Frankfurter Allgemeine Zeitung - 24.02.2020

(Wang) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG,24. FEBRUAR2020·NR.46·SEITE 11


D


ie drei Opern, die Wolfgang
Amadeus Mozartund sein Li-
brettistLorenzo DaPontezwi-
schen 1786 und 1790 zusam-
men auf die Bühnegebracht haben, las-
sen uns einfachnicht los. Sie fragen sich,
warumLiebe wohltut,warumLiebe weh
tut undwarumLiebe aufhört. Sie fragen
sich, ob die sexuelle Befreiung die Men-
schenglücklicher macht, ob das Endevon
Standesunterschieden und damit die
Überwindung vonhierar chischem Sex
nicht gleichzeitig den Druckder Selbstver-
antwortung in der GestaltungvonPart-
nerschaftenerhöht und ob die spieleri-
sche Seiteder Er otik verlorengeht,wenn
wir ständig dieAufrichtigkeit unsererAb-
sichtenverbürgenmüssen.
In Brüssel, am Théâtr edelaMonnaie,
greifen die beidenRegisseureund Kos-
tümbildnerJean-PhilippeClarac und Oli-
vier Delœuil dieseFragen auf,weil sie dar-
in jene unserer eigenenZeit er kennen.
„Warum Liebewehtut“ und„Warum Lie-
be aufhört“ sind schließlichTitel vonBü-
chernder Soziologin EvaIllouz, die viel
diskutiertworden sind.Undderen These
vonder Kommerzialisierung unserer Ge-
fühle, der wechselseitigen Durchdrin-
gungvon Romantik undKapitalismus,ge-
rätinden Videos vonJean-BaptisteBeïs
und Timothée Buisson schon allein da-
durch ins Bild, dassbei denFernsehnach-
richtenüber dem Schriftband mit den Bör-
senkursen einweiteres mitReizwor ten
unserer aufgeregten Diskurssimulationen
durchläuft: „Hedonismus oder Nihilis-
mus? SexuelleFreiheit für alle? DieZu-
kunftist queer! Für mehr Geschlechterdi-
versität!“ Dazwischen gibt es auf der Büh-
ne immer mal wieder Echtmenschen-De-
monstrationen fürUnisextoiletten oder
gegendie Homoehe. Daswechselt von
Oper zu Oper, bleibt sichaber imWochen-
mittel ziemlichgleich.

DennPeterdeCaluwe, der Brüssler In-
tendant, der nachdreizehn Jahren in Bel-
giens Hauptstadt gernan diePariser Oper
gewechseltwäre, hatsichjetzt mi tden Re-
gisseuren Jean-Philippe Clarac und Oli-
vier Delœuilanein ehrgeiziges Experi-
ment gewagt: Alle drei Opern–„Le nozze
di Figaro“, „Don Giovanni“ und „Cosìfan
tutte“–werden nicht nurvonden glei-
chen Regisseuren inszeniert, spielen
nicht nur imgleichen drehbaren Mehrzel-
len-ContainervonRick Martin,kommen
nicht nur mit dengleichen dreizehn Ge-
sangssolisten, demgleichen Orchesterun-
terder Leitungvon Antonello Manacorda
aus –nein, sie erzählen auchalle drei die
Geschichtedes gleichentollen Tagesaus
drei verschiedenenPerspektiven.
Video-Einspielungen und figürliche
Überschneidungen, musikalische Ein-
sprengsel aus benachbartenStücken, Auf-
teilungenvonArien aufverschiedeneFi-
gurenverzahnen alle drei Opernmitein-
ander:Alfonso, der Inhaber eines Buchla-
densfür schwule, lesbischeund Transgen-
der-Literatur,singt beispielsweise in
„Cosìfantutte“ nocheinmalFigarosver-

