, und darü-
bergelagerte höhere Dispositionen.» So
schreibtRobert Musil über seine Eltern.
«Sie hat meinenVa ter geschätzt, aber er
hat nicht ihren Neigungen entsprochen,
die anscheinend in der Richtung des
männlichen Manns gegangen sind.»


Ein Fall fürden Psychiater


Alfred Musil ritt zwar in seinerJugend,
was ja auch einen gewissen Mut ver-
langt, aber er warkein Jäger undFischer
wie Hermines Brüder, deren wilde Ge-
schichten man in derFamilie Bergauer
noch in den1960er Jahren erzählte.
Diesem romantischen Männerideal
entsprach der grosse, stattliche Hein-
richReiter sehr viel mehr als der etwas
schüchterneTe chniker Alfred Musil.
Und für das KindRobert ergab sich ein
merkwürdigesRätsel: DerVa ter war
Reiter, aberReiter war nicht derVa ter.
Den Alltag mit Hermine zu leben,
wird nichteinfachgewesen sein. DieFrau
Direktor war im Grunde einFall für den
Psychiater. «Grosse nervöseReizbarkeit;
Heftigkeit u.Weiterbohren einesReizes
bis zumAusbruch. Heftigkeit übergehend
in Weinkrampf. Abhängigkeit dieserVor-
gänge von inneren.Auf gesteigert glück-


liche oder verhältnismässig harmonische
Ta ge folgte unweigerlich ein zumAus-
bruch treibender. Der Zusammenhang
mit ihrer Ehe unklar... Späterhin hyste-
roide Züge. Aber auffallenderweise ohne
Lüge, auch ohneTheatermachen. Also
wohl eher ein nervöses Nichtzurecht-
kommen mit etwas, das zur krampfartigen
Reaktion geführt hat, wie esbei schwa-
chenPersonen auch ohne Hysterie vor-
kommt.In dieserArt ein Kampf um meine
Sohnesliebe und Sohnesbewunderung.»
Unter diesen Umständen drohte jede
familiäre Debatte in eine Katastrophe
und in Sturzbäche vonTränen zu mün-
den. Sokratische Dialoge mit schritt-
weiser Annäherung an dieWahrheit
waren im HauseMusil offenbar nicht
möglich.Woso nahe ansWasser gebaut
war, dürfte das eheliche Gespräch bald
ausgetrocknet gewesen sein und sich auf
Selbstverständlichesbeschränkt haben.
EineAusnahme muss es indes ge-
geben haben. EinReligionsgespräch
wie in «Faust», derSzene «Marthens
Garten». Es gelang Alfred, den bei den
Bergauers hergebrachten Katholizis-
mus zu zersetzen und seine Hermine auf
den Materialismus derTe chniker einzu-
schwören: Hinfort glaubten sie gemein-
sam nicht mehr an dieAuferstehung des
Fleisches und das ewige Leben.

Der Rivaledes Sohnes


Mag das metaphysische Interesse damit
erloschen sein, es blieben Musik und
Literatur. Hermine besass einen Blüth-
ner-Flügel, den siemitgehobenem Ama-
teurniveau traktierte, und eine Hand-
bibliothek, bei welcher der Anschluss an
die Gegenwart nicht gänzlich verloren
war wie – so das Urteil des Sohnes – bei
der Büchersammlung ihres Gatten.
Hermine las und ermunterte ihren
Sohn, zu lesen und zu schreiben, etwa
indem sie ihm Bücher des Schweizer
Autors Ernst Zahn schenkte. Nicht von
ungefähr bedankteRobert sich bei ihr
imJuli 1904 während eines Genesungs-
urlaubs amWörthersee für «10-jähri-
ges, verdienstvolles Zusammenwirken».
ZweiFerienaufenthalte inPörtschach
1904 und1906 mit der Mutter ohne
HeinrichReiter scheinen zu den selte-
nenglücklichen, nicht vonEifersucht ge-
trübten Phasen gehört zu haben.
Wohlwissend um die heftigen Rivali-
tätsgefühle des Sohnes, machte Hermine
ihm einesTages das Geständnis, «wieso
H[einrich]. zu dem einzigen Inhalt ihres
Lebens wurde. Bis dahin war zwischen
R.[obert] und ihr Chicane (hauptsäch-
lich wegen He[inrich]). Nun zerbricht
dies, wie er sie anders ansehen muss.»
Auf denTag genau lässt sich nicht sa-
gen, wann sich das zugetragen hat, aber
es liegt auf der Hand, dass die Beziehung
zwischen Hermine Musil und Heinrich

