Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

44 SPORT Samstag, 22. Februar 2020


Erstmals seit 25 Monaten gewinnt Lara Gut-Behrami


wieder−und widerlegt die ZweifelSEITE 42


Der Servette FC gehört zu den besten Aufsteigern


seit Jahren. Und er stellt ei ne starke VerteidigungSEITE 43


Ein Stück Weltgeschichte


Der legendäre Sieg der amerikanischen Eishockeyspieler über die Sowjetunion an den Olympischen Spielen jährt sich zum 40. Mal


DANIEL GERMANN


Es war mehr als ein Eishockeymatch. Es
war einDuell zwischen zweiWelten und
Weltanschauungen: die USA gegen die
Sowjetunion, die freieWelt gegen den
Kommunismus. Ausgetragen auf einem
Eisfeld irgendwo im Norden des Glied-
staates NewYork. Die Rivalität zwi-
schen den beiden Grossmächten driftete
anscheinend unausweichlich auf eine
kriegerische Eskalation zu. Selten zu-
vor war der Kalte Krieg kälter gewesen.
Wochen zuvor war dieRote Armee
in Afghanistan einmarschiert, und die
Am erikaner hatten machtlos zusehen
müssen. Ihre Proteste verhallten wir-
kungslos. Das Ansehen der USA war
auf den Tiefpunkt gesunken. Inner-
lich zerrissen durch denVietnamkrieg,
den Watergate-Skandal und die darauf-
folgende Amtsenthebung von Präsident
Ri chard Nixon, gedemütigt durch das
Geiseldrama in der Botschaft inTeheran,
das zu beenden dieRegierung nicht im-
stande war, lagAmerikas Selbstbewusst-
sein am Boden. Ein schwererReaktor-
unfall im Kernkraftwerk vonThree
Mile Island nährte Zweifel an der tech-
nischen Überlegenheit. Der erste Golf-
krieg löste eine Erdölkrise aus. An den
Tankstellen, die noch Benzin verkauf-
ten, bildeten sich langeAutoschlangen.
Das Land steckte in einerRezession.
Und vor diesem politischen undwirt-
schaftlichen Hintergrund begannen in
Lake Placid, einem verschlafenen Nest
mit kaum 2000 Einwohnern, die Olym-
pischenWinterspiele, die in jenem Eis-
hockeymatch gipfeln sollten,der heute
nicht nur Sport-, sondern auch ein we-
nig Weltgeschichte ist.
Es war ein ungleichesDuell: das er-
folgreichste Eishockeyteam der Ge-
schichte gegen eine Auswahl milch-
gesichtiger College-Boys, der grosse
Wiktor Tichonow gegen den unbekann-
ten Herb Brooks. Die Russen hatten zu-
vor die letzten vier Olympiaturniere ge-
wonnen. Sie traten inLake Placid mit
einerMannschaft an, die der legendäre
Verteidiger WjatscheslawFetisow spä-
ter gegenüberder Eishockey-Enzyklo-
pädie«Total Hockey» als «das beste
Team» bezeichnete, «das jemals in der
Sowjetunion zusammengestellt wurde».


Wie das «Wundervon Bern»


Der Erfolg derAmerikaner ging als
«Miracle on Ice»in die Geschichteein.
Der Ausdruck fusst auf demKommen-
tar einesTV-Reporters, der die letz-
ten Sekunden herunterzählte und sein
Publikum fragte: «Do you believe in
miracles?Yeees.» Es war einerjener
rare n Momente, in denen der zur Über-
höhung neigende Sport tatsächlich die
Welt bewegte: wie das«Wunder von
Bern», der Sieg der Deutschen an der
Fussball-Weltmeisterschaft1954 in der
Schweiz, die Boxkämpfe von Muham-
mad Ali in den1970erJahren gegen
GeorgeForeman undJoe Frazier, der
Weltmeistertitel des südafrikanischen
Rugbyteams1995 im eigenen Land.
Wie diese hob sich das «Miracle on Ice»
von anderen sportlichen Ereignissen ab,
weil es eine gesellschaftspolitische Be-
deutung hatte. Oder um die Einleitung
einerein stündigenTV-Dokumentation
zu zitieren: «Eine Gruppe von Halb-
wüchsigen gab einerganz en Nation den
Stolz auf ihreFahne zurück.»
Der Sport lebt vomPathos. Super-
lative wie «sensationell», «unfassbar»
oder «historisch» geniessen gerade in
der marktschreierischenWelt desFern-
sehens inflationäre Beliebtheit. Doch
das «Miracle on Ice» war tatsächlich
ein Wunder – nicht nur weil die sowje-
tische Nationalmannschaft des legendä-
ren TrainersWiktor Tichonow im inter-
nationalen Eishockey als praktisch un-