nichtendesUrteil über dieFrauen, denen
man nicht trauenkönne. Wenn in „Don
Giovanni“ ElviraamEnde klagt, ihr
Mann habe sie insUnglückgestürzt, aber
ihr Herzhängenochimmer an ihm, so
singt im Schlafzimmer darunter die Grä-
finaus dem „Figaro“ einigeZeilen an An-
nas Stelle. Die Gräfin istKundin in der
DamenboutiquevonDespina aus „Così“;
der tote Komtur in „Don Giovanni“ wird
vonden „Così“-FeuerwehrmännernFer-
rando und Guglielmo–die gleichzeitig
Rettungssanitäter sind, dieRegisseurema-
chen dakeinen Unterschied –imNacht-
club Giovannis geborgen, wo er einen
Herzinfarkt erlitt, nachdem er seine be-
reits mit dem Architekten Ottavio verlob-
te Tochter ,die Cembalistin Anna, beiFes-
selspielen mit dem Club-Inhaber Giovan-
ni er tappthatte. UndCherubino aus dem
„Figaro“ istder SohnvonGiovanni und
der Augenärztin Elvira.
In welcherReihenfolgeman die drei
Opernsieht, istvöllig belanglos. Man
kann sie drehen wie das Bühnenbild. Es
werden dabei zwar Beziehungen herge-
stellt, aber dieseVerknüpfungen erklären
nichts.Auchdie Entwicklung innerhalb
der dreiStücke wirdgeleugnet. Man kann
ja mit gutemRecht im „Figaro“ das utopi-
sche Idyll eines Geschlechterverhältnis-
ses sehen, in dem eskeine Rechts ansprü-
chemehr gibt,sondernnur Begehren, Ge-
währen,Verzeihen. Dieses Idyll derFrei-
heit schlägt im „Giovanni“ um ins Dämo-
nische, in „Così“ schließlichindie Krise
bürgerlicherAufrichtigkeit und derro-
mantischen Liebeals Passion.
Aber an Entwicklungen sind Clarac
und Delœuil nicht interessiert. Es gibt bei
ihnen nur einenrasendenStillstand fle-
xibler sexueller Identitäten und Orientie-
rungen, ohneFestlegungenvonIch und
Du, nur das Elendvondurchökonomisier-
temGelegenheitssex.Unddeshalbver-

öden auchtheatralisch die Beziehungen
zwischen denFiguren.Wenn de rgroßarti-
ge Alessio Arduini als Leporello seineRe-
gisterarieüber die Eroberungen Giovan-
nis singt, dann sitzt LennekeRuiten, die
als Elvirajadie Adressatindes Gesangs
sein müsste, auf dem Sofaeines Nach t-
club sdumm rum, während eineNac kttän-
zerin ihrtät owiertesSitzorganbeim Tur-
nen um eineStangekreisen lässt.
Der CembalistLucaOberti unddie Cel-
listin AmyNorringtongeben sichalle
Mühe ,inden RezitativenTempound Ton-
fall des Sprechens psychologischgenau
zu definieren, ohne dabei in die neuer-
dings so beliebteVorwitzigkeit des Zitie-
rens undVorwegnehmensvonMotiven
zu verfallen.Aber die Szene lässt vonder
musikalischen Spannung nichts erken-
nen. Mozartbeschreibt in seiner Musik
Zuwendung und Scheu,Lust und Beklem-
mung,Ungestüm und Zögern,Zutrauen
und Argwohn seinerFiguren. Manacorda
stellt mit dem Symphonischen Orchester
des ThéâtredelaMonnaie auchviele die-
ser Gemütszustände her,besonders
schön den melancholischenTaumel der
Herzen in „Cosìfantutte“, diesen harmo-
nischund farblicherfassten Drehschwin-
del aus Eros und Schuld. Dochdie Taten
der Musikwerden auf der Bühne nicht er-
sichtlich. Das Desinteresse derRegie an
den Figur en –die nichts als Dekor für ein
Zeitdiagnosen-Surrogatsind –erzeugt
auf Dauer Langeweile und Müdigkeit.Es
gibt weder Ziel nochFokus.
GegenüberMozarts hörbarer psycholo-
gischer Plausibilitätfällt dieRegie steil
ab. Man fragt sich:Wiewahrscheinlichist
es denn, dassein Tattoos techer und Hips-
terwie Masettosich mitZerlina eine Mus-
limin zur Braut nimmt, die nochamHoch-
zeitstagdas Kopftuc hträgt, aber mit ihm
in Giovannis Nach tclub zumFeierngeht?
Wiekommt eineYoutube-Influencerin

