FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG,24. FEBRUAR2020·NR.46·SEITE 13
W
enn dieVerantwortlichen in
Bundesregierung und Bun-
destagjetzt nicht alles in ih-
renMöglichkeiten Liegende
tun, umweitere, ja absehbareAmokläufe
mit legalenWaffen zuvermeiden, dann
sind sie auchdafür mitverantwortlich:
weil sie die nächsten Mordserien begünsti-
gen, indem sie das Morden erleichtern, da
sie es nicht wirklicherschweren.“
Mit diesenWorten hatteich als Sach-
verständiger im Bundestags-Innenaus-
schus s2009, nachdem Schulmassaker ei-
nesSportschützen inWinnenden, einVer-
bottödlicher Sportwaffengefordert. Die
Reaktionenwarenheftig. Einen „unver-
schämtenVorwurf“ nannteesder Innen-
experte der CDU/CSU-Bundestagsfrakti-
on ReinhardGrindel. DerAusschusvorsit-
zende, Sebastian Edathy(SPD),tates
kühl alsUnterstellung ab.
In den zehn Jahren seit der Pseudover-
schärfung desWaffenrechts 2009 hat die
Initiative„Keine Mordwaffenals Sport-
waffen!“ mehr als hundertweiter eTodes-
opfer dokumentiert. Seit 1990 sind in
Deutschland mehr als 270 Menschen mit
Waffen vonSportschützengetöte twor-
den (ohne Suizide, siehe: http://www.sport-
mordwaffen.de).
Der Chor derVerklärer säuselt nach
dem zehnfachen Mordeines Sportschüt-
zen in Hanau in dervergangenenWoche
wiederungeniert: DerDeutscheSchützen-
bund spricht den Angehörigen der Opfer
zunächsteinmal „unsereaufrichtigeAn-
teilnahme aus“. Man sei „fassungslos“.
Unddassder TäterSportschütze ist, ma-
che„die Tatfür den Deutschen Schützen-
bund nochunvorstellbarer“.
Dochsolle nun nicht „das gesamte
Sportschützenwesen in Fragegestellt“
werden: „Das deutscheWaffenrecht gilt
als eines der schärfstenweltweit, Sport-
schützen als legaleWaffenbesitzer zählen
ohne Zweifel zu dem amstärkstenkon-
trolliertenund zugleichgesetzestreuesten
Personenkreis in Deutschland.“ Die
Schützen würden auf ihreZuverlässigkeit
überprüft. „Es gibtgenügendKontrollen
für Sportschützen!“, behauptet DSB-Vize-
präsidentWalter Wolpert. Einen General-
verdacht gegenüber Sportschützen lehne
der DSB ab. „Gegen menschlichesFehl-
verhalten und kriminelle Energie helfen
die bestenGesetze nicht.“–Man staunt
über eine solche Bereitschaftzum Lügen.
Die deutscheWaffenlobby–allen vor-
an der sichstets sportlichgebende Deut-
sche Schützenbund–bekämpftwirksame
Waffenrechtsverschärfungen seit Jahr-
zehnten.Unddie der LobbyhörigenPoli-
tiker sekundieren auchnachden Hanauer
Mordenweiter wiegewohnt:Man habe
bereits heute eines derstrengstenWaffen-
gesetze inganz Europa, bekräftigt der
stellvertretende Vorsitzende der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei.
SPD-ChefNorbertWalter-Borjanswarnt
davor, jedenfestzusetzen, derKommenta-
re im Internetveröf fentlicht und einen
Jagdschein hat. Bundesjustizministerin
Christine Lambrecht (SPD) meint:„Waf-
fenbesitzerwerden sowieso schonregel-
mäßigkontrolliert.“
BayernsInnenministerJoachim Herr-
mann (CSU)fordert, „erst mal alles sorg-
fältigstzuermitteln“, undverweistwie-
der einmal auf die vielen illegalenWaf-
fen. Es gebe „keine hundertprozentigeSi-
cherheit“.Trotzder Schützenvereins-Mit-
gliedschaftdes HanauerTäters „gibt es
keinen Anlass, das jetzt insgesamt alles in
Fragezustellen“.
