Samstag, 22. Februar 2020 LITERATUR 53
Grossmutter hatte den
ganzen Tag schweigend
gelächelt, bis siedann
einen Satz in Deut sch
an mich richtete :
«Es freu t mich sehr,
dassSie uns besuchen.»
Als ich in jenemJahr aufbrach und unter
mir das Flughafengebäude vonWien-
Schwechat immer kleiner werden sah,
stellte ich mir meine Eltern vor, wie sie
still nebeneinanderstanden und hinauf-
blickten, bis der Punkt am Horizont ver-
schwunden war. Norwegen und meine
norwegische Gastfamilie sind bis heute
Teil meines Lebens geblieben.
Italienisch war dann die Sprache, die
nach achtJahrenLatein im Gymnasium
in ihrer verspielten Helligkeit wie eine
Befreiung erschien, nachdem mich die
zu übersetzenden Zeilen von Cäsars «De
bello Gallico» und der «Metamorpho-
sen» Ovids während der Schularbeiten
oft zu erdrücken gedroht hatten. Selbst in
der geschlossenen Abteilung der psych-
iatrischen Klinik in der Nähe von Mai-
land, wo ich einigeWochen hospitieren
sollte, war für mich durch den Klang der
Sprache eine fröhlicheWärme spürbar.
Was gibt es Behaglicheres, als am
Mittagstisch meinerFreundin inPavia
zu sitzen und den Diskussionen ihrer
beiden pubertierendenTöchter über die
Europazugehörigkeit Italiens und das
dadurch beschleunigte Ende der Mafia
zuzuhören, während lauwarmerTinten-
fischsalat mit Stangensellerie und Kar-
toffeln serviert wird?
Und immer wieder dieFahrten von
Innsbruck aus über dieGrenze nach Süd-
tirol und weiter nach Mailand und Flo-
renz,wobei die südländisch aussehen-
den Grenzwächter mit ihren Maschinen-
gewehren im Anschlag jedes Mal einen
zwiespältigen Eindruck hinterliessen,
als ob sie ihre in meinenAugen über-
triebene Uniform selbst nicht besonders
ernst nehmen würden, sondern in einem
landesweitenTheaterstück mitspielten,
dessen besteDarsteller am Ende desJah-
res einen Orden erhielten, auf den dann
ihre Mütter stolz seinkönnten.
In meiner grenzenlosen Naivität
oder auch in der Art junger Menschen,
Grenzen zu übersehen, hatte ich meinen
Hund imAuto, einen tapsigen Leonber-
ger, als mich der österreichische Grenz-
wächter auf derRückreise von Italien
aussteigen hiess und mir unmissver-
ständlich mitteilte, ich hätte denWel-
pen zu verzollen oder er würde augen-
blicklich beschlagnahmt. Nachdem ich
ihn zweiWochen zuvor von einem deut-
schen Züchter in der Nähe vonFreiburg
imBreisgau geholt hatte,hatte ich auf
der Einreise nach Österreichvergessen,
ihn offiziell über den Zoll einzuführen.
Es handelte sich also noch immer um
einen deutschen Hund.
Strassen erhaltenneue Namen
Es ist mir nicht genau erinnerlich, wann
in unserer kleinen österreichischen Pro-
vinzstadt die ersten sichtbarenVorbe-
reitungen für die Europazugehörigkeit
begannen, doch plötzlich gab es Akti-
vitäten auf unterschiedlichsten Ebenen
wie die Einladung von deutschen, fran-
zösischen oder italienischen Chören,
die dann in ihrenTr achten durch die
Altstadt marschierten, die Ortstafeln
wurden emsig ausgetauscht, mit dem
Namen derPartnerstadt versehen, und
die Europaflagge wurde gehisst.
Mit der Umbenennung eines Stras-
senabschnittes in Europaplatz in einer
Stadt, deren Plätze und Gassen neben
den üblichen für Österreich klassischen
Strassenbezeichnungen zu einem guten
Teil nach den gefallenen oder hingerich-
teten Schutzbundkämpfern der Gegend
benannt worden waren, begann nun
eine andere Zeit. DerKoloman-Wal-
lisch-Platz, dieJosef-Stanek-Gasse tru-
gen Namen, die erst später Gesichter
bekommen sollten, auf der Suche nach
Grossvaters Beteiligung an den Arbei-
terkämpfen desJahres1934 gegen die
christlich-faschistoide Diktatur unter
Dollfuss in Kapfenberg.
Grossvater hatte Glück gehabt, er
warnicht gefangen worden, musste nicht
überdieGrenzen Österreichs in die
Tschechoslowakei fliehen wie viele der
Schutzbundkämpfer, die von der inter-
nationalen Arbeiterhilfe in die Sowjet-
union geschleust worden waren. Später
im ZweitenWeltkrieg, unter Stalin, soll-
ten sie dort verfolgt, verschleppt oder
ermordet werden, weil man ihnen als
Deutschsprachige nicht traute.