wie Dorabelladazu,sichbeim Sexmit Gu-
glielmo durch das Smartphonefilmen zu
lassen,wo sie dochals Professionelle je-
des sorglose Verhältnis zur digitalenTech-
nik verloren haben dürfte? Gerade noch
so durchgehen kann, dassCherubinosei-
ne Canzone „Sagt, holdeFrauen“quasi
als Handy-Video vorspielt, um der Gräfin
seine narzisstischen Geschlechtertausch-
Phantasien auszubreiten. Sex–das is tfür
ihn ir gendwas mit Männernund Frauen,
also vongestern.Darüberist er hinaus.
Ginger Costa-Jackson singt diesen Che-
rubino –und später die Dorabella–aber
mit einem durchaus virilen Mezzosopran
wie einen Ritter aus einer Händel-Oper.
Simona Šaturováfehlen als Gräfin und
als Donna Anna stimmlicheFülle und
Wärme, dochwenigstens findetsie für
die Verletzlichkeit und die seelische Be-
schädigung ihrer Figurenanrührende
Töne. Sophia Burgos scheint sichmit der
zartenZerlinawohler zu fühlen als mit
der Partie dergewitzten Susanna. Die
StimmevonLennekeRuiten istsowohl
für dieFiordiligi als auchfür die Elvirazu
klein und dünn. Daverfügt Caterina di
Tonno als Barberina und Despina über
viel mehr Kraft, aber auchSüße.
Es sind die Männer,die dieser Produkti-
on, die ihrenkonzeptionellen Ehrgeiz im
Detail nicht einlöst, sängerischzueinem
wenigstens achtbaren Niveauverhelfen:
Juan Francisco Gatell alslyrische rFerran-
do und Ottavio mit unendlichemAtem,
Iurii Samoilovals ebenso kraftvoller wie
feiner Guglielmo und Masetto, Riccardo
Novaro als be weglicher ,abgefeimterStrip-
penzieher Alfonso und Antonio sowievor
allem das überragende Duo BjörnBürger
(Graf/Giovanni) und Alessio Arduini (Fi-
garo/Leporello). Das sind zwei Sänger
mit elegantem Bariton, plastischer Dikti-
on undflinker Spielfreude,die jedem
Haus Ehremachen würden.

Es gabein wunderbares Ritual im Haus
vonYona Friedman.Wenn Studenten ihn
besuchten in seiner nicht besondersgro-
ßen Wohnung am Boulevard Garibaldi,
nahmen sie auf demFußboden Platz, und
Yona Friedmankamirgendwann aus dem
Nebenzimmer,woernochein paar Skiz-
zen und sein iPadgesucht hatte, und be-
grüßtedie Gäste mit einer erstaunten Lie-
benswürdigkeit, wie jemand, der unerwar-
tetineinem Dickicht auf eineverlorene
GruppevonAbenteuerntrifft.
Eigentlich waresein Ding derUnmög-
lichkeit, dieseWohnung imPariser 15. Ar-
rondissement, dieFriedman seit 1968 be-
wohnte, überhauptmit mehr als drei Leu-
tenzubetreten, so sehrwarsie mit Model-
len, Zeichnungen, Souvenirs, Dingen,
Kleinkram überwuchert: In Friedmans
Wohnung zugehen war, wie das Gehirnei-
nes Architekten zu betreten, hineinzuge-
hen ins DickichtvonErinnerungen, Ent-
würfen, Assoziationen, Ideen:Zettel kleb-
tenander Scheibe,Kollagen überzogen
die Wände, Objektehingen anFäden von
der Decke,Pappmodellestapelten sichzu
halsbrecherischen Phantasiestädten auf.
Yona Friedman,geboren 1923 inUn-
garn,hat in seinem langen Lebenfast
nichtsgebaut;dasserdennochals einer
der wichtigstenArchitekten des 20. Jahr-
hunderts gilt,verdankt sichseinem enor-
men theoretischenWerk,den Denkgebäu-
den, die manchmal dieForm vonTrakta-

