Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MONTAG,9.MÄRZ2020·NR.58·SEITE 15


Seite17SSeite18 eite

WarumRussland die


Verhandlungen mit der Opec


scheiternließ.


LVMH lädtFrauen aus sozial


prekärenVerhältnissen nach


Versailles ein.Um sie zu schminken.


Dubiose Anbieterversprechen mehr


Abrufe auf Streaming-Diensten.


EinBundesverbandwehrtsich.


SPIEL MIT DEM ÖLPREIS EINMAL PRINZESSIN SEIN KAMPF GEGENFAKE-STREAMS

Ü


ber viele Jahrzehntehat die
EU eineverfehlteLandwirt-
schaftspolitik mit Milliarden-
subventionen per Gießkanne betrie-
ben. DieResultateder Gemeinsamen
Agrarpolitik (GAP)warenoft verhee-
rend. In den achtziger Jahrenregten
die garantiertenMindestpreise die
Bauernzueiner groteskenÜberpro-
duktion an, die zu Milchseen und But-
terbergenführte.Die Überschüsse
wurden kostspielig vernicht et oder
auf dieWeltmärktegekippt,wasBau-
erninanderen Ländern,etwa in Afri-
ka,schädigte.
Seit den neunziger Jahren hat die
EU auf Direktzahlungen umgeschal-
tet. Bauern erhalten für jeden bewirt-
schaf tetenHektar eine Subvention.
Zwei Drittel derfast 60 Milliarden
EuroEU-Geld im Jahr für Bauern
und den ländlichenRaum fließen als
solche Direktzahlungen. Obwohl der
Agraranteil im EU-Haushalt langsam
schmilzt, sind im neuen Budgetplan
für die Jahre2021 bis 2027 noch im-
mer 30 Prozent für die Landwirt-
schaf treserviert, insgesamt mehr als
350 Milliarden Euro.Es profitierenda-
vonvor allem Großbetriebe und Land-
besitzer mit riesigen Flächen, viele
kleine Landwirteund Pächterkämp-
fenums Überleben.
Der Löwenanteil der EU-Agrarsub-
ventionen wirdohne ökologische und
soziale Zielgenauigkeit verpulvert.
Alle Anläufe, das tiefgreifend zu än-
dern,stoßen auf zähenWiderstand
der Agrarlobby, die in Osteuropa wie
in Frankreichbesonderseinflussreich
ist. Die Reformvorschlägedes damali-
genEU-Landwirtschaftskommissars
Phil Hogan hat der Ministerrat im ver-
gangenen Jahr weitgehend abge-
blockt.Sein Nachfolger ,der Pole Ja-
nusz Wojciechowski, setzt bislang
kaum Akzente.NunschertGroßbri-
tannienradikal aus. Die marktwirt-
schaftlichorientiertenBritenwaren
seit je Kritiker der BrüsselerAgarsub-
ventionsorgien,konnten sich aber nie
durchsetzen. Jetzt nutzt dasVereinig-
te Königreichdie mit dem Brexit ge-
wonnenegesetzgeberischeUnabhän-
gigkeit, umradikal vonder EU-Land-
wirtschaftspolitik abzuweichen.
Schonvomnächs tenJahr an will
die konservativeLondonerRegierung
die bisherigen EU-Direktzahlungen
von3Milliarden Eurofür die briti-
schen Bauernstark kürzen, fürgroße
Subventionsempfänger (darunter die
Queen mit ihren ausgedehnten Lände-
reien) um bis zu einViertel. Nach si e-
benJahrenfallen die Direktzahlun-
genkomplettweg, so der Entwurfdes
neuen Landwirtschaftsgesetzes.
An dieStelle der Direktzahlungen
tritt ein innovativer Ansatz, den Öko-
nomen wie Ökologenvernünftigfin-
den: Die Landwirte bekommenSteu-
erzahlergeld künftig nur dafür,dass

sie „öffentliche Güter“ produzieren,
nämlich zu bessererLuft-und Wasser-
qualität beitragen, die Bodenqualität
sichern, Landschaftsschutz betreiben,
Lebensraum fürTiereundPflanzener-
halten, biologischeVielfalt schützen.
Dazu müssen sie sich individuellver-
traglichverpflichten.Konkret bedeu-
tetdas beispielsweise, dassLandbesit-
zer finanzielle Förderung erhalten,
wenn sie auf übermäßigen Dünger-
und Pestizideinsatzverzichten,wenn
sieBäume und Heckenpflanzen und
pflegen, diegege nBodenerosion und
Überschwemmungen helfen. Auch
die WiederherstellungvonMoor-und
Torfgebietensoll gefördertwerden.

