Frankfurter Allgemeine Zeitung - 09.03.2020

(singke) #1

SEITE 18·MONTAG,9.MÄRZ2020·NR.58 Unternehmen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


T


alentierte IT-Spezialistensind
in Deutschland nicht so leicht
zu finden. Gleichzeitigwächst
in denUnternehmen der Bedarf
an Fachleuten. VW-Chef HerbertDiess
will denWolfsbur gerKonzerninwenigen
Jahren zu einem softwaregetriebenenUn-
ternehmen umbauen.Wastun? Allein in
diesem Jahr plant die neue Software-Ein-
heit desKonzerns unter Leitung des VW-
Vorstands Christian Senger,rund 2500
IT-Experteneinzustellen. Um den großen
BedarfanSoftware- und Digitalexperten
deckenzukönnen, bildetVWseit einem
Jahr Hunderte vonSoftware-Entwicklern
in einer konzerneigenen „Fakultät 73“
aus. Mit nur neun MonatenVorlauf gehö-
re diese Fakultät „zu den schnelleren Pro-
jekten beiVolkswagen“, sagt der fürFort-
bildung zuständigeManagerRalph Linde,
Leiter derVolkswagen GroupAcadamy.
Mit derFakultät 73 öffnetsichdas Un-
ternehmen zudem für neueWege:
Plätze gibt es je Jahrgang, rund 1500 Be-
werber wagensichanden Aufnahmetest.
„Für uns istwichtig, dassdie Teilnehmer
den Test bestehen“, sagt Linde.„Wir wol-
len Talenteerkennen, nichtZeugnisse an-
schauen.“ WieandereUnternehmen
auchmacht Volkswagen die Erfahrung,
dassNerds mit Leidenschaftfür IT nicht
immer einStudium beendethaben oder
eine abgeschlossene Berufsausbildung
vorweisenkönnen. Im zweiten Jahrgang
haben 14 Prozent derer,die in diesenTa-
genimMobile-Life-Campus, derAuto-
UniversitätvonVW, in Wolfsbur gihre
Qualifizierung zum Software-Experten
beginnen, keinen Uni- oder Berufsab-
schluss. 24 Prozent haben dieUniversität
abgeschlo ssen, 62 Prozent eine Berufsaus-
bildung. In zwei Jahrenwerden sie bei
VW zu Junior-Softwareentwicklernausge-

bildet. Vondiesem Jahr anverdoppelt
VW die Schlagzahl auf zwei Jahrgänge.
Bereits im September soll inWolfsburg
die dritteGeneration des eigenen IT-
Nach wuchses an denStartgehen.
TimGesemann, 23, HalilTürk, 25,und
Michelle Gabriel, 22,gehören zur ersten
Generation. „Der Aufnahmetest war
schon sehrstreng,vorallem logisches
Denken und Mathematikwerden auf ho-
hem Niveau abgefragt“, berichtet Mi-
chelle Gabriel. Sie selbsthatteMathema-
tik und Physik als Prüfungsfächer imAbi-
tur.Als Frau werdeman of tnoch gefragt:
„Bistdudir sicher?“,wenn man sichfür
eine Ausbildung in der IT-Branche ent-
scheide, sagt sie. „Bei der Arbeit hier ist
das aberkein Thema.“Wieüberall in der
Branche istder Frauenanteil auchinder
Fakultät 73 nochklein. Es gibt zuwenig
Frauen,weil Sp rachwissenschaftund Ger-
manistik oder GenderStudies beiAbituri-
entinnen offensichtlichnachwie vorbe-
liebtersind als Mathematik und Informati-
onstechnik.AchtProzent Frauenwaren
es in Gabriels Jahrgang, bei denNeuen in
der Fakultät sieht das Bild mit neunFrau-
en bei 91 Männernnicht viel andersaus.