ten, manchmal dieForm poetischer Mo-
delle annahmen.Werihn treffenwollte,
musstekein Vorzimmer anrufen,keine
Bittschreiben verfassen: SeineNummer
stand imPariser Telefonbuch.Wenn man
ihn anrief, hörte man einefeine Stimme,
die zögernd „Oui, Allô?“ fragte, und dann
fuhr man einfachzuihm: Er freutesich
über jeden, der mit ihm über Architektur
oder das Lebenreden wollte.
Noch imvergangenen Jahr,mit 95, als
er schon fasttaub war, empfing erStuden-
tengruppen aus allerWelt, dieStudieren-
den schrieben ihreFragenauf einenZet-
tel, undFriedman saß an seinem Tisch,
schlug die Beine ineinander und beantwor-
tete alle Fragen mit dergrößten denkba-
renGeduld und hielt einstündigeimprovi-
sierteStegreif-Vorträgeüber dieWichtig-
keit des Improvisierens. Er sprachimmer
wieder darüber,wie er als ungarischer
Jude den ZweitenWeltkrieg nur knapp
überlebte, wie er nachHaifaging und dort
als Architekturstudent die Gründung Isra-
els erlebte; wie er Mitteder fünfziger Jah-
re nach Parisübersiedelteund ein Mani-
fest publizierte, das denVerlauf der Archi-
tekturgeschichte ändernsollte. Mit seiner
1956vorgestellten Ideeeiner „mobilen Ar-
chitektur“ hatteFriedman einen derfol-
genreichstenGegenentwürfe zum techno-
kratischen Planungsfetischismus der klas-
sischen Modernegeschaf fen. IhrenRas-
tern setzt eerdie IdeevonflexiblenStruk-

turen entgegen, in denen die Bewohner
„mobil“ sein und mitWandelementen ma-
chen können,wassie wollen.
Friedman, ein früher Theoretiker der
„Superimposition“,wolltedie altenStädte
und Plätze nicht abreißen wie die Brachi-
alavantgardistenvorihm, erwolltesie in
die Höheverdichten: 12 Meter hohe Pylo-
nen tragen in seinen Plänen einRaster
von20mal 24 Metern, dasvonzwölf Me-
terbreiten Straßen durchzogen wird. In

diesenParzellen sollteman Gras säen, Bu-
den bauen, Plätze, Apartments, Läden,
Theaterbühnen, Open-Air-Kinos errich-
tenkönnen. Seine„Ville spatiale“warein
Versuch, dieStadt auchals sozialesKon-
strukt mobil zu machen.WährendFried-
man als einflussreicher Lehrer in
Princeton, Harvard und an der Columbia,
auchals UN-Beauftragter,die Ideevonfle-
xiblen Selbstbau-Systemen bis nachAfri-
ka und Indienverbreitete, zeigtezuerst
Mosh eSafdie, dersichgroßzügig beiFried-
mansIdeen bediente, wi eeine Ville Spatia-
le gebaut aussehenkönnte. Safdiemachte
mit seiner Habitat-Siedlung 1967 in Mont-
real aus derRaumstadt einen aus Einzel-
häusernzusammengewürfelten skulptura-
len Wohnbergmit Dachterrassen –eine
Raumstadt im SinneFriedmans und sei-
ner Ideevonpartizipatorischem Do it
yourselfwardas aber nicht.Als urbanes
Phänomenkommt dieFavela mit ihren im-
provisiertenHütten dem Bricolage-Cha-
rakter derFriedman‘schen Idee vielleicht
am nächsten; sie istsozusagen eine prekä-
re Raumstadt ohne planerisches Gestell.
Friedmanwarein großer Ermöglicher
und Ermutiger,vielleicht dergrößteOpti-
mistseiner Generation, und dergrößte
Menschenfreund. Er zeigtenochweit
nach seinemneunzigsten Geburtstag zahl-
losenStudenten, wie man jenseitsvonIn-
vestoreninteressen, ja sogar „ohne Archi-
tektur“ baut, wie sichaus Bambus, sogar