Ich kann mir vorstellen, dass Gross-
vater, als dann schliesslich das österrei-
chische Bundesheer in der Steiermark
anrückte und dieLagefür dieSchutz-
bundkämpfer aussichtslos war, ein-
fach davongefahren ist.Vierunddreis-
sigJahre später sollte er mir im Hinter-
hof des Arbeitermietshauses, in dem ich
aufwuchs, auf seinem alten Puch-Waf-
fenrad dasFahrradfahren beibringen, es
war dasselbeFahrrad, auf dem er sich
aus den Kämpfen zurückgezogen hatte.
Mit dem Schengen-Abkommen gab
es mit einem MalkeineGrenzkon-
trollen mehr, kein Anhalten oder Su-
chen nach dem hoffentlich noch gülti-
gen Pass, keine durchdringenden Blicke
der Beamten am Zoll. Ich denke noch
mit Entsetzen an eineDurchreise durch
die DDR, als ich gemeinsam mit einem
Freund in den späten achtzigerJahren
während der Sommerferien im Studium
zu einer Nordlandreise aufbrach.Das
Anhalten an einem grotesk verschanz-
ten Übergang in diesesLand, das zwar
Deutschland war, aber doch auch wie-
der nicht, der Anblick der uniformier-
ten bewaffneten Männer mit ihren kal-
ten Gesichtern und den devoten Schä-
ferhunden an ihrer Seite beklemmt mich
noch heute.
Im europäischenKriegsgebiet
Jahre später passierte ich während des
Jugoslawienkrieges die Grenze zwischen
Slowenien und Kroatien, nicht ahnend,
welch martialisch anmutende Gestal-
ten mich nach ein paar Kilometern um
vier Uhr morgens an einem improvisier-
tenPosten in ihren zusammengestückel-
tenTarnuniformen auf einer Überland-
strasse in Istrien anhalten sollten. Ich
war auf derReise nach Lovran, einem
altenKurort der k. u.k Monarchie, der
mir vom Klang des Namens her vertraut
war und daher in meinerVorstellung
eine harmlose Destination schien. Doch
im Süden desLandes wurde immer noch
gekämpft, es war noch immer Krieg.
Grenzen eben, mit denen ich auf-
gewachsen bin und einenTeil meines
Lebens verbracht habe, in einem Europa
der Kleinteiligkeit, in einem Europa,
dessen Geschichte durch Grenzverschie-
bungen und Kriege, die darum geführt
wurden, überJahrhundertebestimmt
worden ist.Das Europa der unterschied-
lichen Sprachen,Landschaften undKul-
turen,dieallesamt ihren Charakter be-
wahrt haben.
Doch einTeil hat sich auch verändert,
einiges ist vielleicht auch verschwunden,
unwiederbringlich,Neues ist entstan-
den, mehrFreiheiten sind inzwischen
selbstverständlich.Ich werde weiterhin
Freundschaften pflegen und schliessen
über alleLandes- und Sprachgrenzen
hinweg, werde mit meinemReiseschach,
das mich bis jetzt treu begleitet hat, wei-
terhin über deutsche, französische, italie-
nische, griechische, belgische, niederlän-
dische, dänische, slowenische, kroatische,
tschechische, norwegische und englische
Landstrassen fahren und werde versu-
chen, den Rest Europas, den ich noch
nicht bereist habe, kennenzulernen.
Der Übertritt der Grenze nach Eng-
land war bereits durch das Besteigen
derFähre für mich immer etwas Be-
sonderes. Das Auftauchen der weissen
Kreidefelsen war die eindrücklichste
natürliche Grenze,die ich mir vorstel-
lenkonnte, wie sie sich majestätisch im
morgendlichen Nebeldunst aufrichtete,
doch eher zur Begrüssung als zur Ab-
wehr. Es verwundert mich noch immer,
wenn ich amFusse derFelsen von uni-
formierten Grenzbeamten in Empfang
genommen werde.
Die vielen Abschiede des Lebens
rbl.· Imkommenden Mai erscheintim
Luchterhand-Verlag Melitta Brezniks
neustes Buch. Es heisst «Mutter. Chronik
eines Abschieds» und klingt geradezu
wie ein spätes und vielleicht lange hin-
ausgezögertes Echo auf ihr Debüt. 1995
hatte Melitta Breznik mit der Erzählung
«Nachtdienst» debütiert und darin zwei
Erzählstränge virtuos miteinander ver-
woben: Einerseits schildert die Ich-Er-
zählerin Szenen aus ihrem Berufsalltag
als junge Ärztin, anderseits nimmt sie
imAugenblick, da derVaterim Sterben
liegt, Abschied von ihrer Kindheitswelt.
Noch einmal ziehenvor ihrem inne-
ren Auge Erinnerungen an das einstige
und mitunter bedrückende Familien-
leben vorüber. Seither hat die1961 in
Kapfenberg in der Steiermark geborene
Autorin weitere Erzählungen und zwei
Romane veröffentlicht, in denen wieder-
holtTiefenbohrungen in traumatischen
Lebensgeschichten unternommen wer-
den. Melitta Breznik hat in Österreich
und der Schweiz Medizin und Psychia-
trie studiert. Heute lebt sie in Sent im
Unterengadin und ist leitende Ärztin am
Gesundheitszentrum in Scuol.
In Dover warten Passagiere vorder Passkontrolle, ehe sie dieFähre nach Calais besteigen. Aufnahme aus demJahr 1963. GINO BEGOTTI/ CAMERA PRESS / KEYSTONE