Frauenanteil nochklein

TimGesemann hat in Hannoverein IT-
Studium abgebrochen, HalilTürk hat sich
in München an Juraund in Braunschweig
an Elektrotechnikversucht .Beide reizt
die VerbindungvonTheorie und Praxis
an derAuto-Uni. „Ichhabe hier in einem
Monat Praxis mehrgelernt als in zwei Se-
mestern Hochschule“, sagt Gesemann.
Viele der jungen Leutesind nicht unbe-
dingtAutonarren. „Im klassischen Sinn,
so amAuto herumzuschrauben, bin ich
am Auto nicht interessiertgewesen“, sagt
auchHalil Türk. Ihnund seineKolle-
genreizt das,wasVW-Chef Diessals
„softwaregetriebenesUnternehmen“ be-
schreibt–das Auto als Smartphone auf
vier Rädern.Trotzihrer jungen Jahrege-
hörtMichelle Gabriel zu denen, die VW
schonkennen.NachAbitur undAusbil-
dung bei VW hat sie am Band inWolfs-
burgachtMonatelang den VW Golf
Sportsvan montiert. Fürsie öffnetdie Fa-
kultät 73 neueKarrierewege. „Die Chan-
ce, auf so einemWegweg vomBand zu
kommen, hat esvorher nichtgegeben.“
Eine besondereVW-Quote gibt es bei
der IT-Qualifikation aber nicht.Von den
1500 Bewerbernseien etwa50 Prozent
Externe, die anderen 50 Prozent arbeite-
tenschon bei VW.Imzweiten Jahrgang
wurde jetzt ein 56 Jahrealter Mitarbeiter
mit ausgewählt, dazu auchzweiFlüchtlin-

ge,die mit B2-Sprachkenntnissen dieVor-
aussetzung für die Einstellung erfüllten.
„Für ein internationalesUnternehmen
wie Volkswagen, das sichzurzeit in der
Transformation befindet, hat Diversität
große Bedeutung“, meint ElkeHeitmül-
ler,die Leiterin Diversity imUnterneh-
men. Im neuen Jahrgang wechselnrund
zwei Drittel derTeilnehmer nachbestan-
denemAufnahmetest innerhalb desUn-
ternehmens in die Qualifizierung, das an-
dereDrittel kommt vonaußen.„Wir wa-
renselbstüberrascht, dassunsereLeute
im Test in beiden Jahrgängen sostarkab-
geschnitten haben“, sagt Linde.

Spezialisierung im zweiten Jahr

„Für die digitaleTransformation brau-
chen wirTalente“, sagt er.„Wirwerden
lernen müssen, dassnicht allein einfor-
malerAbschlussetwas über die Qualifika-
tion aussagt.“ Das istauchfür VW ein
Lernpr ozess. Der Betriebsrat zum Bei-
spiel, der inWolfsbur geine starke Stel-
lung hat, tut sichschwerdamit, Mitarbei-
tern ohne formalen Abschlussmöglicher-
weise ein höheres Gehalt als anderen zu
geben. WerkeinenAbschlusshat, macht
auchdeswegen mit derAusbildung an der
Fakultät 73 einenIHK-AbschlussinFach-
informatik.Bei derFakultät selbstgebe
es „am Endekein Diplom auf die Hand.
Aber jeder,der er folgreichdurchgekom-
men ist,weiß, dasseretwas kann, das
nachgefragt wird“, sagt Linde.Und–als
Anreiz istdas nicht zu unterschätzen –
VW garantiertnachder Prüfung einen
gut bezahlten,festen Arbeitsplatz.
Dabei haben es die Prüfungen in sich,
schließlich erwarten die Fachbereiche
des Konzerns, in denen dieAbsolventen
später arbeiten sollen, viel.„Wer die Prü-
fung nicht besteht, dergeht zurückansei-
nen bisherigen Arbeitsplatz oderverlässt
uns wieder“, sagtRené Wolters, der Lei-
terder Fakultät 73.Vonden 100, dievor
einem Jahr begonnen haben, machen
jetzt 95weiter .Während im ersten Jahr
nochdie Fundamentegelegt und Pro-
grammierengelernt wird,kommt im zwei-
tenJahr mit langen Praxisphasen die Spe-
zialisierung: Danngeht es um angewand-
te Programmierkunstinden Fachberei-
chen, wo die Absolventen nachbestande-
ner Abschlussprüfung einenfesten Job be-
kommen. „Bis Ende Märzsind dieTeil-
nehmer des ersten Jahrgangs über ihren
jeweiligen Zielbahnhof im Bilde“, sagt
Linde. So würde Michelle Gabrielgern
bei derKünstlichen Intelligenz (KI) mitar-
beiten, ob das klappt, erfährtsie in die-
sem Monat.Halil Türk sitzt mitinsgesamt
15 Mitstudenten an einem Projekt, mit