aus Hula-Hoop-Reifenstabile Türmeer-
richtenlassen, wiewenig es braucht, sich
ein Habitat zu schaffen. Erwarder er ste
Grasroot-Denker in einer Branche, die im-
mer mehr daranglaubte,große Ideen nur
mit enormenBeton- un dGeldmengenum-
setzen zukönnen. Immer wieder plädierte
er für das Leichte, Improvisierte, ständig
Anpass- undVerwandelbare, für das Ein-
nistenund dasÜberbauen des Bestands
als Strategie,für die Ermächtigung derer,
die sichbauen eigentlich nicht leisten lön-
nen; die Herstellungteurer ,CO 2 -intensi-
verBetongebildewarihm vorallem im Al-
terzunehmend suspekt.
Einmalkamesins einerPariser Woh-
nung zu einem kleinenZwischenfall:Auf
dem Boden seines Arbeitszimmerssaßen,
wie so oft, eng zusammengedrängt dieStu-
denten,Friedman zerrtedas Pappmodell
eines Stadions aus den höheren Etagen ei-
nes Regals, in dem aber offenbar gerade
seineKatze eingezogenwar. Die Katze
sprang erschrockenheraus,streckte die
Pfoten aus, sah, dassdie Landebahnvon
Studenten blockiertwar und sprang miau-
end über derenKöpfehinwegins Neben-
zimmer.Friedman lächelteerstaunt und
sagte: „Seht, für uns istesdas Modellvon
etwasenormGroßem; für dieKatze is tes
ein richtig gutes Haus.“
Am vergangenenFreitag istYona Fried-
man, derVordenker einer leichten, sanf-
ten, wenig invasiven Moderne, im Alter
von96Jahrengestorben. NIKLAS MAAK

In Don Giovannis Nachtcl ub gibt es mehr als Sexvonder Stange: KrankenschwesterElvira(LennekeRuiten) und Lederluder Anna(SimonaŠaturová, beide Mitterechts) freuen sichauf lustigeRollenspiele. FotoKarlForster

Yona Friedman Foto Ddp Images

Irgendwas mit Unisextoiletten und Homoehe


Vordenker einer sanften, wenig invasiven Moderne


Er hatfast nichts inStein gebaut, istaber einer der wichtigstenArchitekten desvorigenJahrhunderts:ZumTode vonYona Friedman