Reiter eine andere Qualität bekam, als
er sich zurJahrhundertwende von der
Staatsgewerbeschule Bielitz nach Brünn
versetzen liess und dort die Maschinen-
fächer unterrichtete. Aus einer Sommer
für Sommer aufgefrischtenFerienbe-
ziehung wurde eine ArtReserve-Ehe.
Reiter war nun täglich verfügbar, zwar
immer mit eigenenWohnungen,aber ihr
zuhanden wie ein Gatte zur Linken.
Dies fiel umso mehr ins Gewicht, als
Alfred Musil immer weniger Zeit hatte
für seineFrau. Seit der Übernahme der
Professur für Maschinenbau an der TH
Brünn imJahr 1890 wurde er mitAufga-
ben überhäuft. Er warRat desPatent-
gerichtshofs, beeideter Sachverständiger
desLandesgerichts, Mitglied der Prü-
fungskommission für behördlich auto-
risierte Maschineningenieure, Mitglied
derAutomobil-Prüfungskommission für
Mähren, 1894 bis1896 Dekan der Ab-
teilung für Maschinenbau und Elektro-
technik, im Studienjahr1897/98Rektor
und1905/06Rector magnificus derTe ch-
nischen Hochschule.

Freie Bahnfür den Lieb haber


Daneben entwickelte er eigenePatente,
etwa zur Steuerung von Tu rbinen,
schrieb und übersetzte Lehrbücher und
machte in den Sommerferien Studien-
reisen nach Deutschland oder England.
Und wenn er wirklich einmal ein we-
nig freie Zeit hatte, malte er –Porträts
im akademisch-realistischen Stil oder
mythologischeLandschaften mit bogen-
schiessendem Amor und Schwänen. Ein
einsames Geschäft auch dies.
Die übermässige Beanspruchung
Alfred Musils überliess Gevatter Hein-
rich sozusagen ein gemähtesWieslein, er

war ein Mann ohneWerk, diente wohl
routiniert seine Unterrichtsstunden ab,
ging auf dieJagd und liess sich mit 54
Jahren pensionieren.Dablieb genug
Zeit für Minnedienst und fürReisen mit
Hermine –notfalls mitRobert als unbe-
quemem Dritten.Wie man sich eine sol-
cheTour vorstellen kann, lässtsich wohl
der Novelle«Tonka» entnehmen – mit
Hyazinth als dem nur leicht kaschierten
Double HeinrichReiters.
Einmal «war die Mutter auf einer
Reise unwohl geworden, und Hyazinth,
der an ihrer Statt demVa ter schreiben
musste, fragte unlustig: was soll ich denn
schreiben? – er, welcher der Mutter bo-
genlange Episteln bei jederTrennung
schrieb! –: da gab es Zank, denn der
Junge war wieder böse geworden, das
Unwohlsein der Mutterverschlimmerte
sich, schien gefährlich zu werden, man
musste helfen, Hyazinths Hände kreuz-
ten dabeiimmerzudieWege der seinen,
und immerzu stiess er sie weg. Solange,
bis Hyazinth fast traurig fragte: ‹Warum
stösst du mich denn fortwährend weg?›
Dawarer über denTon des Unglücks
in dieser Stimme erschrocken. So wenig
weiss man, was man weiss, und will man,
was man will.»
Mit dem zu Ende gehenden19. Jahr-
hundert ergab sich aufgrundkörper-
licher Beschwerden Hermines, konkret
wegen Arthritis in den Beinen, eine
neue Konstellation, auchin eroticis.
KleistsFormulierung von den Knien des
Herzens gewann unerwartete Aktuali-
tät. Alfred liebte in seinenFerientagen
Bergwanderungen. Herminekonnte ihn
nicht mehr begleiten und kurte ab 1900
ziemlichregelmässig in der Kaltwasser-
Heilanstalt der Doktoren Hertzka und
Winternitz zuBad Ischl.
Anhand der Gästelisten lassen sich
die Spuren der Akteure ziemlich gut ver-
folgen. Es gabJahre wie1899, in denen
HerminePatientin bei Dr. Hertzka war,
Alfred undRobert im Hotel Stern Ischl
wohnten undReiter unterWahrung der
Dezenz im Hotel Zur Stadt Gmunden.
Bei anderen Gelegenheiten,1910 zum
Beispiel, logierte Alfred inAussee im
Hotel Kaiser von Österreich, während
Hermine undReiter ungeniert in der
Kuranstalt Alpenheim Unterschlupf ge-
funden hatten.
Ähnlich1911, als Alfred inAussee im
«ErzherzogJohann» logierte, während
Hermine undReiter imBadehotel Eli-
sabeth gemeinsame Sache machten.Da
capo1912, als Hermine undReiter er-
neut gemeinsam unter demDach dieses
Badehotels die Annehmlichkeiten der
Kur genossen. Alfred stapfte derweil,
quasi ausquartiert, durch die Berge von
Steinach am Brenner.
Niemand kann sagen, ob das Schwert
der Moral die Betten trennte. Ob Alfred
nolens volens denKuppler spielte? Der

Die übermässige
Beanspruchung
Alfred Musils überliess
Gevatter Heinrich
sozusagen ein
gemähtesWieslein.

Die Familie Musil mitdem Liebhaberder Mutter in der Mitte.PD

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