dem dieAuswertungvonFahrdatenver-
bessertwerdenkann. DieAufgabekam
aus demUnternehmen, die Lösung istso
überzeugend, dasssie demnächstdem
VW-Vorstand vorgestellt werden soll.
„Softwareentwicklung besteht zu 40
Prozent ausTechnik und istheutemehr
denn jeTeamarbeit“, sagtFakultätsleiter
Wolters. DieZeiten seienvorbei, dassein
einsames Genie in einer Garagebei
Chips Softwareentwickele. „Produkte
und Anwendungen sind heute hochgradig
komplexund entwickeln sichaus der
Gruppe.“TimGesemannerinnertdas Ar-
beit en in derFakultät 73 deswegen auch
eher an dieAtmosphäreeines Start-ups
als an einen Großkonzern. „Das Arbeiten
hier zeigt auch, wie sichVolkswagen als
softwaregetriebenes Unternehmen än-
dert“, sagt Linde.„Teamarbeit istwichtig,
die Hierarchien werden flacher ,und es
wirdschneller entschieden.“ In einem
softwaregetriebenenUnternehmen arbei-
tenandereMenschen als bei einem klassi-
schenAutobauer.Schon derName „Fakul-
tät73“ zeigt das. Mit demNamen ver-
sucht VW zielgruppengerecht dieNerds
anzusprechen: 73 istdie Lieblingszahl
vonSheldon Lee Cooper aus derTV-Se-
rie„The Big Bang Theory“. Sie lautet im
Binärsystem vorwärts wie rückwärts


  1. „Ichhatteeinen Tagund eine
    Nach t, mir das auszudenken“, sagt Linde.
    Die 73 als besonderePrimzahl könne
    man fürNerd sgut nehmen. „Ichhatte
    aber schon Sorge,dassdas anfangs nur
    wenigeverstehen.“ DieVerantwortlichen
    bei VW haben esverstanden.Rund 20 Mil-
    lionen Eurolässt sichVWdie Ausbildung
    eines Jahrgangs kosten. Linde arbeitet
    derweil bereits am nächstenProjekt.
    „Teamwork istwichtig.Künftig wirdes
    nochmehr darumgehen, DingeimSpiel
    zu lernen“, sagt er.Das ersetze zwar nicht
    die Anstrengung, mache das Lernen aber
    interessanter und effizienter.Passend zur
    Transformation der Branche plant er für
    die 21 000Führungskräfte des Konzerns
    ein Manager-Transformationsspiel.Wür-
    de die Gestaltung derTransformation wie
    früher in Seminarengemacht, bräuchte
    man dafür Jahre. „So müssen die Mana-
    germit dem Spiel lernen–und es schaf-
    fen, bei derTransformation auchdie letz-
    te Stufezuerreichen.“ Wiedie Manager
    das annehmenwerden, istnoch offen.
    Den Studenten an derFakultät 73gefällt
    die Idee. „Meine Englischkenntnisse
    habe ichdurch Computerspieleverbes-
    sert“, berichtet HalilTürk.Und Spiele hät-
    tennocheinen anderenVorteil. „Man
    lernt, unter Druckschnelle Entscheidun-
    genzutreffen“. Genau das istes, was
    VW-ChefHerbertDiessvon seinen Mana-
    gern immer wiederfordert.


