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07.03.20 Samstag,7.März2020DWBE-HP
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07.03.2007.03.2007.03.20/1/1/1/1/Kul1sa/Kul1sa KFISCHE2 5% 25% 50% 75% 95%
34 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,7.MÄRZ2020
N
iendorf war Anfang der 50er-
Jahre ein kleines, verschlafenes
Fischerdorf an der Ostsee, zwi-
schen Travemünde und Tim-
mendorfer Strand gelegen. Es
gab dort ein wenig Fremdenverkehr und ei-
nige kleine Handwerksbetriebe, aus Ost-
preußen vertriebene Fischer hatten 1945 in
dem Ort eine neue Heimat gefunden. Mor-
gens brachten sie ihren Fang in den kleinen
Hafen, wo sie ihn direkt vom Boot verkauf-
ten, ihn weiter ins nahe Lübeck oder ins
nicht allzu weit entfernte Hamburg verfrach-
teten oder von Zwischenhändlern an andere
Orte bringen ließen. So war Niendorf ein
vollkommen unspektakulärer Ort im Nach-
kriegsdeutschland, ist es bis heute geblieben
- und wurde doch zum zentralen Ort für die
Aufnahme der „Todesfuge“ in Deutschland.
„Jedesmal“, so wird Celan seiner künftigen
Frau am letzten Tag im Mai 1952 schreiben,
„wenn ich an dieses Dorf an der Ostsee den-
ke, habe ich den Eindruck, als käme ich vom
Ende der Welt zurück.“
Das „Ende der Welt“ hatte Hans Werner
Richter zum Ort erkoren, an dem sich die
Gruppe 47 zur Frühjahrstagung 1952 versam-
meln sollte. Eine buchstäblich aparte Wahl,
die Richter vielleicht auch deshalb getroffen
hatte, weil er selbst von der Ostsee stammte,
aus Heringsdorf auf Usedom, ein Anfang der
50er-Jahre kaum erreichbarer Flecken. Rich-
ter lud, anfangs halbjährlich, später einmal
im Jahr, befreundete Autoren sowie Kritiker
zu „Gruppentreffen“ ein, die literarischem
Austausch und gegenseitiger Kritik einen
Rahmen bieten sollten. Es war eine Platt-
form, eine Art erster Öffentlichkeit für jun-
ge, noch unbekannte Schriftsteller, aus im
Entstehen begriffenen oder gerade publizier-
ten Werken vorzulesen. Auch wurde ein
Preis ausgelobt, über den am Ende der drei-
tägigen Zusammenkunft von den mitwirken-
den Autoren abgestimmt wurde.
Neben den Schriftstellern reisten Verleger
an, einige Kritiker, vereinzelt Übersetzer.
Anfang der 50er-Jahre waren fast alle knapp
bei Kasse. Das sprach für Niendorf und das
Hotel „Kasch“, das Gästehaus des NWDR,
des damaligen Nordwestdeutschen Rund-
funks und heutigen NDR, das, direkt am
Strand gelegen, als Erholungsheim für Ange-
stellte des Senders diente. Der NWDR konn-
te die angereisten Schriftsteller und Schrift-
stellerinnen um Funkaufnahmen bitten, oh-
ne dass sie eigens nach Hamburg reisen
mussten, und ihren Aufenthalt während der
Tagung finanzieren.
Am 23. Mai 1952 begann die dreitägige Ta-
gung der Gruppe 47 an der Ostsee mit 45
Schriftstellern, darunter Ingeborg Bach-
mann, Milo Dor, Reinhard Federmann, Gün-
ter Eich, Hans Weigel, Ilse Aichinger, die
„Wiener Gruppe“, Heinrich Böll, Wolfgang
Hildesheimer, Rolf Schroers, Martin Walser,
Günther Weisenborn, Siegfried Lenz und
Walter Jens, allesamt Autorinnen und Auto-
ren, die damals am Anfang ihrer Karriere
standen, nicht anders als der junge Dichter
aus Paris. Celan gehörte zu den Gästen, die
schon am Tag zuvor ankamen: „Nachmittags
um vier Uhr brachte mich ein Wagen der
Rundfunkanstalt zusammen mit drei ande-
ren Teilnehmern nach Niendorf. Wir fuhren
mit 120 Stundenkilometern durch eine Land-
schaft, die fast keine war: Heide ohne Kontu-
ren, Ankündigung des Meeres, eines Raums,
dessen Raum ich fast nicht mehr zu ermes-
sen wagte – ich war entsetzlich weit von Pa-
ris entfernt, und ich hatte Angst, Sie könnten
dort das Entsetzen über diese Entfernung
spüren“, schreibt Celan an Gisele de Le-
strange eine Woche später und fährt fort: „In
Niendorf Empfang mit Missverständnissen.
