Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samsta g, 22. Februar 2020 REISEN 55


Das Küken der Kanaren


LaGraciosaist dieJüngste unddie Kleinste: Sie wurde erstvor einemJahrzur achtenKanarischen Insel erklärt.


Damit dürften die Besucherzahlen zunehmen. Einzweischneidiges Schwert. VONOLIVERSCHINDLER


Ein Mann huscht barfuss über die Sand-
piste, den kegelförmigen Palmblatt-
hut tief ins Gesicht gezogen.Dann ver-
schwindet er in der blauenTür eines
weissgekalkten Hauses. Hier, auf der
kleinsten Insel der Kanaren, gibt es
nicht viel mehr als ein paar flache Häu-
ser, Sand und viel Meer. Vielleicht noch
einePalme, ein, zwei Kakteen – alles
bedeckt von einer feinen Staubschicht.
Ein altes Holzboot liegt auf gestapel-
tenPaletten amWegesrand. Man ahnt,
dass die Sahara nur etwa 130 Kilometer
entfernt liegt.LaGraciosa ist eineWüs-
teninsel, Caleta del Sebo ihr Hauptort



  • und gleichzeitig das einzige Dorf auf
    dem kanarischen Eiland.


Strände,Wüsten,Vulkane


Die bisher wenig bekannte Insel wurde
im November 20 18 als achte der Kana-
rischen Inseln anerkannt. Sie liegt rund
einen Kilometer vorder Schwesterinsel
Lanzarote im Atlantischen Ozean und
istTeil des Chinijo-Archipels. Dieser hat
seit1986 den Status eines Naturparks und
gehört zum grössten Meeresschutzgebiet
der Europäischen Union.Für die 700 Ein-
wohner vonLaGraciosa heisst das, dass
sie ein Leben unter Naturschutzbedin-
gungen führen müssen – was sie zumTeil
massiv in ihrem Alltag einschränkt.
So gibt es Vorschriften bezüglich
Landwirtschaftsflächen,Autofahren, des
Verlassens vonFusswegen,Tauch- und
Ankerplätzen oder des Sammelns von
Muscheln und anderen Meeresfrüchten.
«Wir waren langeJahre eine kleine, ge-
schlossene Gemeinschaft undkonnten
mehr oder weniger machen, was wir woll-
ten», sagt MiguelPáez. DieFamilie des
46-jährigen Isleño lebt seit fünf Gene-
rationen aufLaGraciosa. «Dass wir uns
nuneinschränken müssen, schmerzt. Zum
Beispiel dürfen heute nur noch Berufs-
fischer Schalentiere fangen, für alle ande-
ren Bewohner ist es verboten.Das Sam-
meln von Meeresfrüchten war traditio-
nell aber sehr wichtig für die Insulaner.»
Abgelegene Naturstrände, karge
Wüstenlandschaften und fünf inaktive
Vulkane machen den Charme der 29
Quadratkilometer grossen Insel aus.


Asphaltierte Strassen gibt es hier nicht,
fortbewegen kann man sich nur auf
Sandpisten. Es finden sich aufLaGra-
ciosa auchkeine natürlichen Süsswasser-
quellen,keineBäume undkeinePalmen
am Strand. IhrTr inkwasser beziehen die
Insulaner über Pipelines vonLanzarote.
Noch im erstenAutonomiestatut der
Kanarischen Inseln von1982 wurde La
Graciosa als «unbewohntes Inselchen»
aufgeführt – obwohl hier seit1881 Men-
schen leben.Daher hat MiguelPáez im
Februar 2013 die Bürgerinitiative «La
Graciosa, die achte Kanarische Insel»
ins Leben gerufen. Mit seiner Online-
Petition hat er für vielAufsehen gesorgt.
Dadurch isteinProzess in Gang gekom-
men, der schliesslich den langersehn-
ten Inselstatus brachte. Am 6. Novem-
ber 20 18 wurdeLaGraciosa offiziell zur
achten Kanarischen Insel erklärt.
«UnsereBürgerinitiative will aus dem
Dorf Caleta del Sebo eine kleine eigen-
ständige Gemeinde mit Bürgermeis-
ter und eigenerVerwaltung machen»,
erklärtPáez. «Wirwollen ein eigenes
Budget, und unsere Bürger sollen mit
den nötigen öffentlichen Dienstleis-
tungen versorgt werden.» Nach etwas
mehr als einemJahr hat Caleta del
Sebo zwar nochkeinen Bürgermeister
und auchkeine eigeneVerwaltung, aber
die Inselbewohner haben dennoch ein
paar Dinge erreicht: So ist ein Ombuds-
mann des kanarischenParlaments vor
kurzem nachLaGraciosa entsandt wor-
den; er hat in Caleta del Sebo ein Büro
eröffnet, um dieKommunikation mit den
Insulanern zu verbessern. Und die spani-
scheRegierung will einen Beamten der
Guardia Civil auf die Insel schicken – bis-
her gab es dort nur einen Dorfpolizisten.
Ausserdem bringt das kanarischeFern-
sehen jetzt auch eineWettervorhersage
fürLaGraciosa.
Viele bunteFischerbooteundein
paar weisse Segelschiffe liegen an lan-
genPontons im Hafen von Caleta del
Sebo.Auf der kleinenWerft lässt ein
blauer Kran ein Boot insWasser hinun-
ter. Drei Einheimische hocken auf einer
Bank vor demFährhaus, das hölzerne
Vordach mit derAufschrift «Bienveni-
dos» schützt sie vor der Sonne.Direkt

neben ihnensteht ein Surfboard, auf
dem eine Surfschule für ihreKurse
wirbt. Die alten Männer beobachten
dasTr eiben auf dem Platz. Gerade ist
dieFähre ausLanzarote angekommen,
vieleTagesausflügler gehen von Bord.
Das Café-Restaurant Mesón de laTierra
füllt sich langsam. EinTauchzentrum,
ein Mountainbike-Verleih, ein Souve-
nirladen und einige Stände mitKunst-
handwerk haben jetzt geöffnet.