Der nacheigenerAussage„bayerische
Schützenminister“ und Sportschütze Joa-
chim Herrmann warntdavor,„Schützen
und Jäger unter Generalverdacht zustel-
len“. Die „überwältigende Mehrheit ist
vollkommen zuverlässig undverantwor-
tungsbewusst“.
Der stellvertretende Bundesvorsitzen-
de der Gewerkschaf tder Polizei JörgRa-
dek, betont undurchdachteRufenachGe-
setzesverschärfungen seien nicht ange-
bracht.Auchder Bundesvorsitzende der
Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer
Wendt, meint, man solle „erst einmal die
Ermittlungen abwarten“, bevor„politi-
sche Forderungen erhobenwerden“. Man
dürfe „nicht alle Sportschützen unter Ge-
neral verdacht stellen“. (Schon nachden
Sportschützen-Amokläufen in Winnen-
den und Lörrach hat Rainer Wendt 2010
erklärt: „DasWaffengesetz istgut und
reicht aus.“)
Gepanzerte Herzen,verschlossene Oh-
ren, keine Scham. So dreht man sichbe-
quem im Kreis, im Kreislauf derFolgenlo-
sigkeit.Auchnachdem Massaker in Ha-
nau soll das kriminell lasche deutsche
Waffengesetz wieder nicht wirksam ver-
schär ft werden: „Wir können jetzt dar-
über nachdenken, ob wir nochein, zwei
Vorschriften imWaffenrecht nochweiter
verschärfen“, sagt der innenpolitische
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfrakti-
on, Mathias Middelberg.„Wir überprüfen
das, wir sehen uns das auchnoch mal an.“
Man werde„waffenrechtlicheKonsequen-
zen sehrgenau prüfen“,versprichtUni-
onsfraktions-VizeFrei. „Gleichzeitigmüs-
sen wirverhindern, dassfür Sportschüt-
zen und Jäger zusätzliche Bürokratie ent-
steht, diekein Mehr an Sicherheit bringt.“
SPD-Chef Walter-Borjans meint, man
müsse sichdas Waffenrecht „immer wie-
der angucken“. Bundesjustizministerin
Lambrecht will sichdie Kontrollpraxis
„genau anschauen“.
Über dasWaffenrecht nachdenken–es
überprüfen, ansehen, angucken, anschau-
en. Dochändernwollen si ewenigund ver-
weisen allesamt auf die jüngste Waffen-
rechts-Novelle: „Wir haben dieRegelan-
fragebeim Verfassungsschutz und eine
Begrenzung der Magazingrößen beschlos-
sen, damit nicht schlimmste Unglücke an-
gerichtetwerden können“ (Thorsten
Frei). Durch die Regelabfragesei es mög-
lich, genau zukontrollieren, „inwelchen
Händen die Waffen liegen“ (Christine
Lambrecht).
Tatsache ist, dassSportschützen–wie
vomDSB gefordert–weiterhin
30-Schuss-Magazine für ihrePistolen ver-
wenden dürfen(wie sie unter anderem
die Sportschützen-Amokläufer in Erfurt
und auf Utøya benutzt haben).Undnur je-
nen Extremisten, die bereits beimVerfas-
sungsschutz aktenkundig sind,kann un-
terbestimmtenUmständen dieWaffenbe-
sitz karteverweiger twerden. Der Ha-
nauer MörderTobias R. istvor derTatwe-
der derPolizei nochdem Verfassungs-
schutz aufgefallen.–„Er wartotal unauf-
fällig“, sagt derVorsitzende seines Schüt-
zenvereins, „immer nett und freundlich“.
D
ie nun wiedervorgeschlagenen
psychologischenUntersuchun-
genfür Legalwaffen-Besitzer
gehörtenzuden Forderungen
der EU-Kommission nachden Anschlä-
geninParis 2015. DiesegeplanteVerän-
derung des EU-Rechts ist, wieetliche an-
dere, vonder europäischenWaffenlobby
weggeballertworden–mit Unterstützung
vonDSB, CDU/CSU,SPD, FDP und AfD
(SieheF.A.Z. vom30. Dezember 2016).