DiesePolitik honoriertden Beitrag
der Landwirte zur Erhaltung derKul-
turlandschaftund Umwelt, vonder
alle profitieren, statt mit der Gießkan-
ne Milliardensubventionen über die
zunehmenddurch Monokulturenge-
prägt eGroßlandwirtschaftauszu-
schütten. Zudem gibt esFörderung
für Forschung und Maßnahmen für
mehr Produktivität, um die internatio-
nale Wettbewerbsfähigkeit zu erhö-
hen. Das sind lobenswerte Reform-
ideen,gege ndie sic hbislang erstaun-
lichwenig Widerstand vonSeiten der
Agrarverbänderegt.Die Nationa lFar-
mers’ Union fordertlediglich, den Be-
ginn derKürzung der Direktzahlun-
genumein Jahr zuverschiebenwegen
der Unsicherheit über einenkünfti-
genFreihandelsvertrag mit der EU;
ohne diesen hätten die britischen
Landwirte ein großes Problem. Der
Bauernverbandgrummelt zwar,ist im
Grundsatz aber einverstanden mit
dem Auslaufen der Flächensubventi-
on. Die ökologische Funktion der
Landwirtschaftzubetonen hilftauch
der öffentlichen Akzeptanz ihrerFör-
derung, denn die traditionellen Bau-
ernsind derzeit oftPrügelknabe und
Zielscheibe links-grünerNGOs und
Kampagnen.
WasGroßbritannien plant, hatVor-
bildcharakter.Die anspruchsvolle
Agrarpolitik-Wende istauchein Bei-
spiel dafür,dassnachdem Brexit ein
neuer,kreativerWettbewerb derPoliti-
keninEuropa möglichwird, der pro-
duktiv seinkann. Dievonmächtigen
Lobbygruppen und der Brüsseler Bü-
rokratie beherrschte EU-Politik
bringtkeineswegs immer die allein-
seligmachende Lösung. „Mehr Euro-
pa“ kann auchindie falsche Richtung
führen, die GemeinsameAgrarpolitik
istschon langeein abschreckendes
Beispiel dafür.

K


ommissionspräsidentinUrsu-
la vonder Le yengibt sich
nach100 TagenimAmt
hochzufrieden. Sie hat allen Grund
dazu. Sie hatversprochen, dassdie
EU eine neueFührungsrolle in der
Welt übernimmt, bei Klimaschutz,
Digitalisierung und nachhaltigem
Wachstum. Undsie hat geliefert.
Nach 100 Tagenkann siegleich ein
ganzes PaketanInitiativen „abha-
ken“: den Green Deal, den Über-
gangsfonds, das Klimagesetz, die Di-
gitalisierungsstrategie, die KI-Strate-
gie und die Industriestrategie–auch
wenn diegenau genommen erst am


  1. Tagkommt.Einen Schatten auf
    die Bilanz wirft nur die hilfloseReak-
    tion der „geopolitischenKommissi-
    on“ auf die Krisen imWinter (Iran, Li-
    byen), bei allem begrenzten Einfluss
    der Kommission. Zumindestzeigt
    vonder Le yeninder aktuellen Migra-
    tionsmiserePräsenz. Richtig istaber
    auch, dassvöllig offenist,was all die
    publikumswirksamen Initiativen der
    erste n100 Tage we rt sind. Siewerfen
    Fragen auf, liefernIdeen,nennen Zie-
    le. Nurwas heißt daskonkret?Erst
    wenn vonder Le yendas beantwortet,
    der PR Substanz hinzufügt, zeigt sich,
    wasbleibt vomGlanz der ersten 100
    Tage.