FitwerdenfürdieUmbrücheinDeutschlandsAutoindustrie: StudierendederzweitenGenerationanVolkswagens„Fakultät73“ FotoVolkswagenAG

D


er Termin erschien zunächst
reichlic hbizarr: LVMH,der
größteLuxuswarenkonzern
der Welt, lädt 400Frauen aus
sozial prekärenVerhältnissen ins Schloss
vonVersailles ein, um sie nachallen Re-
geln derKunstzus chminken, zufoto gra-
fieren undvonWellness-Beraternver-
wöhnen zu lassen. EineFührung durch
das Schlossgehörte auchzum Programm.
Bekannt ist, dassdie Unternehmen un-
terder ChiffreCSR (CorporateSocial Re-
sponsibility) heute allerlei Gutes tunwol-
len oder sichzumindestdiesen Anschein
geben. Zunehmendforderndas auchdie
Beschäftigten, und immer mehrUnter-
nehmenverstehen, dasssie sic hals Wohl-
tät er a uf dem Arbeitsmarkt attraktiver
machen. DerLVMH-Konkurrent Kering
engagiertsichüber seine Stiftung bei-
spielsweisegegenGewalt gegenFrauen.
DerVersicherer Axaerlaubt seinen Mitar-
beitern,teilweisewährend der Arbeits-
zeit für Hilfsorganisationentätig zu sein.
Undder KosmetikkonzernL’Oreal belegt

seit einigen Jahren inglobalen Erhebun-
genzur Geschlechtervielfaltregelmäßig
vorderstePlätze.
Dochwas mussman davonhalten,
wenn ausgerechnetder Luxus-Weltmarkt-
führer LVMH weniger privilegiertenPer-
sonen für einenTageine Welt vorspielt,
die für siewahrscheinlichimmer uner-
reichbar bleibt? „Reden Sie mit denFrau-
en, wenn Sieglauben, dassdas nur eine
Werbeveranstaltung ist“, erwidertAn-
toine Arnault,Kommunikationschefvon
LVMH und Sohn des Mehrheitsaktionärs
und Vorstandsvorsitzenden BernardAr-
nault.Tatsächlichist vondiesen nurPosi-
tives zu hören. In Bussen hat man sie am
Vormittagvon ParisnachVersaillesgefah-
ren; gutgelaunt lassen sichdie Frauen un-
terschiedlicher Altersklassen, dievonder
Hilfsorganisation SecoursPopulaireaus-
gewählt wurden, durch das Schlossleiten.
In der berühmten Schlachtengalerie mit
den riesigen ÖlgemäldenvonFrankreichs
Siegenwarten mehrereDutzend Schmink-
profis auf sie. SechzehnFotostudios wur-
den aufgebaut.„Ichwar nochnie in Ver-

sailles. Davonhabe ichinden Schulbü-
cherngelernt–inTunesien,wo ichaufge-
wachsen bin“, erzählt eine 35-jährigeal-
leinstehende Mutter,die keine offizielle
Aufenthaltsgenehmigung hat und mit ih-
renbeiden Kindernineinem Hotelzim-

mer lebt, das ihr übergangsweise zurVer-
fügunggestellt wurde. „Das istein Tag, an
dem man alle seine SorgenzuHause las-
sen kann. Hierstehen wir mal im Mittel-
punkt“, freut sicheine 69-jährigePortu-
giesin ausParis ,die an den Händen behin-
dertist.HenrietteSteinberg, die General-
sekretärin vonSecoursPopulaire, beob-
acht et die Veranstaltung mit Genugtu-
ung. Dasssichihre Organisation fürWer-
bezwecke missbrauchen lässt,glaubt sie
keine Sekunde: „HörenSie, heute sind die-
se Frauen einmal nicht nur die Mutter
oder dieFrau vonSoundso. Sie dürfensie
selbstsein. Esgeht hier um viel mehr als
um das Schminken.Für einenTagstehen
dieseFrauen im Mittelpunkt, manküm-
mertsichumsie. HeuteAbend gehen sie
nachHause und ihreKinderwerden sie
ganz andersansehen“, sagtSteinberg.
SecoursPopulairewolle dieZusammen-
arbeit mitLVMH künftig ausweiten. In
den kommendenWochen werden die so
unterschiedlichenPartner dieVeranstal-
tung an fünf anderen OrteninFrankreich
wiederholen.