Selbstmit obligatorischen psychologi-
schenUntersuchungen für Sportschützen
lassen sichweiter eGewalttaten mit Sport-
waffen nicht ausreichendverhindern. Die
Psychedes Menschen entzieht sichbe-
kanntlicheiner vollständigen Erklärbar-
keit ebenso wie einer sicherenVorhersa-
ge.Bereits 2010 stellteeine nachdem
Sportschützen-Schulmassaker inKauhajo-
ki (Finnland)eingesetzt eRegierungskom-
mission klar,essei nicht möglich, einen
Legalwaffen-Bewerber auf der Grundlage
einer psychologischenUntersuchung für
geeignetzuhalten. DieVersuche, in ei-
nem Gesprächmit derPolizei oder einem
Arzt kriminelleAbsichten einesWaffen-
besitzersvorab zu identifizieren, hätten
sichals unzuverlässig erwiesen.
Der vierundzwanzigjährigedeutsche
SportschützeKorayD., der 2013 einen po-
litischmotiviertenMordinLeverkusen
plante, hatteproblemlos das medizinisch-
psychologischeZeugnis über diegeistige
Eignung bekommen, das er für den Er-
werb einer Großkaliber-Pistole brauchte.
Das Ordnungsamt Offenbach am Main
hatte2008 einem islamistischenTerror-
helfer eineWaffenbesitzkarte ausgestellt,
mit der er sicheine Neun-Millimeter-Pis-
tole und zwei Gewehrekaufte.Das psy-
chologische Gutachten überden zweiund-
zwanzigjährigen Sportschützen V. war
einwandfrei.
Das Risiko tödlicher Sportwaffenist un-
beherrschbar.Wotödliche Risiken nicht
beherrschbar sind, müssenVerbote ausge-
sprochenwerden. Bis dahingeht das Mor-
den weiter.
Der JournalistundFilmemacherRoman
Grafe istSprecherder Ini tiativ e„KeineMord-
waffen als Sportwaffen!“. Er istAutor des Bu-
ches „Spaß undTod. VomSportwaffen-Wahn“.
Na so was: ein leichtsinniger Thalhei-
mer!Mit bunten Kleidern,Sonnenbril-
lenund knallendenKaugummis.Fassbin-
ders„Katzelmacher“ steht auf dem Pro-
gramm, alsquietschend unechteProvinz-
parade. Eigentlich passt das 1968am
MünchnerAction-Theater uraufgeführte
„kritischeVolksstück“ über ausländer-
feindliche Gewaltausbrüche in einer
DorfgemeinschaftzuMichael Thalhei-
mer wie dieFaustaufsAuge. Die mono-
tonen, aufsWesentlichereduzierten Mo-
nologe, die offenkundig nochammanie-
rierten Sprachgestus der bewunderten
Marieluise Fleißerorientiertsind,das
als statisc hausgewiesene Spiel, diestren-
ge EinfachheitvonSzenerie und Hand-
lung, all das müssteeigentlichein gefun-
denesFressen sein für den berüchtigt
formstre ngen Regisseur,der keine Chan-
ce auslässt,umästhetischen Ballastabzu-
werfen.
So wieWimWenders1969 anlässlich
vonFassbinders„Katzelmacher“-Verfil-
mungineiner Kritik schrieb, so ähnlich
haben auchmanche Kritikerschon über
ThalheimersRegiestilgeschrieben: „Das
Grauenvolle an diesemFilm ist, dasser
bis ins kleinste Detail lustlos ist. Dass
alleDarsteller so verbissen schauen,
liegt an demverbissenen Schema, das sie
am liebstennur nochals Marionetten
vorführen möchte.“
Es scheint, alshätteThalheimer inzwi-
schenvonsolchen Beurteilungengenug,
denn seineneue Inszenierungversucht
mit allenMitteln, sichgegen Vorurteile
einer formalen Strengezur Wehr zu set-
zen, indem sie dasvonNehle Balkhau-
sen fesch angezogene Ensemble in einer
glaslosen Ladenfensteröffnung aneinan-
derreiht undFassbinderseigenartigebis
surreale Dialogsätze mehr lose herumrei-
chen als sprechen lässt. Immer wieder
tritt imVerlauf desAbends die jungeEva
Meckbachans Mikrofon und schmettert
als singende Dorfschönheit Ingrideinen
Schlager ins Mikrofon. WaszuBeginn
nochCharme besitzt, nutzt sichschnell
ab und wirdzur Platitude,genauso wie
FassbindersFiguren hierallesamt nur als
Chargenauftr eten, im Gegensatz zu den
hochgradig stilisierten Charakteren im
Film nichts als ein paaraura lose Dorf-
trottel und Provinzschnallen sind.