Ein Lehrstück, wie die Liberalisie-
rung der Suizidbeihilfedie Kultur der
Medizinverwandelt, istjetzt nachzule-
sen im renommierten„NewEngland
Journal of Medicine“ (6. Februar
2020 ).DortberichtenkanadischeÄrz-
te über dreißigFälle er folgreicher Or-
ganentnahme, nachdem die Spender
ein tödliches Giftselbsteingenom-
men hatten oder diesvonÄrztenver-
abreicht wurde.
In abstrahierenderWeise sprechen
dieBerichterstatter nichtvonTötungs-
handlungen. Die Mediziner bevorzu-
gendas KunstwortMAID: medical as-
sistanceindying. Ob als Suizidhilfe
oder aktiveSterbehilfe, MAID istseit
dem Jahr 2016 aufgrund eines Spru-
ches des höchsten Gerichts inKanada
entkriminalisiert. Die Autorengehen
vonmindestens zweitausendFällen
im Jahr aus. Darin erkennen Ian Ball
und RobertSibbaldeine attraktive
Ressource für die Organspende. Sie
rückt das medizinischbeschleunigte
Sterben in ein positives Licht, umgibt
es mit dem Anspruchdes Altruismus.
MancheTransplanteureinden Ver-
einigten Staaten erhoffensicheine
Fortentwicklung der Ethik der Organ-
spende, wie es in einemKommentar
heißt.Dortist Suizidbeihilfeineini-
genBundesstaaten zulässig. Siewol-
len zudem dieRegelaufgeben, nach
der ausschließlichvon Verstorbenen
Organe entnommenwerden dürfen.
Dennwernur einwenig mit den Pro-
blemen desFunktionserhalts der Or-
gane einesSterbenden zum Zwecke ei-
ner Transplantationvertrautist,weiß,
dassessehr unpraktischist,abzuwar-
ten, bis Kreislauf und Atmungversa-
gen. Daskann dauernund geschieht
graduell–auf eineWeise, wie es sich
eben mit dem Sterbenverhält.Doch
dies schadetder Qualität der Organe.
Gewinnbringender für dieTrans-
plantationsmedizinwäre es, Organe
etwasfrüher zu entnehmen. Dann
wirddie Explantation zumtodbrin-
genden Akt.Auchdies is tunschön
und will den Befürworternsolchen
Vorgehens nicht leicht über die Lip-
pen gehen. Daher haben sie auchda-
für ein leichtervermittelbares Akro-
nymerfunden, das denVorgang be-
schreibt:LD-PPW (livedonation
prior to planned withdrawal). Wasso
viel heißt wie: Organentnahme zu
Lebzeitenvorder Beendigung lebens-
erhaltender Therapie.
EinigeÄrzte,die sic handen lebens-
beendendenPraktikenin Kanada be-
teiligen, wie der AnästhesistBill
Wong, sehen dieVerbindung mit der
Organspende kritisch.TotkrankePa-
tientenkönnten zum Sterben mit dem
Nebeneffekt einer Organspendege-
drängtwerden. Wong berichtet von
Patienten, die nichtwagten, den ein-
mal gefasstenEntschluss, mittels
MAID zusterben, rückgängig zu ma-
chen, weil sie diesvorAngehörigen
nicht zugebenwollten.Wieviel stär-
kerwäreder Druck, wenn die Erwar-
tung einer sozial erwünschten Organ-
spende hinzutritt.
Anderewollenkein ethisches Pro-
blem erkennen, plädierenaus takti-
schen Gründen für Zurückhaltung.
Der TransplantationschirurgJoshua
Mezrichberichtetvon demFall eines
Patienten mit fortgeschrittener Er-
krankung, der in die Entnahme einer
Niereunter Narkose einwilligte.Kurz
nachdem Eingriff sollte, so der Plan,
die dafür notwendigemaschinelle Be-
atmung abgestellt werden. Begren-
zung einer nicht erwünschten Thera-
pie is tdas gut eRecht eines jeden. Mez-
rich befragteEthikkommissionen und
ließ sichanwaltlichberaten. Letztere
rietenab. Zudem fürchtete Mezrich,
in der ÖffentlichkeitAbscheu zu erre-
genwegen des nicht andersals trick-
reichzunennendenVorgehens. Es be-
stehe die Gefahr,der Sache derTrans-
plantationsmedizin zu schaden.
DochbedauertMezric hden Verlust
nützlicher Organe. Dieskommentier-
te sein Kollege, der Pionier derTrans-
plantationsmedizin TomStarzl, mit
den Worten, Mezrichhabe gezeigt,
wie man eskeinesfalls tun solle. Ge-
meint istdie Befragung einschlägiger
Kommissionen undRechtsgelehrter.
Man solle einfachvorwärtsgehen und
machen, soStarzl. Zu viel Skrupel
schaden nur,darfman schließen. Das
meinen auchRobertTruog, Medizin-
ethiker der Harvard-Universität, und
RobertMontgomery, Chir urgaus
NewYork. Ärzt eseien traditionell zu
zögerlichund ethische Debatten hin-
derlich. Die Bürgerdagegen ließen
sichdafür mobilisieren, Grenzen zu
erweitern.
Mandarfgespannt sein, ob das Bun-
desverfassungsgericht auchhierzulan-
de Grenzen zu erweiternsucht. Das
Festhalten am Hirntod alsVorausset-
zung der Organentnahme in Deutsch-
landistnochein (technisches)Hinder-
nis. Sollteaber das sonstunbestritte-
ne Rechtzur selbstbestimmten Le-
bensführung –entgegen dem Ein-
wand einer Gefahrenabwehr für viele
–auchdie geschäftsmäßigeHilfe
beim Selbsttöten rechtfertigen, dann
kann der freiwilligen Instrumentalisie-
rung desSterbens zum guten Zweck
einer Organentnahme nichts entge-
genstehen. STEPHANSAHM


Ein toller Tagaus drei


Perspekti ven: Am


Théâtre de la Monnaie


werden die Opernvon


Mozart und Da Pontezu


eine rverzahnt.


VonJan Brachmann,


Brüssel


Für gute


Zwec ke


Suizidbeihilfe


als Innovationsfaktor?

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