CésarManriqueals Vorbild


«Wir hatten es fast geschafft, und jetzt
kommen diese Geier, diese Spekulan-
tenohne jede Moral. Sie wollen uns alles
stehlen,sie haben nur das Ziel, ganz
schnellreich zu werden. Sie verschan-
deln dieLandschaft, zerstören die Dör-
fer», sagte César Manrique, Lanzarotes
bekanntesterKünstler, 1988 in einem
«Spiegel»-Interview über seinen langen
Kampf gegen den Massentourismus.
Der Maler, Bildhauer und Architekt,
der1992 bei einemAutounfall ums Le-
ben kam, schuf aufLanzarote nicht nur
aussergewöhnlicheBauwerke, mit denen
er Natur undKunst vereinen wollte, er
gilt auch als Pionier des nachhaltigen
Tourismus. Als in den1960erJahren
mehr Besucher nachLanzarote kamen,
versuchte Manrique, die Entwicklung
desTourismus mit strengenVorschrif-
ten in Grenzen zu halten: Häuser nicht
höher als eine ausgewachsenePalme;
traditioneller Baustil; keine Werbe-
tafeln, Strassenlaternen und Ampeln.
Viele seinerVorstellungenkonnte er
verwirklichen, manches davon wurde
allerdings später wieder rückgängig ge-
macht. Auf Lanzarote wurden in den
1980erJahren einige Orte vom Massen-
tourismus überrollt, auch aufLaGra-
ciosa sollten damals touristische Gross-
projekte entstehen. César Manrique hat
viel dazu beigetragen, dassLaGraciosa
1986 zum Naturpark wurde und vorerst
vom Massentourismus verschont blieb.
Mitte der1980erJahre war Caleta del
Sebo noch einFischerdorf, die Insulaner
lebten damals fast vollständig vomFisch-
fang. «Heute besteht dieWirtschaft auf
LaGraciosa zu99 Prozent ausTouris-

mus», sagt MiguelPáez, dessenVater noch
Fischer von Beruf war. AuchPáez lebt in-
zwischen vor allem vomTourismus. Der
gelernte Schauspieler und Sozialarbeiter
betreibt den kleinenFahrradverleih Gra-
cioserito gegenüber der Dorfkirche. «Für
mich ist César Manrique einVorbild, da
er dieAuffassung vertrat, dassTourismus
weder die Natur noch diekulturellen Be-
sonderheiten eines Ortes gefährden darf»,
erklärtPáez. ImJuli und imAugust sei

der Besucherandrang besonders gross
aufLaGraciosa. «Wenn zu vieleTouris-
ten hierherkommen, fängt die Insel an zu
leiden. Man sollte über eine Begrenzung
der Besucherzahlen nachdenken. Nur so
kann der Naturschutzfunktionieren», sagt
Páez. Er versucht, aufLaGraciosa die
Arbeit von César Manrique fortzusetzen.
Die Reise wurde unterstützt vom
Fremdenverkehrsamt Lanzarote und
vom SpanischenFremdenverkehrsamt.

Blick vom Mirador del Río, dem Aussichtspunkt im Norden Lanzarotes, auf die Insel La Graciosa. ALAMY

Gut zu wissen


Anreise:DieFähren nachLaGraciosa
legen in Órzola im Nordosten vonLan-
zarote ab; die Überfahrt dauertrund 25
Minuten. http://www.lineasromero.com.
Unterkunft:Auf Lanzarote gibt es zahl-
reichePensionen und Apartments. Aus-
serdem findet sich am Strand südlich des
Dorfs derkostenlose Campingplatz El
Salado (Genehmigung der Naturpark-
verwaltung erforderlich). DerAufent-
halt ist beschränkt auf maximal sieben
Tage. http://www.reservasparquesnacionales.es.
Es sen undTrinken:«La Caletilla», das
mit Azulejos gekachelte Stammlokal der
Fischer, liegt in einer Seitengasse des
Hafens. AvenidaVirgen del Mar 131.


  • Wer einen Platz im Café-Restaurant


«Mesón de laTierra» ergattert, kann
stundenlang in entspannter Atmosphäre
das Tr eiben im Hafen beobachten.
AvenidaVirgen del Mar 111.
Aktivitäten:DerFahrradverleih Gra-
cioserito von MiguelPáez liegt gegen-
über der Dorfkirche. Calle García
Escámez 18. http://www.gracioserito.com. –
Das Tauchzentrum BuceoLaGraciosa
bietet auchKurse an. Im Meeresschutz-
gebiet des Archipels Chinijo sind die
Tauchbedingungen ideal.AvenidaVirgen
del Mar 119B. http://www.buceolagraciosa.es.
Weitere Informationen:Fremdenver-
kehrsamtLanzarote, http://www.turismolanza-
rote.com, und SpanischesFremdenver-
kehrsamt, http://www.spain.info.
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