Britanniens Agrarwende als Vorbild


VonPhilipPlickert,London

D


ie Italiener zeigen ungeahn-
te Leistungsreserven: ImNot-
fall, wie jetzt, istItalien zu
bewundernswerten Leistungen fähig.
Im staatlichen Gesundheitswesen,
das sonstallzu oftdie Behäbigkeit ei-
nes Staatsapparats zeigt, fragt jetzt
niemand nachBürokratie oder ge-
werkschaftlichgeregelten Arbeitszei-
ten. Dochselbstmit großem Einsatz
gerätdas Sy stem sogar in derRegion
Lombardei an seine Grenzen–das ist
die Region mit dem am bestenfunk-
tionierenden und amgroßzügigsten
finanziertenGesundheitswesen.Von
denmitdemVirusInfizierteninder
Lombardei benötigen 12 Prozent
eine Behandlung auf der Intensivsta-
tion –und nun sind alle Plätze belegt.
Nicht auszudenken,wasdie Epide-
mie in Süditalien anrichtenkönnte,
falls sie dortankommt.Schon ver-
langt die Vereinigung der italieni-
schen Anästhesisten, bei Knappheit
an Behandlungsplätzenkünftig „den-
jenigen Priorität zugeben, die mehr
Überlebenschancen haben“. Drama-
tischist daher nicht die Lage, son-
derndie Perspektiveeiner umfassen-
deren Epidemie. Daher will dieRegie-
rung nun lieber drei Wochen Still-
stand für Italien als ein Gesundheits-
drama ohne Ende.

K


ommissionspräsidentinUrsula
vonder Le yenhat seit ihrem
Amtsantritt im Dezember ein
hohesTempovorgelegt. Inner-
halb vonzehnTagen präsentierte die Deut-
sche mit dem „Green Deal“ ihr Klima-
schutzprogramm. Anfang Januar folgte
der Klima-Übergangsfonds, der den Mit-
gliedstaaten dieUmstellung ihrerWirt-
schaf terleichternsoll.Vorig eWoche
dann das Klimagesetz, mit dem dasKern-
ziel des „Green Deal“, denKontinent bis
2050 klimaneutralzumachen, festge-
schrieben wird. DieKommission hat eine
Digitalstrategie und einPapier zurKünst-
lichen Intelligenz präsentiert.Kommende
WochefolgenVorschlägefür nachhaltiges
Wachstum und eine Industriestrategie.
Wenn vonder Le yenandiesem Montag
Bilanz der ersten 100Tage ihrer Amtszeit
zieht, dürftesie kaum Anlass zu Beschei-
denheit sehen.„Wir haben einen guten
Anfanggemacht undwerden jedenTag
hartdaran arbeiten, den nächstenGenera-
tion en vonEuropäerneine gute Zukunft
vorzubereiten“, ließ sie amFreitag vorab
verbreiten.Umdie EU wieder zu einer
Führungskraftauf derWelt zu machen,
„sin dwir fest entschlossen,schnell zu han-
deln, um einfaires undwohlhabendes,grü-
nes und digitales Europa zu schaffen, das
wir unseren Kindernals dauerhaftes Erbe
hinterlassenkönnen“, legtesie amWo-
chenende in einem Gastbeitrag für die
„Welt“ nach. Selbstder SPD-Abgeordnete
Jens Geier, einer ihrerHauptkritiker, gibt
vonder Leyeneine „Vier minus“ und
meintdas durchaus alsKompliment.
Tatsächlichhat der Schwung,mit dem
vonder Le yengestartetist,manchen in
Brüssel überrascht. In derKommission

freuen sichgerade unter denjenigen, die
seitJahren auf eine ehrgeiziger eKlima-
politik drängen, viele über eineneue „Dy-
namik“. Andere s töhnen über dasextrem
hoheTempo–und das istkeineswegs dem
Wunsch nachkürzeren Arbeitszeitenge-
schuldet. „Warum mussten wir innerhalb
von100 Tagenein Klimagesetzvorle-
gen?“, fragtein ranghoher Beamter.„Das
konntezwangsläufig nur ein leererRah-
mensein.“Wenn man bis zum Sommerge-
wartet hätte, hätte man jenseits des ohne-
hin schon langebeschlossenen 2050-Kli-
maneutralitäts-ZielsSubstanz in das Ge-
setz bringenkönnen.Ganz ähnlichklingt
das bei Klimaschützernund Grünen, die
sichvor allemdaran stören,dassvon der
Leyenund VizepräsidentFrans Timmer-
mansnochkeineVerschärfung des
2030-Klimazielsvorgeschlagen haben.
Dafür will die EU-Kommission erst ein-
mal eine umfassendeAbschätzungder Fol-
genvornehmen. Das brauche nun einmal
–sosagten ihm seineBeamten–bis Sep-
tember,sagt Timmermans.Genaudas ist
der Grund,weshalbessoeineSache ist
mit100-Tages-Bilanzen in der EU.Die Eu-
ropäischeKommission istkeine Regie-