Aufder Such enachTalenten


Prinzessinfür einen Tag


FranzösischeKonzerne alsWohltäter/Hilfsor ganisationen machengern mit / VonChristianSchubert,Paris


Einmalverwöhnt werden Foto Schubert/FAZ

Software-Fachleute sind


gefragt. VW öffnetsich


fürneueWege:


Computerspie le sollen


Managerfit machen für


den Umbauder


Autobranche.


VonCarstenGermis,


Wolfsbu rg


BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER


Zu den Berichten über dasUrteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Suizid:
Ein schwarzerTagfür Deutschland.
Die Würdedes Menschen und dessen
Leben istnun nicht mehr unantastbar.
Laut obersten Richterbeschlussgibt es
nun dasRechtauf Selbstmord.Wieso
spielteman den Grundsatz der Men-
schenwürde (Artikel1GG) gegenden
Grundsatzder Freiheit derPerson (Arti-
kel2GG) aus? Sehen die Richter hier
keine Rangordnung? Sieht man nicht,
dassdie eigentliche Grundlagefür die
Freiheit derPerson, nämlichdas eigene
Leben, durch einen Suizid unwieder-
bringlichzerstört wird? Werschützt
michnun vormir selbstund vorden Er-
wartungshaltungenvonanderen?Wie
konnte sicheine solcheKultur entwi-
ckeln, die demSterben undTodimmer
mehrVorrang gewährt?
Icherinneremich, dasswährend mei-
nes Studiums in denNeunzigernein
Professor in einerVorlesung zum öffent-
lichenRecht stolz und erhabenverkün-


dete,dasserkein Naturrechtle rsei. Da-
mals verstand ic hdas nicht.Heuteist
mir klar,dassdie Rechtsauffassung die-
ses Professors, also dassdas Recht nur
auf demWillen des Menschen basiert
und nicht auchauf einer höheren
Macht, unter Juristenweit verbreit et
ist. Der Satz unserer GG-Präambel, die
nachder Schreckensherrschaftdes Na-
tionalsozialismusformuliert wurde:
„Im Bewusstsein seinerVerantwortung
vorGottund den Menschen ...“
scheintvergessen zu sein. Mankann
nur hoffenund be ten, dasssichnun die
gesetzgebendenPolitiker ihrerVerant-
wortung vorGottund dem Menschen
bewusst sind. Dasssie si ch bei der Aus-
gestaltung der betreffendenGesetze
am Naturrechtund ihrem Gewissen ori-
entierenwerden. Dochleider istder
Glaubensverlu st in unseremLand
schonweit fortgeschrit ten, wasdie Ver-
trauenskrisender jüngstenZeit zeigen.

MARK NIEDZIELLA, HEUSENSTAMM

ZumKommentar „RoteLinien“von
Klaus-Dieter Frankenbergerinder
F.A.Z. vom26. Februar :Die nun begin-
nende zweiteRunde der Brexit-Verhand-
lungen zwischen der EU und demVerei-
nigtenKönigreichsteht in derTatunter
eine mschlechten Stern. Esrächtsicher-
neut derFehler der EU,die künftigen
Beziehungen zwischen den beiden Part-
nernnicht vonAnfang anverhandelt zu
haben, wie es der EU-Vertrageigentlich
vorschreibt.Man kann Frankenberger
nur zustimmen in seiner Hoffnung auf
einen „interessengeleiteten Pragmatis-
mus“ auf beiden Seiten.
Damit sieht es allerdings nicht gut
aus. Die Grundmelodie hat der Ex-Spit-
zenkandidat ManfredWeber bereits an-
gespielt:„Wird der Brexit gefühlt ein Er-
folg, is terder AnfangvomEnde der
EU“. Setzt sichdiese Haltung durch,en-
detman in der Situation, dassdie eine
Seitevon Anfang an nicht auf einege-