besiegbar galt. Sondern auch, weil das
Team, das der Coach Herb Brooks zu-
sammengestellt hatte, zu einem gros-
sen Teil aus Spielern der rivalisierenden
Universitäten aus Boston und Minne-
sota bestand,die in den ersten Monaten
ihrer siebenmonatigenVorbereitung auf
das Olympiaturnier ihre Animositäten
im Trainingslager fortsetzten.
Brookslöste die inneren Spannun-
gen, indem er sich selber zumFeind-
bild der Spieler machte. Er hielt Distanz
und überliess dieRolle desKumpels
seinem Assistenten CraigPatrick. Der
Coach war ein blendender Rhetoriker

und Psychologe, der dieSpieler mit ge-
zielten Provokationen herausforderte.
Noch kurz vor dem Beginn des Olym-
piaturniers drohte er Mike Eruzione,
den Captain und vor allem neben dem
Feld wichtigsten Einzelspieler, aus dem
Team auszuschliessen. Er signalisierte
demRest der Mannschaft damit: Seht
her, bei mir stehtkeiner über demKol-
lektiv.
Brooks’ Methoden passen kaum
mehr ins 21. Jahrhundert. Doch inmit-
ten der politisch aufgeheizten Atmo-
sphäre traf er den richtigenTon. Immer
wieder pickte er einen Spieler heraus

und fragte ihn:«Wie heisst du?» Und:
«Für wen spielst du?» Die Spieler pfleg-
ten mit den Namen ihrer College-Teams
zu antworten, von denen sie stammten.
Seine gefürchteten Drills gipfelten in
einem mitternächtlichen Straftraining
in Norwegen. Nacheinem3:3 in einem
Testspiel schickte Brooks die Spieler zu-
rück aufs Eis und liess sie die gefürchte-
ten Linienstopps machen,die unter dem
Spit znamen «Herbier» legendär gewor-
den sind und die heute jeder Amateur-
spieler auf derWelt kennt. Er hetzte
die Mannschaft von derroten Linie
zur blauen Linie und wieder zurück.

Immer wieder. Selbst als der Eismeister
das Licht in der Halle ausschaltete und
nach Hause ging, setzte er den Drill fort.
Nach einer Stunde fragte er Eruzione:
«Für wen spielst du?» Und der presste
entkräftet hervor:«Für die USA.»
Eruzione, ein Sohn italienischer Ein-
wanderer, wurde zum Gesicht dieser
technisch limitierten,dafür aber so umso
leidenschaftlicher kämpfenden Mann-
schaft, die Grenzen niederriss und an
ih rer Aufgabe wuchs. Noch dreiTage
vor dem Start der Spiele inLake Pla-
cid verlor Brooks’Team denletztenTest
im NewYorker Madison Square Gar-
den gegenTichonowsRussen 3:10. Die
Kommentatoren waren sich einig, dass
das Resultat noch das Beste an der Leis-
tung war und der Match gut und gerne
auch 0:30 hätte endenkönnen.

Witze über Tichonow


Doch Brooks’ grösste Stärke wares
wahrscheinlich, seinen Spielern den
Glauben zu geben, selbst diese schein-
bar übermächtigenRussen schlagen zu
können. Er tat es unter anderem, indem
er sich in der Garderobe über dieFri-
sur vonTichonow lustig machte und den
Teamcaptain Boris Michailow wegen
seines clownesken Gesichtsausdrucks
mit dem britischenKomiker StanLau-
rel verglich.In einem Interview mit dem
amerikanischen Magazin «Sports Illus-
trated» erzählte Brooks später, die Rus-
sen seien bereit gewesen, sich selber die
Kehle durchzuschneiden. «Doch wir
mussten für sie das Messer aufheben
und es ihnen in die Hände drücken.»
SeineRede vor dem Match gegen die
Sowjets ist legendär: «Grosse Momente
entstehen aus grossen Möglichkeiten.
Und genau eine solche habt ihr heute.
Dafür habt ihr gearbeitet. Ein Spiel.
Wenn wir zehnmal gegen sie antreten,
dann werden sie wahrscheinlich neun-
mal gewinnen. Aber nicht dieses Spiel,
nicht heute Abend.Ihr seid geboren
worden, um Eishockeyspieler zu wer-
den. Und es ist eure Bestimmung, heute
hier zu sein.Es ist eure Zeit. Ihre ist ab-
gelaufen.»
Brooks sagte «Sports Illustrated», die
Spieler hätten ihn angesehen wie einen
Ausserirdischen. Doch er behieltrecht.
Die Russen hatten nicht mit demWider-
stand gerechnet.Fetisow erzählte«To-
tal Hockey»: «Niemand von unsrech-
nete damit, diesen Match zu verlieren.
Das lag ausserhalb unsererVorstellung.»
SelbstTichonow wurde von der Leiden-
schaft derAmerikaner überrumpelt und
beging einen schweren Coachingfehler.
Nach einem Drittelersetzte erdenWelt-
klassetorhüter Wladislaw Tretjak durch
Wladimir Myschkin.Fetisow sagte:«Wir
sassen in der Kabine und verstanden
nicht, was geschah.»
Es war schon fast zu viel desPathos,
zu viel Kitsch, dass es Eruzione war, der
genau zehn Minuten vor dem Ende des
Matchs das 4:3 erzielte. Myschkin griff
bei einem nicht sonderlich gefährlichen
Schuss daneben. Tichonows perfekt
organisierte Eishockeymaschine zer-
fiel danach in ihre Einzelteile. Wie eine
ganz gewöhnlicheMannschaftrannten
die Sowjets gegen die Niederlage an.
Zunehmend verzweifelt,kopflos.
Eruziones 4:3 und vor allem sein
exzessiverJubel wurde zu einer der
meistwiederholten Sequenzen der ame-
rikanischen TV-Geschichte. «Sports
Illustrated» zeichnete denTreffer spä-
ter – nationalistisch gefärbt – als bedeu-
tendsten Sportmoment des 20.Jahrhun-
derts aus. Ganz am Anfang, als Herb
Brooks die im Prinzip unmögliche Mis-
sion übernahm, hatte er seinen Spielern
gesagt. «Ihrdürft gegen sie nicht ver-
teidigen,sonst werdet ihr überrollt. Ihr
müsst sie angreifen.» Er überrumpelte
damit alle. SelbstWiktor Tichonow.