rung im klassischen Sinne. DieKommis-
sionspräsidentin istletztlicheine „Herr-
scherin ohneVolk und Land“, abhängig
vomEU-Parlament,vorallem aber den
Mitgliedstaaten. Umso wichtigerist es, jen-
seits der ersten 100Tage fundierte und vor
allemauf soliderFolgenabschätzungbasie-
rende Vorschlägevorzulegen. „Bisher hat
vonder Le yenvor allemFragen aufgewor-
fen, Antworten haben wir nochnicht so
viele“, sagenVertreter vonWirtschaftsver-
bänden, Diplomaten undAbgeordne te.
VonSeiten derWirtschaftsvertreter ist
das garnicht unbedingt negativgemeint.
Der entscheidende Punkt istein anderer:
Wasdie er sten 100Tage wert sind, ent-
scheiden letztlicherstdie nächsten
Tage ihrer Amtsperiode. „Da sind Enttäu-
schungen programmiert“, warntein lang-
jähriger ranghoher EU-Diplomat. Der Kli-
ma-Übergangsfonds habe ihr da einenVor-
geschmackverschafft.Schließlichhabe
vonder Le yenihr Versprechen, 100 Milli-
arden Eurobereitzustellen,nur durch
„kreativeBuchführung“ halten können.
Wiesie überhauptinallen finanziellen
Fragen davonabhängig ist,wann und auf
welchen EU-Haushalt 2021 bis 2027 sich

EU-Staaten und Parlament einigen. Ande-
re in derKommissionmachen sichdes-
halb schon Gedanken,wemman in zwei
Jahren die Schuld zuschiebenkann, wenn
es dochnichts wirdmit dem „Green Deal“
–den unwilligen EU-Staatenetwa.Noch
aber wolle man imUmfeld derKommis-
sionspräsidentin nichts davonhören.
Die Präsidentin istimMoment ohnehin
mit Themen beschäftigt, die z uihrem
Amtsantritt nicht oder zumindest nicht
oben auf ihrerAgenda standen:dem Coro-
navirus und der Situation an der türki-
schen Grenze. In diesenFragen dürfte
sichamEnde mehr als beimKlimaschutz
zeigen,obd ie EU wie angestrebt eineFüh-
rungsrolle in derWelt übernehmenkann.
Unddabei hatvonder Le yeninihren ers-
ten100 Tagenkeineswegs immer eingu-
tesBild abgegeben. ImWinter zumindest
reagierte sie nur spät und zunächsthilflos
auf dieTötungdes iranischen Generals
Quassem Soleimani im Irak durch das
amerikanische Militär und der Zuspitzung
der LageinLibyen. Vonder „Sprache der
Macht“, die Europa lernen müsse, wievon
der Leyenvor ihrem Amtsantrittgefordert
hatte,warzumindest da nichts zu spüren.

Ursula vonder Leyenist sei tdem 1. Dezember 2019 Präsidentin der EuropäischenKommission. FotoImago

Steuergeld gibt es nur
für Landschafts- und
Umweltschutz. Ein
vernünftiger Ansatz.