meinsamgetragene zukunftsfähigeLö-
sung hinarbeitet,sondernauf einen
Misserfolg der Gegenseite. Man erkennt
also, wo die „No-Deal-Brexiteers“ tat-
sächlichsitzen, nämlichinBrüssel und
Straßburg.
Gewissist die EU an „gleichenWett-
bewerbsbedingungen“ interessiert–
aber siekann nicht erwarten, dassdiese
auf Dauer einseitigvonihr festgelegt
und kontrolliertwerden, so, wie sie sich
das in ihrem nunverabschiedetenVer-
handlungsmandatvorstellt.Da hilftes
nicht zumVerständnis derPartner,den
Briten „zerstörerisches“Vorgehen und
„Nationalismus“zuunter stellen. Man-
fred Weber hat ungewollt die fundamen-
tale Schwäche der Selbstwahrnehmung
der EuropäischenUnion herausgestellt.
Angstist ein schlechterRatgeber–auf
dieseWeise wirdman denKontinent
nicht in die Zukunftführenkönnen.

FRIEDRICHWOLF,ESSEN

Zu „Grenzen der Übergriffigkeit“
(F.A.Z.vom27. Februar): Das Thema
Sterbehilfeist kompliziertund schwer
überschaubar,wie Christian Geyerher-
vorhebt.Allein dieFrage, ob es auf der
Basis des allgemeinenPersönlichkeits-
rech ts überhauptein Rechtauf ein
selbstbestimmtesSterben und damit ein
Recht auf assistiertenSelbstmordgibt,
istmeines Erachtens nicht eindeutig zu
klären. Grundsätzlich istder Todimmer
etwas, das auf den Menschen „von au-
ßen“ trifft.Erkommt nicht aus ihm
selbstheraus. Auch wenn eine entspre-
chende Dosis einestodbringenden Medi-
kamentsgenommen wurde,kann der
Todeszeitpunkt nichtexakt vorausgese-
hen werden.
Eine Autonomie desMens chen in Be-
zug aufFragen über den eigenenTodist
damit nichtgegeben. Der auf den Philo-
sophen ImmanuelKant zurückgehende
Gedankeder Autonomie,dasssichder
Menschalso selbstdas moralische Ge-
setz gibt, isthier meines Erachtens
falsch verstandenworden. Außerdem
darfnie vergessen werden, dassein
Menschmit Todeswunschdas Gewissen
vondemjenigen, den er mit der Hilfe
beim Suizid, also der Beihilfezum
(Selbst)mord, beauftragt, schwer belas-
tet, da ervonihm dieTötung eines Men-
schen verlangt.Theologischgesehen
schenkt Gott das Leben. Ihm allein ist
es vorbehalten, es auchwieder zu neh-
men. Alle anderen Handlungenste hen
gegendas 5. Gebot: „Du sollstnicht mor-
den!“ (Ex. 20, 13 u. Dtn. 5, 17)Fürden
Menschen gilt vielmehr,dasserdas Le-
ben wählen soll: „Leben undTodlege
ichdir vor, Segen und Fluch. Wähle
also das Leben, damit du lebst, du und
deineNach kommen.“ (Dtn. 30, 19) So
heißt es im AltenTestament.
Aber auchüber diese philosophi-
schen und theologischenFragen hinaus
istdie jüngste Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts, den Para gra-
phen 217StGB zu lockern und die „ge-
schäftsmäßigeBeihilfezum Suizid“ zu
erlauben, nicht unproblematisch.Aus
der gewerblichen Assistenz zum Suizid
kann un terUmständeneineDrucksitua-
tionfür alt eoderunheilbarkrankeMen-