Frau Richter (die Frau des Schriftstellers, der
mich eingeladen hatte) hielt mich für einen
Franzosen und machte mir zunächst einmal
Komplimente über mein so perfektes
Deutsch. Die andern, das heißt die Wiener,
die diese Missverständnisse hätten ausräu-
men können, waren immer noch nicht da.
Endlich kamen sie an, zu vorgerückter Stun-
de, nach Mitternacht, sehr müde von der Rei-
se. Aber Milo Dor war dabei, den ich mag und
den die andern schon kannten. Es ging bes-
ser. Am nächsten Tag die ersten Lesungen.
Etwa 50 Personen saßen in der großen Halle
des Hotels, in dem wir wohnten, in tiefen
Sesseln – das alles erweckte den Eindruck ei-
ner Versammlung von Leuten, die sich bür-
gerlich mit einer Welt ausgesöhnt hatten, de-
ren Erschütterungen sie immerhin zu spüren
bekommen hatten. Nun ja ... Erster Waffen-
gang. Lesungen, dann Stellungnahme der
,Kritik‘, Worte mit oder ohne inneren Hori-
zont.“ Am nächsten Abend: „Um neun Uhr
abends war die Reihe an mir. Ich habe laut
gelesen, ich hatte den Eindruck, über diese
Köpfe hinaus – die selten wohlmeinend wa-
ren – einen Raum zu erreichen, in dem die
‚Stimmen der Stillen‘ noch vernommen wur-
den ...“
Celan las an dem Abend in Niendorf sechs
Gedichte vor: „Ein Lied in der Wüste“,
„Schlaf und Speise“, „Die Jahre von dir zu
mir“, „Zähle die Mandeln“, „In Ägypten“ und
- die „Todesfuge“. Die Lesung sorgte für Un-
ruhe in der Hotelhalle. Der damals anwesen-
de Walter Jens erinnert sich 1976: „Als Celan
zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ‚Das
kann doch kaum jemand hören‘, er las sehr
pathetisch. Wir haben darüber gelacht. Der
liest ja wie Goebbels, sagte einer. Er wurde
ausgelacht, so dass dann später ein Sprecher
der Gruppe 47, Walter Hilsbecher aus Frank-
furt, die Gedichte noch einmal vorlesen
musste. Die ‚Todesfuge‘ war ein Reinfall in
der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt,
da kamen die Neorealisten nicht mit, die so-
zusagen mit diesem Programm groß gewor-
den waren.
Es war Hans Werner Richter, der die Vor-
tragsweise Celans mit der von Goebbels ver-
glichen haben soll. Milo Dor erinnert sich an
Richters Aussage, Celan „habe in einem Sing-
sang vorgetragen wie in der Synagoge“. In
seinem Tagebuch notiert Hans Werner Rich-
ter 1970, als er von Celans Tod erfährt, über
die Zusammenkunft in Niendorf 18 Jahre zu-
vor: „Es wurde sein erster großer Erfolg. Sein
Aufstieg war, wie auch der Aufstieg Ingeborg
Bachmanns, kometenhaft. Zwar bekam Ilse
Aichinger den Preis auf dieser Tagung, aber
die eigentlichen Entdeckungen waren Paul
Celan und Ingeborg Bachmann.“
Das ist eine nachträgliche Beschönigung
der Ereignisse. Anderen Überlieferungen zu-
folge soll Richter Celan aufgefordert haben,
die Tagung zu verlassen, was Celan schließ-
lich nicht tat. Celans Lesung war alles andere
als sein erster großer Erfolg, sondern ließ
den 31-jährigen Dichter bitter und voller
Zweifel zurück. Er nahm nie wieder an einer
Zusammenkunft der Gruppe 47 teil, obgleich
Richter ihn einlud, und der Aufstieg Celans
als Dichter ereignete sich weit weniger ko-
metenhaft, als es Richter in der Rückschau
erscheint oder er die Nachwelt glauben ma-
chen will. Am Ende erhielt Celan immerhin
sechs Stimmen, die ihm den Preis zuerken-
nen wollten, die dritthöchste Stimmenzahl.