tp.ROM.Die Infektion mit demCoronavi-
russtellt Italiensstaatli ches Gesundheits-
wesen aufeineharte Probe ,mit bis Sonn-
tagfast6400 Infizierten, da von3557Pa-
tienten im Krankenhaus undzusätzlich
650auf de rIntensivstation.Wie so oft,
zeig tItalien imNotfall Höchstleistungen.
Doch in derRegion mit dembestenGe-
sundheitswesen,der L ombardei,stößt
man an Kapazitätsgrenzen, weil allein
dort399 Patientenmit Coronaviru sauf der
Intensivs tation behandeltwerden.
Scho nmachen Diskussionen dieRunde,
wiekünfti gausgewählt werd en soll, wenn
diePlätze aufden Intensivstatione nnicht
mehr füralle Schwerkrankenausreichen.
Die umstrittenste Fragelautet, ob alteund
kran ke Patien tendann keineBehandlung
in derIntensivstation mehr bekommen
können.Minis terpräsiden tGiuseppe Con-
te sucht wiederumdiese Diskussionzuer-
stickenmit de rNachricht, dass nunBeat-
mungsgeräteinItalienproduziertwürden,
500Stück im Monat. Doch nebe nden Ge-
räte nfehltauchdas Personal,wegender
Rück kehr zurFrührenteund weil sich viele
Ärzt eund Pfleger selbstinfizierthaben.
In dieserLageist es eineMischung aus
Trostund Suche nachOrientierung imNa-
tionalstolz,wennwährend derViruskrise
imme rwiederPoliti keroderJournalisten
auftr eten wieRoberto Sommella, Vizechef-
redakteurvon „MilanoFinanza“,und lo-
bendeWorteäußern: „Indieser Situation
binich richtigfroh, da ss wirdas beste Ge-
sundheitssystem derWelt h aben.“Tatsäch-
lich warItalien im Jahr2000ineiner Rang-
liste derbestenGesundheitssystemevon
der Weltgesundheitsorganisation WHO
hinterFrankreichauf diezwei te Ste llege-
setz tworden. Die Italiener erreichten zu-
sammenmitdenFranzosen diehöchste Le-
benserwartung, obwohl gerade in Italien
dieAusgabenjeKopfimGesundheitswe-
senniedrigerlagen als in anderen Län-
dern.Doch allein auf diehoheLebenser-
wartunginItalienvon derzeit 83,4Jahren
zu bli cken,umüberdie Gütedes Gesund-
heitssystemszuurteilen ,kannzuTrug-
schlüssen führen. VieleFaktoren,etwa Er-
nährungsgewohnheiten,sindfür die Le-

benserwartungwichti gund nicht abhängig
vomGesundheitssystem.
Nach Meinungvieler Italiener hatsich
dasstaatliche italienische Gesundheitssys-
teminder Corona-Krise bisher gutgeschla-
gen. Allerdings sindvonder Ausbreitung
des Virusgerade diejenigenRegionen be-
trof fen, in denendas Gesundheitssy stem
besondersgut finanziert istund besonders
gut funktioniert, dieLombardei unddas
Veneto.Minis terpräsidentConte soll aber
dieSchließung der Schulen inganz Italien
undnun dieAbschottung derLombardei
gerade au ch deswegen durchges etzt haben,
weil er Furcht vorProblemen imGesund-
heits wesen desSüden sgehabt habe.
Italien brüstetsichseit 1980,ein voll-
kommen staatliches Gesundheitssystem
zu haben, das„Sistema SanitarioNaziona-
le“,dochinWahrheitgibt es20versc hiede-
ne S ysteme. Denndas Gesundheitswesen
ist vorallem SachederRegionen.Wäh-
rend imVeneto wenigerals 10 Prozentder
Leistun genvon Privaten bestrittenwer-
den,sindesinder jahrzehntelangvom
rechten Lagerregier tenLombardei40Pro-
zent. Dort sitzt andererseits derlangjähri-
ge RegionalpräsidentRoberto Formigoni
imGefängnis,weil er jahrelang Zuwendun-
genoderUrlaubseinladungenvon einem
privatenKrankenhausunternehmer ange-
nommenhat und dazu immer sagte, damit
würdenkeinepraktischenEntscheidungen
beein flusst.
Werdie Italienernachihren Erfahrun-
genmit de mstaatlichenGesundheitswe-
senfragt, hört in den meisten Regionen
vielKritikund zugleichAnerkennung für
mancheSpitzenleistung. Man istgewohnt,
dasSystemnicht uniformzusehen, son-
dern „wie ein Leopardenfell “mit hellen
und dunklenFlecken. Zu denhellen gehö-
renUniver sitätsklinikeninMailand und
Rom, die sichseit Jahren aufVirenkrank-
hei tenspezialisierthabenund nu nwichtig
sind für Behandlungsstrategienund For-
schung zumCoronavirus.
Dochesgibt auch viele dunkle Eigen-
schaf tendes staatlichenGesundheitssys-
tems, dasoffiziell kostenlo sist,was medizi-
nischeLeistungenangeht(im Gegensatz