Was aus den Olympiahelden von Lake Placid wurde


Jim Craighielt beim 4:3 über die Sowjet-
union 36 von 39 Schüssen und war ein
Schlüsselspieler beimTriumph.Dennoch
bestritt der Goalie später nur30 NHL-
Spiele undtrat mit 27Jahren zurück.

Ken Morrow wechselte unmittelbar
nach den Olympischen Spielen zu den
NewYork Islanders und gewann als ers-
ter Spieler in einer Saison Olympiagold
und den Stanley-Cup.

Mike Ramseywar mit19 Jahren der
jüngste Spieler im US-Team. Er bestritt
später 1070 NHL-Spiele und trat mit 37
Jahren zurück.

Mike Eruzionewar der Captain des US-
Teams und erzielte beim 4:3 gegen die
Sowjetunion den Siegestreffer. Obwohl
nicht gedraftet, erhielt er danach einAn-
gebot der NewYork Rangers. DochEru-
zionesagt e, er habe mit dem Olympia-
sieg den Höhepunkt seiner Karriere er-
reicht, und trat mit 25Jahren zurück.

Mark Johnsonerzielte zwei der vierTref-
fer beim Sieg gegen die Sowjetunion. Er
bestritt 669 NHL-Spiele für fünf verschie-
deneTeams und liess seine Karriere in
Mailand und Zell am See ausklingen.

Neal Brotenkam in17 Jahren auf 1234
NHL-Spiele und war der erfolgreichste
Spieler aus dem Olympiateam.Als erster
Amerikaner sammelte er in einer NHL-
Saison über 100 Skorerpunkte. 1995 ge-
wann er mit NewJersey den Stanle y-Cup.

Bob Suterschlug unmittelbar nach dem
Olympiaturnier ein Angebot der Los
Angeles Kings aus und beendete seine
Karriere mit 25 Jahren, ohne einen
NHL-Match bestritten zu haben.

MarkWellsschaffte es nicht in die NHL
und trat zweiJahre nach dem Olympia-
sieg zurück. Nach einem Arbeitsunfall
wurde bei ihm eine seltene degenerative
Erkrankungan derWirbelsäule diagnos-
tiziert.Er geriet in finanzielle Schwierig-

keiten und verkaufte 2010 seine Gold-
medaille für 40000 Dollar an einen
Sammler. Der versteigerte sie später an
einerAuktion für 310700 Dollar.

MarkPavelich, John Harrington und
Buzz Schneiderwech selten in der Saison
nach dem Olympiasieg in die Schweiz und
spielten für den HC Lugano (Pavelich,
Harrington) und den SCB (Schneider).

Dave Christianunterschrieb nach dem
Olympiasieg bei denWinnipegJets und
hält denRekord fürs schnellsteTor eines
NHL-Neulings. Er traf in seinem ersten
Match nach sieben Sekunden.Nach 1111
NHL-Spielen trat er 37-jährig zurück.

Herb Brooks übernahm nach dem
Olympiasieg den HCDavos, wurde dort
aber im Dezember vonWalter Dürst ab-
gelöst. Später wurde er Headcoach der
New York Rangers und der NewJersey
Devils. 2003 kam er bei einemVerkehrs-
un fall ums Leben. gen.

Die Sensation ist geschafft:Am 22.Februar 1980 besiegt das US-Eishockeyteam die«unschlagbaren» Russen. FOCUS ON SPORT / GETTY
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