Aber Niendorf – und das heißt: der erste öf-
fentliche Auftritt Celans in Deutschland –
besiegelte das Schicksal der Rezeption der
„Todesfuge“: das Verlachen, Nichtachten,
Verkennen. Klaus Briegleb hat in seiner Ge-
schichte der Gruppe 47 geschrieben, „keine
andere kulturelle Agentur in der westdeut-
schen Nachkriegszeit“ habe „die Ausblen-
dung der Shoah so gründlich betrieben“ wie
die Gruppe 47. Dafür ist der Abend an der
Ostsee im Mai 1952 eine Urszene.
Man kann in der Haltung der meisten Teil-
nehmer der Gruppe 47 einen Antisemitismus
am Werke sehen, einen Antisemitismus ohne
Juden. Denn Celans Judentum kam auf der
Tagung ebenso wenig zur Sprache wie das
von Ilse Aichinger oder anderen Gästen. In
einem Bericht über die Tagung schrieb der
Journalist Heinz Friedrich im Juni 1952: „An
den Vortrag der Gedichte des Rumänien-
deutschen [sic!] Paul Celan, der in der Nach-
folge Momberts und der Else Lasker-Schüler
um einen eigenen Ton sich bemühte, entzün-
dete sich eine heftige Debatte über die alte
Streitfrage poésie pure und poésie engagée,
die – wie alle diese Debatten – zu keinem zu-
reichenden Ergebnis führte.“
Die Verletzung saß tief bei Celan. Eben-
falls am 31. Mai schreibt er, jetzt in Frankfurt
am Main, an den Freund Klaus Demus in
Wien: „Ich war dort oben beleidigt worden:
H. W. Richter, der Inge[borg Bachmann] nach
Hamburg gebracht hatte, sagte nämlich, mei-
ne Gedichte seien ihm auch darum so zuwi-
der gewesen, weil ich sie im ‚Tonfall von
Goebbels‘ gelesen hätte. Und so etwas muß
ich erleben! Und zu so etwas schweigt Inge,
die mich zu dieser Reise mitveranlaßt hatte.“
Und er fügt am Briefende, durch ein Kreuz
markiert, hinzu „Nach der Lesung der To-
desfuge!“.
Gewiss war Celans Vortragsweise eigen,
fremd; er kam aus einer anderen Sprachwelt.
Celan artikulierte die Endungen wie die Vo-
kale in langen gedehnten Satzbögen. Doch
zugleich spricht viel dafür, dass Richter und
andere Teilnehmer der Gruppe sich deshalb
gegen Celans Vortragsweise wendeten, um
über den Inhalt der Gedichte nicht sprechen
zu müssen. Was nahe war und nahegelegen
hätte, die gemeinsame, doch so unterschied-
liche Erfahrung des Nationalsozialismus,
vom „Frost an den geschiedenen Fronten“
wird Celan später in einem Gedicht schrei-
ben, sollte in die Ferne gerückt werden.
Goebbels rezitiert die „Todesfuge“. Brutaler
kann man die Geschichte nicht auf den Kopf
stellen.
Der Text ist ein Ausschnitt aus Thomas
Sparrs neuem Buch „Todesfuge. Biografie
eines Gedichts“ (DVA, 336 S., 22 €), das am
1 0. März erscheint.
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der
schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes
Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der
Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der
schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes
Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den
Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet
und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind
blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum
Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in
die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der
Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister
aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
TODESFUGE
AM
E NDE
DER
WELT
Gruppe 47, im Mai
1 952: Paul Celan
liest die „Todesfuge“.
Es ist sein erster
Auftritt in
Deutschland nach
dem Krieg.
Die Kritik versteht
ihn nicht, die
Schriftstellerkollegen
lachen, der Abend
endet im Desaster.
Über eine
antisemitische
Urszene der
deutschen
Literaturgeschichte.
VVVon Thomas Sparr on Thomas Sparr
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