zum Zahnarzt).Mit de möffentlichen Sys-
temmüsse ndie Italienerauchdie Mängel
der Staatswirtschaft in Kauf nehmen:Die
alltäglicheGesundheitsversorgung istlang-
sam undmit Bürokratieüberfr acht et.Wer
jenseitseinerrudimentär ausgestatteten
Hausarztpraxiszum Spezialistenwill,
muss warten undzahlen .Das Sozialfor-
schungsinstitut Censis berichtete2019 von
durchschnittlic h50TagenWartezeit für
eineUltraschalluntersuchung und 120Ta-
genfür eine Mammographie. In Latium
rund umRomsei dieLage im Schnitt aller
Leistungen(ohne Laboruntersuchungen)
am schlimmsten: Dortgebees82,5 Tage
Wartezeit, gegenüber einem nationalen
Schnittvon 54,5Tagen.Kompliziertist es
fürdie It aliener auch,jeder Untersuchung
und jedemLabortest hinterherzulaufen
und dafürextra ein „Ticket“ zu bezahlen.
Im Latium etwa werden fürden Besuch
bei mFacha rzt36Euroverlangt,für ein
EKG25,65Euround für eine Computer to-
mographie 61,15Euro. In dembürok rati-
schen System können manche Italiener
nurvon der Behandlung aus einer Hand
tr äumen,wie sie in deutschenFacharztpra-
xenangeb oten wird.Werwegen der fort-
schreitenden Krankheit nichtwarten will,

hatzweiMöglichkeiten:entwederinsKran-
kenhausgehen, in eine überlaufeneNotauf-
nahme, mit vielen Stunden Wartezei t.
Oder aberman bezahlt als Privatpatient
underhälteinenTermi nindurchschnitt-
lich vierbis se chsTagen .Ähnlichgeht es
auch in den Krankenhäusernzu. Diese
sind i mMitte lzuzweiDrittel staatli ch.Ein
Viertelist in privaterHandund arbeitet
vertraglichfür dasstaatliche System,
Prozent nennensich„Klinik“ undhaben
al sPatienten diewohlhabendenItaliener,
dieweni genmit privaterZusatzversiche-
rung oderPatien ten, beidenendie Familie
zusammenlegt, um eineprivate Operation
zufinanzieren.
Zwei Drittelder Italiener bezahlen ei-
nen Teil derGesundheitsleistungen privat,
berichtetdas In stitutCensis, im Schnitt
655 EuroimJahr, im Jahr2017 insgesamt
37,3 MilliardenEurooder 2, 2Prozent des
Bruttoinlandsprodukts.Generell gibt der
Durchschnittsitalienereinen Großtei lsei-
nes Weihnachts- oderUrlaubsgeldesfür
privat eGesundheitsleistungen aus. Das
liegt anden vielenMängeln desstaatlichen
Systems: GroßeTeile arbeiten mitder Be-
häbigkeitvonStaatsun ternehmen. Zwei-
tens gibtesimstaatlichenSystemauch
Klientelwirtschaft, mitErnennungenvon
ChefärztennachpolitischerFärbun gder
Regionalregierung, unter Vernachlä ssi-
gungder Fachkompetenz. Eindrittes Pro-
blem istinSüditalien derEinflussder Ma-
fia. Viertens ha tsichbei de rBeschaffung
vonWaren und LeistungenKorruption ein-
genistet, weswegen inmanchenRegionen
für eineSpritz eein paarCent, anderswo
mehr alsein Eurobezahltwird. Schließlich
stehen die 118Millia rden Euro, die
fürdas staatliche Gesundheitssystemvor-
gesehenwaren, imStaatshaushaltinKon-
kurrenzzuanderen Projektender Politi ker
fürdie Be glückung ih rerWähler wie Bür-
gergeld oder Rückkehr zurFrührente. Für
die Forschungbleibt wenig Geld.Frances-
ca Colavita, die an derUniversitätsklinik
in Romzum er sten MalinItaliendas Co ro-
navi rusisolie rte, hatteein prekäre sAr-
beitsverhältnis mit einemNettoverdienst
vonetwa1300 Euro.ErstWochen später
erhielt sienun eineFestanstellung.

Glanz der ersten Tage


VonHendrik Kafsack

Mehr Fragen als Antworten


Belastungstest für Italiens Gesundheitswesen


Im Nord en, wo viele Corona-Infizierte leben, funktioniertdas Sy stem relativ gut–imSüden weniger


In Italiengibt e sfast6000Infizierte. FotoAP

Grenzen des Systems


VonTobiasPiller

Kommissionspräsidentin


vonder Le yenhat in


ihrenersten100 Tagen


einen Schnellstart


hingelegt.Was der wert


ist, werden aber erst die


nächsten1700Tage


zeigen.


Von HendrikKafsack,


Brüssel

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