Allein Bettina Hoppeals weltof fene
Kleinunternehmerin, die einen grie-
chischen Fremdarbeiter (unterfordert:
Peter Moltzen) in ihreFirma holt und da-
mit die beruflichen und erotischenVer-
hältnisseimDorfdurcheinanderbringt,
versprühteinen Hauchvon entfremde-
temBewusstsein. Ansonstenverhallen
die immerböserwerdendenDrohungen
gegenden Ausländer imgeräuschsensi-
blen grauen Bühnenkasten (ebenfalls
Nehle Balkhausen).Einen Ausruf wie
„totschlagen sollt man solche Leute“ so
sprechen zu lassen, dassereinem in die-
sen düsterenTerrortagen nicht in die
Gliederfährt, istschon eine besondere
Leistung. Ebenso wie der plötzlicheGe-
waltexzessgegen denNeuankömmling
hier aufgeradewegs absurdeWeise ver-
harmlostwird, indem die Schlager-Ing-
ridinEndlosschleife„Sag mir,wodie Ro-
sen sind“ ins Mikrofon brüllt,während
diedreiProvinzjungsdenGriechenange-
berischangedeutet in einer Ecke zusam-
mentreten.
Statt Abgründe werden hiernur Show-
einlagenvorgeführtund ein paar Zitate
gesetzt .Bewegt wirdman da vonnicht.
Das, wasder Theaterabend nicht leistet,
nämlichglaubhaftzumachen, wie aus
dem leichtfertig hämischGesprochenen
plötzlichExzesse der Gewalt entstehen,
das kann einewohlfeile Geste des Opfer-
gedenkens beim Schlussapplaus noch
viel weniger .Unter dem johlenden Pre-
mierenjubel legen die Schauspieler neun
weiße Rosen auf die Bühneund lassen
sichvon ihremRegisseur zum „Geden-
kenanHanau“vorund zurückdirigie-
ren. Entweder mangedenkt, dann ist
man still undverbitt et sichjeden Ap-
plaus, oder manfeiertsichselbst und
sein Gewissen, dannkann man johlen
und klatschen. Schon ausRespekt sollte
man beidesstrikt voneinander trennen.
Nach der grandiosen letzten Thalhei-
mer-InszenierungvonKarlSchönherrs
„Glaube und Heimat“ hier am Haus ist
seine„Katzelmacher“-Produktionjetzt
eine Enttäuschung. Ernsthaft und streng
insze niert, hättedas vielleicht einStück
der Stundewerdenkönnen.Aber so ist
es schon auf demWegzur Garderobe
wiedervergessen. SIMONSTRAUSS
GepanzerteHerze n,
versch lossene Ohren
Das russischePlattenlab el „Melo-
dija“, das sichbisher instaatli-
chem Besitzbefand ,ist an die Au-
diomarketingfirmaFormaxver-
kauftworden. Formax erwarb
Melodija für 4,7 Millionen Euro,
das entspricht dem Schätzwert
der Gebäude, dazu bekam es
aber auchdas kostbareTonar-
chiv,das 240 000 Mitschnittevor
allemvonklassischer Musik so-
wie vonPop, Folkloreund Litera-
tur umfasst.Man sei sicher,dass
unter dem neuen Besitzer die Di-
gitalisierung des Archivs fortge-
führtwerde, dassweiter Musikal-
ben publiziertund die einzigarti-
ge Phonotekdes 1964gegründe-
tenHauses erhalten und erwei-
tertwerde, erklärte eine Spreche-
rinvon Melodija. kho
Dorftrottelund Provinzschnallen
Am BerlinerEnsemble inszeniertMichael ThalheimerFassbinders„Katzelmacher“
Nach dem
Sportschützen-Massaker
in Winnenden blieb das
Waffenrechtkriminell
lasch.Auchnachder
Bluttat in Hanau wird
das Morden weiter
begünstigt.
VonRoman Grafe
Melodija
Plattenlabelverkauft
Im Filmwaren diese belanglosen
Figurenhochg radig stilisierte
Charaktere:Fassbinders
Vorort-Gestalten, so wie Michael
Thalheimer sie in Berlin sieht.
Foto Matthias Horn