schen,gleichwelchen Alters, entstehen
oder indirekt aufgebautwerden, sich
dochfür einen Suizid zu entscheiden.
Die Freiheit der Entscheidung zum frei-
willigenTodkönntedadurch aus mei-
ner Sicht deutlichbeeinträchtigtwer-
den. Der„Akt autonomer Selbstbestim-
mung“, als den dieVerfassungsrichter
den assistiertenSuizid ansehen,wäre
damit nicht mehrgegeben, ebensowe-
nig ein Rechtsanspruchauf Tötung.
Der Grund dafür ist, dassPersonen, die
sehr alt oder unheilbar krank sind, na-
turgemäß nicht mehr in einerstarken,
freienVerhandlungsposition sind. Gera-
de hier gilt es, dieUnantastbarkeit der
Menschenwürdedieser Personen beson-
derszus chützen. Das Gegenteil scheint
jetzt derFall zu sein.
Außerdemfolgen verschiedeneweite-
re Probleme nach:Wiemüssen Arznei-
mittelgesetz und Betäubungsmittelge-
setz geändertwerden, um zu den ent-
sprechendenMedi kamenten einenrei-
bungslosen Zugang erhalten zu kön-
nen? Hierkönntesichdie Gefahr des
Missbrauchsvongefährlichen Arznei-
mitteln ergeben. Dochzunächstmuss
das Verfahrengeschäftsmäßiger Suizid-
beihilfevom Bundestag gesetzlichneu
geregelt werden.Obsichmit demvorlie-
genden Urteil also die gewünschte
Rechtssicherheit fürSterbewilligeund
Ärzt eeinstellen wird, istnoch keines-
wegs sicher.
Ausmeiner Sichtwäre es sinnvoller,
die Palliativmedizin, die sicher auch
Fragen der Sterbehilfeumfas st,und
auchdie Hospizbewegung weiter zu
stärkenund staatlichzufördern. Hier
besteht die Möglichkeit, vielenMen-
schen einen würdevollen WegamEnde
ihres Lebens zu ermöglichen, derweit-
gehend vonSchmerzen befreit, aber
nichtvomDruck überschattet ist, end-
lichaus dem Leben zu scheiden, umkei-
ne Belastung für dasUmfeld mehr sein
zu müssen.Ruhe und Begleitung, nicht
zuletzt seelsorgliche, sind fürPersonen
am Ende ihres Lebensweges allemal
wichtigerals geschäftsmäßige Fragen ei-
nes assistiertenSuizids.

PROFESSORDR.HANSOTTOSEITSCHEK,
MÜNCHEN

Vertrauenskrise und Glaubensverlu st


Zu den Berichten überSterbehilfe: Die
Mütter undVäte rdes Grundgesetzes
formuliertenals dessen Artikel1Ab-
satz 1: „DieWürdedes Menschenist un-
antastbar.Sie zu achten und zu schüt-
zen istVerpflichtung allerstaatlichen
Gewalt.“ Damitgrenzten sie sichvon
den Verbrechen derNazi-Diktatur ab
und bekannten sichzur Freiheits-und
Humanitätstraditionder deutschen Ge-
schichte.Zugleichcharakterisiertensie
das ethische Fundamentder Verfas-
sungsordnung und des Staatswesens,
welche durch dieses Grundgesetz er-
richtetwurde, als den Menschen zuge-
wandt.Das Bundesverfassungsgericht
scheint dieses Bekenntnis (und dies


nicht zum erstenMal) als Einfallstor
für jede Artvon unbegrenztem Indivi-
dualismus anzusehen, ohne sichzufra-
gen, wasdies in derWirklichkeit für die
Gesellschaftund für die Menschen in
dieser Gesellschaftbedeuten wird. Es
istdaher Daniel Deckers zu danken,
dasserinder F.A.Z. vom27. Februar
kritischhinterfragt, ob der selbstge-
wählteSuizid „wirklichein Akt der
Selbstbestimmung“ sein wird. Die un-
übersehbarenFolgen dieser Meinung in
andereneuropäischen Ländernspre-
chen jedenfalls eindeutig dagegen.

PROFESSORDR.DR. H. C.HANSJOACHIM
MEYER, POTSDAM

Schwäche in Brexit-Verhandlungen


Keine freieVerhandlungsposition


Unbegrenzter Individualismus

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